Netter älterer Herr: Die Störung der Totenruhe, auch Leichenschändung genannt, wird in vielen Ländern mit Geld- oder gar Freiheitsstrafe belegt. Zwar hatte ich nichts dergleichen zu befürchten, als ich anfing den Mass-Effect-3-DLC Leviathan zu spielen, trotzdem fühlte ich mich irgendwie nekrophil. Ich hatte meinen Frieden mit dem Mass-Effect-Universum geschlossen. Und jetzt das nachträglich hinzugefügte Kapitel eines Buches lesen, dessen Ende ich schon kannte?
Als ich mich in den ersten paar Minuten wieder mit der altbekannten Steuerung vertraut machte, schlich sich so etwas wie Wehmut ein. Bittersüße Erinnerungen an die vielen, schönen Spielstunden. Freude darüber, bekannte Gesichter wiederzusehen und vertraute Stimmen zu hören. Und ehe ich mich versah, packte mich die Geschichte und zog mich mit in die Tiefe. Um Spoiler zu vermeiden, beschränke ich meine Inhaltsangabe auf ein recht schwammiges “Man erhält mehr Hintergrundinformationen zum Mass Effect-Universum.” Das selbige tatsächlich mehr als nur nettes Beiwerk darstellen und ganz fundamentale Fragen über die Herkunft der Reaper beantworten, steigert ihren Wert ungemein. Die Präsentation ist spannend und bietet ein paar neue, beeindruckend inszenierte Schauplätze. Das Gesamtpaket braucht den Vergleich zu meinem bisherigen DLC-Spitzenreiter, Lair of the Shadow Broker, nicht zu scheuen, und dennoch hat es eine Last zu tragen, die allen bisherigen Erweiterungen noch nichts anhaben konnte: das vermaledeite Ende der Trilogie.
Weiß man um den Ausgang der Geschichte, mischt sich ein bitterer Beigeschmack zum ansonsten sehr ansprechenden Spielerlebnis und wirft letztendlich die Frage auf, ob die nun nachträglich eingeflochtenen Informationen das Ende nicht hätten beeinflussen können. Ja, sogar beeinflussen hätten müssen. Auch die Tatsache, neue “War Assets” zu erhalten, die ja wiederum die heiß diskutierte, für den Ausgang relevante “Galactic Readiness” steigern, erweckte in mir den Wunsch eine Zeitmaschine besteigen und das Ende, ungeachtet seiner Qualität, ungesehen machen zu können. Das Spiel mit der Chronologie in nachträglich gebotenen Spielinhalten ist ein heißes Eisen und stößt im Falle von Mass Effect 3 eindeutig an seine natürliche, narrative Grenze. Was, dank der relativ offenen Enden, in den beiden vorangegangenen Teilen noch ganz vorzüglich funktionierte, gerät nach dem Abschluss der Trilogie zu einem Ärgernis. Unweigerlich wird man in dem Gefühl bestärkt, eigentlich einen untrennbar zum Hauptspiel gehörigen, aber vor dem Release chirurgisch entfernten Bestandteil geboten zu bekommen, für den man auch noch brav zur Kasse gebeten wird. So sehr das auch auf den Day-One-DLC From Ashes zutreffen mag, immerhin hatte man hier noch die Wahl, ihn vor Beendigung des Hauptspiels zu erleben.
Letztendlich wird ein erstklassiger DLC durch die eigene Vorgeschichte zu einer Fußnote degradiert und kann nur all jenen vorbehaltlos empfohlen werden, die das Ende von Mass Effect 3 noch nicht zu Gesicht bekommen haben. Alle anderen können sich zwar auf ein astrein inszeniertes Spektakel freuen, sollten sich aber auf gemischte Gefühle gefasst machen.
