Stellt euch vor, ihr spielt ein Videospiel, dessen ganzes Genre euch zuvor noch absolut fremd war. Von dem ihr euch nicht einmal hättet vorstellen können, dass es Spaß macht, bevor ihr es spielt.
Das war ich mit Harvest Moon. 2004 oder vielleicht 2005, als mein bester Freund und ich uns gleichzeitig Friends of Mineral Town für den GBA kauften, weil wir bei einem Freund Back to Nature, den fast baugleichen PSX-Titel, gesehen hatten.
Feldfrüchte anbauen, Tiere pflegen, die Dorfbewohner daten, Werkzeuge aufrüsten und Geheimnisse in der Spielwelt entdecken, bis man jede Figur im Spiel besser kennt als die eigenen Eltern, und wahrscheinlich mindestens genauso gern mag. Viele hundert Spielstunden, bis das erste Kind geboren, die letzte Kuh bis zur goldenen Milch gepflegt und das Ferienhaus zum 50. Hochzeitstag errungen wurde. Ein Spiel wie ein Lebensgefühl für Landkinder, die zwar tagsüber in die Kleinstadt fahren, um die Schule zu besuchen, aber abends mit Stöcken über die Kuhweide jagen, in einer holzbeheizten Badewanne planschen und im Dunkeln ganze fünf Minuten weit mit dem Fahrrad nach Hause fahren, weil eh alles um die Ecke ist. Nach Harvest Moon sah ich die alten Ställe, in denen mein Opa seine Schreinerwerkzeuge aufbewahrte, ganz anders, mit einer Art Bedauern. Und wenn er auf seinem halben Hektar Acker Bohnen anpflanzte, half ich plötzlich ganz aufgeregt, die Stangen in den Boden zu rammen.
Irgendwann, wie das damals halt so war, haben wir nachgesehen, was diese Reihe eigentlich noch so für Titel hat. Beide waren wir vor allem mit der PlayStation 2 unterwegs, und da gab es Harvest–Moon-Spiele, sagte eine Fanwebseite. Wann immer wir an den PC durften, wurde also weiter recherchiert. Hier mal ein Screenshot von Save the Homeland, da mal eine Komplettlösung von A Wonderful Life. Bevor ich auch nur ein zweites Harvest Moon besaß, wusste ich, wie man Hybridfrüchte züchtet und wie man Enten anlockt. Schließlich die Entscheidung: A Wonderful Life musste her. Das Grafikwunder auf der PlayStation 2 hatte uns in den Bann gezogen. Doch war das Spiel schon über zwei Jahre alt. Die beiden Elektromärkte in der Kleinstadt konnten sich solche Ladenhüter nicht leisten, längst schon produzierte Natsume das Nischenspiel nicht mehr neu in Europa. Keine Chance. Nach langem Beharken organisierte die Mutter meines Freundes uns mit ihrem brandneuen eBay-Account zwei Exemplare – aus Frankreich, in entsprechend für uns unverständlicher Handbuchsprache, aber mit deutschem Text auf der Disk, Himmel sei Dank. Und schließlich hatten wir genau dafür unsere wertvolle Internetzeit auf Fanseiten verbracht. Hybride Pflanzen, Milch Typ (A) versus Milch Typ (S), Ziegenmelken, die besten Geschenke für alle Bachelorettes, wir wussten alles, es konnte nichts schief gehen.
Nur… Als ich A Wonderful Life anwarf, war alles anders. Klar, es war Harvest Moon. Ich hatte eine Farm, ich baute ganz normale Feldfrüchte an, bekam direkt am Anfang eine Kuh geschenkt, kaufte bald ein Huhn. Doch alles fühlte sich anders an. Keine riesigen Felder mit durchdesignten 3×3-Pflanzmustern. Kein fester Tagesablauf für die Tiere. Stattdessen: Obst und Gemüse, das über Jahreszeitengrenzen hinweg wachsen kann. Kühe, die zweimal am Tag fressen müssen und gemolken werden können. Tierfutter, das bei richtiger Pflege des Heugrases von selbst wuchs, ansonsten aber bösartig teuer wurde. Hennen brauchten Hähne, um befruchtete Eier zu legen. Kühe mussten Kalben, um Milch zu produzieren, und Kälber bekamen spezielle Milch von Hand gefüttert, die man wiederum nicht verkaufen konnte. Die Ziege? Gibt am Anfang kostbare Milch für ihren günstigen Preis, doch wird irgendwann zu alt, und muss dann solidarisch mitversorgt werden.
