Von all dem Spielzeug, das ich als Kind hatte, kann ich mich noch am besten an die Actionfiguren erinnern. Manche davon waren aus billigem Plastik, mit quietschenden Gelenken und nur halbwegs gut funktionierenden Verwandlungsmechanismen, die aus einem Skorpion einen Ninjakrieger mit Peitschenarm machen konnten. Viele waren aus LEGO™, also sehr teurem Plastik zum selbst zusammenstecken, und wenn ich bei einem Freund war und aus Versehen das Schild von seinem Schwertkämpfer-Bionicle an meinem Keulen-Bionicle vergessen habe, dann war das schlimm, denn bis zum nächsten Besuch war damit die natürliche Ordnung der Actionfigur-Welt durcheinander gebracht. Und das musste sowohl in seiner aus Playmobil™, LEGO™ und Marvel™figuren als auch in meiner aus Pokémon™, LEGO™ und Action-Man™ zusammengesetzten Fantasiewelt narrativ erklärt und schlussendlich in einem epischen Kampf behoben werden.
Irgendwann kamen Videospiele. Es fing mit Pokémon an. Und es zog mich mit jedem Besuch bei dem einen Freund, der schon eine PlayStation hatte und bei dem anderen, dessen Eltern versuchten, ihn mit einem Nintendo 64 statt mit familiärer Liebe zu erziehen, weiter weg vom analogen und hin zum digitalen Spielen. Irgendwann blieben Action-Man™ und der Keulen-Bionicle in der Kiste, wenn ich stattdessen auch Wario Land 3 auf meinem Gameboy spielen durfte. Lieb hatte ich sie trotzdem; keine Box mit Spielsachen hat sich länger einen Platz in meinem Jugendzimmer bewahrt als die unhandliche, hässliche Plastikschachtel, in der sich LEGO™ und Actionfiguren die Hand reichten.
2005 habe ich eine PlayStation 2, meine erste eigene Heimkonsole, bekommen. Final Fantasy kannte ich da noch nicht, erst zwei Jahre später, mit der günstigen Platinum-Version von Final Fantasy X, sollte ich diese Reihe kennenlernen. Ein lustiger Zufall, dass ich die Figuren aus X dann schon kennen sollte: Ich hatte zu diesem Zeitpunkt nämlich bereits Kingdom Hearts gespielt und mir bald darauf auch Kingdom Hearts II gekauft. Ich mochte sie sehr, und ich glaube, ohne den Funken, den die Crossoverreihe aus Square und Disney™ in mir entzündet haben, hätte ich nie besonders viel Freude mit Final Fantasy oder modernen JRPGs im Allgemeinen haben können. Figuren aus den Disneyfilmen meiner Kindheit, die sich inszeniert wie in einem Karatefilm auf die Mütze geben? Besser konnte man mich nicht mit Spiky Hair-Protagonisten in Kontakt bringen. Kingdom Hearts, Kingdom Hearts II und all ihre bizarr betitelten Spinoffs haben mir vorgemacht, sie wären ein Disney™-Ferienpark voller Attraktionen, damit ich mit ihnen spiele. Als ich ihnen auf die Schliche kam und herausfand, dass ich keinen Freizeitpark besuche, sondern einen mehrbändigen Young Adult-Mysterythriller lese, hatte mich genau das schon längst viel mehr in seinen Bann gezogen, als es ein mehrtägiger Besuch in Disney Land™ mit Übernachtung und Frühstück je gekonnt hätte. Kingdom Hearts ist das digitale Äquivalent der Actionfigur-Welten, die ich in meinem Kopf aufgebaut habe, um den Kampf zwischen Bisasam und Spider-Man zu erklären. Das Franchise aller Franchises, die Actionfigur mit den coolsten Posen, dem Kopf der schönsten und den Armen der stärksten Figur in meiner Spielzeugkiste.
Doch was ist mit Kingdom Hearts III™? Dieses Spiel, dass selbst aussieht wie ein Pixarfilm, nur mit gummiartigen Animegesichtern statt liebevoll gestalteten Disney™-Prinzessinnen, lässt mich zweifeln, ob ich meine Seele verloren habe oder die Kingdom Hearts-Reihe. Ich fühle mich, als würde ich mit den Augen eines Kindes, das bisher nur das alte Disney kennt, auf Pixar nach 2006 blicken und langsam, ganz langsam verstehen, dass es ab jetzt nur noch das geben wird. Sicher, mit der großartigen Grafik, die absurderweise trotzdem nicht richtig gut aussieht, bietet sich Kingdom Hearts III™ dafür an, Charaktermodelle direkt aus Pixarfilmen zu einzubauen. Die Persönlichkeit, die die Serie immer gerade daher bekam, Zeichentrick-Charaktere im kantigen Comicstil der Reihe neu zu interpretieren, ist dabei aber auf der Strecke geblieben. Kingdom Hearts III™ ist glatt, sieht aus, als hätte es eine Haut aus Latex und quietscht auch so. Und unter dieser Haut steckt ein Herz aus Dunkelheit, aus Corpate-Geilheit.