Chris: Wenn die Fans nur wüssten, was man für Mass Effect 3 noch in Planung habe, gäbe es die ganze Aufregung um das Ende des Spiels gar nicht. Dieser Auffassung war man bei Bioware, als kurz nach Veröffentlichung des letzten Teils der Trilogie marodierende Horden fackelschwingend durch die Foren zogen, Petitionen starteten und versuchten, sich das missglückte Ende mit wilden Verschwörungstheorien zu erklären. Nun ist mit Leviathan das erste große, kostenpflichtige Download-Paket für Mass Effect 3 erschienen und beweist zumindest, dass Bioware sich inzwischen trefflich auf DLCs versteht. Leviathan ist vielleicht kein Lair of the Shadow Broker, kann mit Legacy und Mark of the Assassin, den Downloadinhalten für Dragon Age 2, aber locker mithalten. Das eigentliche Problem der Erweiterung ist nicht Leviathan selbst, sondern – wie könnte es anders sein – Mass Effect 3.
Doch bleiben wir zuerst beim Spielerischen: Die Elemente des Hauptspiels bricht BioWare in Leviathan geschickt auf. In den Actionsequenzen wird nicht nur wild herumgeballert, sondern es wollen auch Ziele beschützt oder ähnliche Aufgaben erledigt werden, während man sich die Gegner vom Leib hält. Unterbrochen wird das von ruhigeren Szenen, in denen beispielsweise ein Tatort untersucht wird. Obendrauf gibt es das übliche Maß an Dialogen und Zwischensequenzen. Etwas enttäuschend ist der mangelnde Schwierigkeitsgrad abseits der Kämpfe. Die Klettersequenz beispielsweise ist toll inszeniert, verliert aber an Reiz dadurch, dass man wie im Hauptspiel aufgrund der Spielmechanik schlicht nicht fehltreten oder abstürzen kann. Bei der Tatortuntersuchung gibt es zwar theoretisch zwei bis drei Hindernisse zu überwinden, die sind aber derart banal, dass sie den meisten Spielern nicht einmal bewusst als “Rätsel” auffallen werden. Die groß angekündigte Unterwasser-Szene ist schon wieder vorbei, kaum dass sie begonnen hat.
Warum nun dachte man bei Bioware, Leviathan hätte die Diskussion um das große Finale deutlich entschärft, wäre es direkt zum Release verfügbar gewesen? Weil es eines der größten Probleme des Endes löst, nämlich dass es sich im Hauptspiel völlig unzureichend ankündigt. Leviathan dient vor allem dazu, den Spieler auf dieses Ende vorzubereiten, was einem natürlich überhaupt nicht hilft, wenn man das Spiel schon in der Release-Fassung und im Extended Cut durchgespielt hat. Dann nämlich hat der DLC einen gegenteiligen Effekt. Er käut viel zu viel wieder. Shepard dabei zuzusehen, wie sie die ganze Zeit über nicht erkennt, worauf Leviathan hinauslaufen wird, obwohl man es als Spieler schon Meilen gegen den Wind riecht, tut beinahe weh. Vom Hauptspiel losgelöste Geschichten wie Mark of the Assassin ergeben meines Erachtens bessere DLCs.
Leviathan hätte, ebenso wie der Protheaner aus der Collector’s Edition, von vornherein im Spiel sein müssen! Wenn man Mass Effect 3 noch nicht beendet hat oder sowieso noch einen weiteren, kompletten Durchlauf plant, ist Leviathan ein Must Have. Ansonsten muss man schon ziemlicher Fan sein, um acht Euro für knappe drei Stunden Spaß auszugeben.
(Achtung: Der Rest des Artikels beschäftigt sich mit dem Inhalt des DLCs und enthält deshalb notwendigerweise Spoiler für Leviathan!)
Der größte Spoiler, das muss man BioWare lassen, steckt schon im Titel des Download-Pakets. Was man hier versucht, ist, den großen Story-Moment aus Mass Effect 1 zu imitieren – Shepards ersten Kontakt mit der Sovereign auf Virmire (YouTube – es lohnt sich, sich das noch einmal komplett anzuschauen). Allerdings weiß man heute schon zu viel über die Reaper, als dass das noch funktionieren würde. Über die Leviathane wusste man im Vorfeld zwar praktisch nichts, aber das, was die Meeresriesen hier erzählen, ergibt auch nicht allzu viel Sinn.