Die Welt von A Wonderful Life, das Vergessene Tal, macht seinem Namen alle Ehre. Unterstützt von der ressourcensparenden und im Nachhinein betrachtet ungemein atmosphärischen Nebel-Darstellung der PS2 wirkte das kleine Gebiet wahrlich wie ein fremdes Land, vergessen und mystisch, bisweilen richtig gruselig. Seltsame Artefakte in der archäologischen Ausgrabungsstätte zu finden war einer der wenigen Zeitvertreibe in diesem ruhigen Örtchen, das ansonsten hauptsächlich für Angler etwas bot. Im Wald wohnen die Erntewichtel, die ich schon aus Friends of Mineral Town kannte, doch in A Wonderful Life musste ich einen halluzinogenen Pilz essen, um mit ihnen zu sprechen, und manchmal tauchten sie aus dem Nichts aus, um mich zu der blauglühenden Quelle zu begleiten, in der eines Tages die Erntegöttin wiedergeboren werden sollte. Alle Figuren wirkten wie verzaubert vom Vergessenen Tal, glücklich über die Ruhe und gleichzeitig verwirrt über ihr Glück. Wie die süße Bardame, die aus der Stadt geflohen war und nun ihre Freunde vermisste. Der Sportlehrer, der mit seiner gesamten Familie ins Tal zog, weil er dort im Wald joggen wollte, obwohl sowohl er als auch seine Frau weiterhin in der großen Stadt arbeiteten. Die adlige alte Dame, deren ebenso alter Butler dir manchmal samt des Herrenhauses voller Katzen im Traum erscheint. Die Tiere mit den Halsbändern, die selten, ganz selten an bestimmten Wasserläufen auftauchten und mit dir zu sprechen versuchten…
A Wonderful Life ist nicht das, was man sich heute unter dem Konzept Harvest Moon beziehungsweise Story of Seasons vorstellt. Wer die Designlinie dieser Spiele durch Stardew Valley kennen gelernt hat, wird erstmal ganz schön verwirrt dastehen, wenn die ersten Takte von Marvelous’ Remake Story of Seasons: A Wonderful Life über den Bildschirm flackern. Denn A Wonderful Life war immer schon Teil einer ganz anderen Ahnenlinie als die, die im späteren Lebenzyklus der Farming-Reihe die Überhand gewann. Während Friends of Mineral Town den von Back to Nature gepflanzten Erfolg erntete und mit einem Spinoff, in dem man endlich auch eine Frau spielen konnte, das Prestige der Serie so richtig einläutete und die DS-Nachfolger in seinem Sinne formte, starb, ruhig und friedlich, die zweite Linie der hochexperimentellen Farming Sims von Marvelous aus. Diese war deutlich narrativer getrieben und versuchte, das Day-to-Day-Gameplay der Reihe mit übergreifenden, teils dramatischen Geschichten zu verbinden und mit Zeitlimits spannender zu gestalten. In Save the Homeland habe ich ein Jahr Zeit, um den Bau eines Vergnügungsparks auf dem Gelände meiner Farm zu verhindern. Wie ich das tue, dafür bekam ich zahlreiche Möglichkeiten: Ich konnte eine seltene Pflanze kultivieren oder durch Fotografien wilder Tiere beweisen, dass das Gebiet eine Naturschutzzone werden sollte, ich konnte mich durch Hochzeit und Freundschaften an die Dorfbewohner binden, um die Erntegöttin zur Hilfe zu rufen et cetera. A Wonderful Life griff dieses questgetriebene Farmen auf und stellte es auf den Kopf: Das Zeitlimit blieb vorhanden, doch nun bezog es sich ganz auf den sozialen Aspekt. Heirate ich nicht innerhalb eines Jahres, werde ich des Dorfes verbannt. Schaffe ich es aber doch? Oh Junge. Dann beginnt meine Spielfigur nach und nach zu altern, bekommt ein Kind, das wiederum ebenfalls wächst, und gibt den Hof schließlich auf. Alte Menschen im Dorf sterben, Kinder wachsen heran, nicht geheiratete Junggesellen und -gesellinnen finden zusammen und pflanzen sich wiederum fort. Und schließlich stirbt mein Hauptcharakter gemeinsam mit seiner Lebenspartnerin friedlich im Schlaf, und ich übernehme die Kontrolle über das Kind. Stück für Stück verändert sich das Vergessene Tal, die Erntegöttin kehrt zurück, der Friedhof wächst, meine Farm ebenso. All das ist keine Cutscene, sondern Gameplay, das in Akten inszeniert ist, die sich am Stand meiner Beziehung und dem Alter meines Kindes orientieren.
Die schnöde Bauernhofarbeit ist in Friends of Mineral Town, Harvest Moon DS, Stardew Valley und fast allen anderen Farming-Sim-Games, die heute so gesund wie nie zuvor aus dem Boden hervorspringen, Hauptzweck; Werkzeug einer stets motivierenden kapitalistischen Wachstumsspirale vom kleinen Feld hin zum Agrarimperium. In der zweiten, ausgestorbenen Linie dieses einst so experimentellen Farming-Franchises war all das fast ein Minigame unter vielen. Ein Hindernis auf dem Weg zur Erleuchtung, und gleichzeitig die Identität der Reihe, die das Kochen von verschenkbaren Gerichten oder das Ausbauen der eigenen Junggesellenbude erst möglich macht. Ein tief in die Narration verzahntes Werkzeug, statt der einzigen Triebfeder des ganzen Spiels. Eigentlich ein Wunder, dass es noch kaum Indie-Titel gibt, die sich daran orientieren; In ganz anderer Art, aber immerhin verwandtem Geist kann ich euch hier Gleaner Heights und (vielleicht?) das bald erscheinende Grave Seasons ans Herz legen. Vielleicht entdecken mit Story of Seasons: A Wonderful Life, nun, da ein Teil dieser vergessenen Subreihe wieder auf allen Konsolen erfahrbar ist, wieder mehr Menschen diese seltsame, zutiefst interessante Art des Farming Games. Eine bessere Wiedererweckung das liebevolle Remake dieses einstigen Meilensteins hätte das Konzept zumindest nicht bekommen können.
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