“Wo ist die Atmosphäre, die ich an dir liebte?” lamentiert mein erwachsenes Ich, während ich die Kingdom Hearts III™-Actionfigur mit beiden Händen packe und schüttle. “Wo sind die sanften, beruhigenden Saxophonklänge von Traverse Town, die mich nach jeder aufregenden Disney-Welt zurück in Einklang mit den JRPG-Elementen gebracht haben? Wo sind die orangenen Gassen und roten Sonnenuntergänge von Twilight Town, deren erstes Auftauchen in Kingdom Hearts II so stark auf mich gewirkt hat? Wo sind überhaupt die Final Fantasy-Charaktere, deren bierernstes Herangehen an nichtige Probleme den Stil von Soras, Rikus und Aquas Dialogen überhaupt erst geprägt haben?”
“Wegrationalisiert!” krächzt die mechanisierte Stimme Walt Disneys aus dem Lautsprecher von Kingdom Hearts III™. Ob der abgetrennte, konservierte Kopf des Konzerngründers irgendwo unter Disney Land von mächtigen Maschinen am Leben gehalten wird, die von Kinderlachen und Animateurstränen betrieben werden? “Aber dafür kannst du mit Elsa dein Lieblingslied singen! Mit Captain Jack Sparrow eine Schiffsfahrt unternehmen! Dein Lachen in der Monster AG in Container abfüllen! Schau doch, wie lebensecht Sullys Fell wirkt!”
Kindom Hearts III™ ist ein hochwertiges Spielzeug, dass früher™ jedes Kind bis zum Verschleiß kaputtgespielt hat, das aber heute ein vielfaches seines ursprünglichen Preises wert ist, weil irgendein Milliardär irgendwann angefangen hat, solche Spielzeuge zu sammeln. Kingdom Hearts III™ ist eine gut verarbeitete Heldenpuppe, die glaubt, mich besser zu kennen als all meine anderen Spielzeuge, weil sie seit meiner ersten Berührung mit Kingdom Hearts vor 15 Jahren auf dem Regal steht und mir beim Spielen, beim Essen, beim Sex zuschaut. Kingdom Hearts III™ ist eine sprechende Actionfigur, deren kleiner knisternder Lautsprecher ein Bewusstsein erlangt und dessen künstliche Intelligenz es sich zur Aufgabe gemacht hat, meine Kindheit niemals enden zu lassen. Kingdom Hearts III™ ist sich sicher, dass es weiß, was ich will. Kingdom Hearts III™ ist sich sicher, dass ich Kingdom Hearts III™ will. Dass ich Disney™ will. Dabei will ich doch nur Kingdom Hearts.
“Aber schau,” schallt es aus Kingdom Hearts III™, “wie viel Spielzeug du bekommen hast. Züge! Schiffe! Achterbahnen! Ein ganzer Vergnügungspark, nein, DER Vergnügungspark, Disney Land™, NEIN, Disney World™, nur für dich! Ist das nicht die Kindheit, die du dir immer gewünscht hast?”
“Nein,” erwidere ich und reiße der Figur demonstrativ den rechten Arm ab, der ohnehin immer klemmte, “das ist die Kindheit, die ich hatte.”
Und sie ist lange vorbei, ich bin ein anderer Mensch als zum Erscheinen von Kingdom Hearts II vor 13 Jahren. Aber Kingdom Hearts III™ ist immer noch die gleiche Actionfigur mit denselben quietschenden Gelenkstücken und abgebrochenen kleinen Plastikteilchen wie damals. Sie ist nicht erwachsen geworden, wie auch. Aber sie hat einen Anstrich bekommen, der auch den charmanten, ausgebleichten Pastellfarben von damals einen kräftigen Hochglanzlack gemacht hat. Und sie ist zum Leben erwacht und weiß jetzt ganz genau, welchen Wert sie hat und wie sie sich effektiv vermarktet.
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