Die Leviathane erschufen eine Intelligenz, die dafür sorgen sollte, dass organische Lebewesen nicht zwangsläufig irgendwann synthetische Lebewesen erschaffen, die erstere vernichten. Mal abgesehen davon, dass Mass Effect über drei Teile hinweg diese unterstellte Zwangsläufigkeit niemals wirklich beweist: Diese synthetische Intelligenz versucht zuerst einmal, ihre eigenen Schöpfer zu vernichten. Sie ist von vorneherein ein Teil des Problems und nicht die Lösung, als die die letzten Leviathane sie trotz der Ausrottung ihrer eigenen Art immer noch zu sehen scheinen. Am interessantesten an dem gesamten Dilemma ist, dass die Leviathane sich für die Krone der Schöpfung hielten und dass sie davon ausgingen, so weit außerhalb beziehungsweise oberhalb des übrigen Lebens in der Galaxis zu stehen, dass die “Lösung” ihrer Maschine sie selbst gar nicht beträfe. Das wäre ein schönes Bild für das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt, wenn der Dialog nicht so verworren und mit scheinbarer Bedeutsamkeit überladen wäre und wenn der Reaper-Zyklus nicht weiterhin eine völlig bescheuerte Lösung für ein unglaubwürdiges Problem wäre.
Deshalb war die Mass-Effect-Trilogie auch so viel besser, als man all das noch nicht wusste. Die Begegnung zwischen Shepard und der Sovereign auf Virmire klärte gleichzeitig einige bis zu diesem Punkt aufgeworfene Fragen und stellte ein paar völlig neue in den Raum. Wenn man sich die Szene heute noch einmal anschaut, muss man allerdings feststellen, dass man bei BioWare auf keine der neuen Fragen damals tatsächlich schon eine Antwort gewusst haben kann. Die Antworten, die man in Mass Effect 3 schließlich gibt, passen kaum zu den früher gemachten Andeutungen. Diese Erkenntnis macht Leviathan am Ende so egal, weil man aus Erfahrung inzwischen weiß, dass im Moment wahrscheinlich nicht einmal die Autoren selbst eine Erklärung für das seltsam ambivalente Verhalten der Leviathane haben.
Von den ganzen kleineren Logiklücken fangen wir besser erst gar nicht an. Wenn Menschen sich über längere Zeit in der Nähe der Leviathan-Artefakte aufhalten müssen, damit die Gedankenkontrolle funktioniert, warum können die Husks und der Reaper am Schluss plötzlich in Sekundenbruchteilen übernommen werden? Und wenn man die Leviathane dazu bringen kann, gegen die Reaper vorzugehen, warum verwendet man in der Abschlussszene in London, in der das Selbstmordkommando auf den Transportstrahl zurennt, dann nicht ein paar von den grünen Leuchtebällen? Ich mein, hey, man könnte damit Reaper töten!
Doreen: Das Beste am Leviathan-DLC ist für mich wohl die gewonnene Erkenntnis, wer oder was die Reaper denn nun eigentlich sind. Sie stammen von den Leviathanen ab. Ihre Herkunft war ja nach wie vor immer noch ein einziges Rätsel für mich. Diese Antwort in einen DLC zu packen ist natürlich ungeheuer käsig und jeder, der sich diesen nicht kauft oder sich auf anderem Wege darüber informiert, sitzt weiter auf dem Trockenen. Die wichtigen Leviathane so kurz vor dem Ende auf den Schirm zu zaubern, ist genau so ein merkwürdiger Zug wie die plötzliche Erscheinung des Katalysators, aber es bestätigt einmal mehr, dass BioWare wohl von Beginn an nicht genau wusste, wohin die Reise mit Shepard gehen soll. Dass der DLC “klar wie Kloßbrühe” ins Hauptspiel gemusst hätte, brauche ich nicht zu sagen, das liegt auf der Hand und die geschätzten Kollegen erwähnten es ja bereits.
Trotz alledem ist wohl jeder Singleplayer-DLC für mich unverzichtbar, so auch Leviathan. Aber wie Chris und der nette ältere Herr schon erwähnten, das Erlebnis beim Spielen ist getrübt, da kann der Inhalt noch so gut sein. Am liebsten wäre ich mit den Meereswesen losgezogen und hätte die Reaper ausgeknipst, einen nach dem anderen. Eine große Schlacht, um das Überleben zu sichern, so wie es einst die Leviathane eigentlich beabsichtigten. Nein, stattdessen sagen sie mir, es gäbe keinen Krieg, wir wehren uns ja nur gegen das Unausweichliche, die Ernte, den Zyklus. Unvorstellbar!
BioWare hat es ganz klar wieder geschafft, mich erneut mit Mass Effect einzulullen. Ich bin der Serie verfallen, dass muss ich zugeben und das wird sich auch nicht ändern. Nur bricht es mir wirklich das Genick, nach dem Ende wieder Shepard zu spielen, nach stundenlanger Reanimation, wonach sein/ihr Herz zwar sporadisch wieder pumpt, nur um am Ende dann doch wieder zum Stillstand zu kommen. Das funktioniert irgendwie nicht und ich finde und hoffe sogar, dass Leviathan der letzte Shepard-DLC ist. Eine nette Alternative wäre eventuell ein Zusatz, in dem man einen anderen Charakter spielt, meinetwegen Garrus, Liara oder Ashley/Kaidan. Tali stelle ich mir auch interessant vor. Wie die Quarianer zurück in die Normalität finden, wenn man von Normalität überhaupt sprechen kann. Das Mass-Effect-Universum gibt doch nun so viel her, so viele interessante Charaktere und Rassen, bitte BioWare, es war schon schwer genug, Shepard beim ersten Mal gehen zu lassen.
Lange Rede, kurzer Unsinn: Habe ich es bereut, Leviathan gespielt zu haben? – Nein, ich habe es nicht bereut, ganz klare Sache. Er ist ein ausgezeichneter DLC, welcher nur zur falschen Zeit erschien. Und bin ich denn immer noch in Shepard verknallt? – Das, liebe Leute, bleibt mein Geheimnis.
8 Kommentare
Was ist das denn hier? Drei Leute besprechen zusammen ein Spiel? Ihr macht ja voll das AAA-Team bei Superlevel nach!
Oh, wait…
Ja. Wir dachten, es wird mal Zeit für was neues. Badum tish!
Bin irgendwie erst jetzt über den Artikel gestolpert. Zu doof, dass ich letzte Woche ME3 zu einem Ende gebracht habe.
Wenn ich das so lese, will ich Shepard eigentlich nicht nochmal wecken. Das ME3-Team hat ja darauf bestanden, dass Shepard in allen drei Enden den Löffel abgibt. Ich hätte noch Jahre mit ihm durch Universum pesen können, aber ich habe jetzt einen Strich drunter gemacht. (Geld kann mit mir nun folglich auch nicht mehr verdient werden)
@burki: Ich kann dich sehr gut verstehen. Dennoch bietet “Leviathan” einen inhaltlich hervorragenden DLC. Ich persönlich freue mich auch schon sehr auf die baldige Rückkehr auf “Omega”… :-)
Ich freue mich auch schon drauf. Zumal Aria T’Loak einer der besten ( und vor allem coolsten) Charaktere im Universum ist. Soll ja auch ein sehr umfangreicher DLC werden.
Und mit “umfangreich” meinst du “teuer”?
Ich warte erstmal euer Review ab, bevor ich mir das hole. :)
Nee, mit umfangreich meine ich umfangreich. :) Aber mit 1200 MSP ist es in der Tat kein billiger Spaß.
@Jingleball: Witzigerweise wartete ich tatsächlich das gesamte Hauptspiel lang auf eine Mission um Omega zurückzuerobern (übrigens eine meiner absolut liebsten Locations im Mass Effect Universum). Wie es scheint wurde mein Flehen erhört. :-)