Vor einigen Tagen bestellte ich mir „New Art Academy“ für den 3DS. Bevor ihr lacht, lasst mich erklären: Ich habe überhaupt kein Gefühl für Farben. Ich werde nie vergessen, wie mich vor einigen Jahren meine eigene Mutter wegen eines Bildes aus dem Kunstunterricht ausgelacht hatte. „Die Berge sind ja lila!“, hatte sie gesagt. Von Gelächter umgeben. Ein Trauma entstand, das mich heute noch aus Träumen aufschrecken lässt.
Warum die Berge lila waren? Weil sie für mich auf dem Bild, das ich abgemalt hatte, lila ausgesehen hatten. Ich bin nicht farbenblind. Ich habe nur keine Ahnung davon, wie sich Farben zusammensetzen. Und wenn man einen bestimmten Farbton herstellen möchte, dabei aber das Farbverständnis eines Schwarz-Weiß-Films und die Ruhe eines Energydrinks vorzuweisen hat, dann kann das nur nach hinten losgehen.
Eine weitere Schwäche: Helligkeiten erkennen. Man nehme ein faltiges Tischtuch. Die Falten erzeugen helle und dunkle Flächen, die ich einfach nicht sehe. Das ist schwer zu erklären, darum lasse ich es. Ich weiß einfach nicht, wo helle und wo dunkle Farbtöne eingesetzt werden müssen.
Also lacht mich nicht aus. Für mich stellt „New Art Academy“ eine Möglichkeit dar, mich von meinem Gebirgstrauma zu erholen. Darum bestellte ich mir eines schönes Tages das Programm für meinen „Nintendo 3DS XL“ und freute mich darauf.
Wisst ihr, was ich liebe? Paketverfolgung! Wenn ich etwas bestelle, rufe ich mehrmals täglich den Lieferstatus ab, um auch ja nichts zu verpassen. Was für Fußballfans der Fußball-Liveticker darstellt, ist für mich die Paketverfolgung. Ich brauche sie. Ich liebe sie. Und darum hasse ich es, wenn sie nicht angeboten wird. Zum Beispiel weil die Lieferung nicht als Paket zugestellt wird, sondern über den normalen Postweg als Brief. Das war bei „New Art Academy“ der Fall.
Ich hatte lediglich einen ungefähren Liefertermin, auf den ich mich freuen konnte. Dieser lautete: Tag X. Ich bin zu faul, das jetzt genau nachzuschlagen. Tag X klingt viel spannender als zum Beispiel der erste August. Oder der zweite August. Oder der dritte August. Oder der… seht ihr was ich meine? Jedenfalls schaute ich bereits am Tag X-1 mehrmals in den Briefkasten. Es hätte ja sein können, dass der Brief früher eintrifft. Man wird ja noch hoffen dürfen. In einer Welt voller lilafarbiger Rückschläge stellte „New Art Academy“ endlich einen Lichtschimmer dar. Du meine Güte, das meine ich doch alles gar nicht so. In Wirklichkeit ist die Welt total toll. Außerdem konnte man „New Art Academy“ an besagtem Tag nicht als Lichtschimmer bezeichnen. Denn es wurde nicht zugestellt. Blöde Post.
Dann kam Tag X. Und ich war aufgeregt. Viel zu aufgeregt. So aufgeregt, dass ich am Abend heulend in meiner Badewanne lag. Der Brief war immer noch nicht da. Was war geschehen? Wollte man verhindern, dass ich meine Bergschwäche endlich ablegen konnte? Ich hatte Angst. Ich war verzweifelt. Man hörte ja immer wieder davon, dass Briefe gestohlen wurden. Ich wollte dem Briefträger wirklich nichts unterstellen, tat es aber doch, weil ich mich dadurch besser fühlte. Wimmernd.
Tag X+1 begann genauso enttäuschend. Wieder ging ich mehrmals zum Briefkasten. Fündig wurde ich nicht. Ich war wütend und trat gegen meinen Schreibtischstuhl. Das tat so weh, dass ich mehrere Stunden lang nicht mehr gehen konnte. Ich rechnete mit dem Schlimmsten. Verlust der Gehfähigkeit. Und das alles wegen ein paar Bergen. Ich weinte. Dann kam meine Frau und trat, wie ich einst gegen meinen Stuhl, gegen mich. Sie nannte mich verweichlichte Memme und plötzlich ging es mir wieder gut. Wir gingen eine Runde spazieren. Zur Beruhigung. Nachtspaziergänge sind unglaublich entspannend. Auf dem Weg nach draußen schaute ich in den Briefkasten. Und da lag ein Brief. Ein großer Brief. Mein Brief. Ich riss den Briefkasten aus der Verankerung, schleuderte ihn gegen einen Baum, überlegte, warum ich das getan hatte, hob ihn auf, vertauschte ihn mit dem noch nicht demolierten Briefkasten der Nachbarn, bemerkte, dass ich vergessen hatte, vorher mein Spiel zu entnehmen, tauschte die Kästen wieder zurück und nahm endlich den Brief an mich. Er war geöffnet.
In diesem Moment blieb die Zeit stehen. Davon bekam ich natürlich nichts mit. Schließlich betrifft ein Zeitstillstand auch mich. Als die Zeit wieder vorwärts ging, kam die Angst. Mein Brief war geöffnet. Und das war nicht aus Versehen passiert. Es handelte sich um einen Pappbrief. Um ihn zu öffnen, musste man an einem kleinen Nürsel ziehen… Moment… beschreibe ich hier gerade Verpackungsöffnungsmechanismen? Sagen wir es doch einfach so: Es war offensichtlich, dass jemand den Brief geöffnet hatte. Ich schaute hinein. „New Art Academy“ war noch da.
Ach du meine Güte. Das war jetzt aber peinlich. Ich ging zurück in die Wohnung. Zum Glück war es dunkel. So konnte man nicht sehen, wie mir die Schamesröte ins Gesicht stieg. Folgendes war geschehen:
Briefträger sind nicht dumm. Viele wissen, was sie da zustellen. Kommt ein Brief eines Onlineversandhandels in ihre Zustelltüte, können sie schnell erfühlen, ob es sich zum Beispiel um eine DVD- oder 3DS-Hülle handelt. Auch der Briefträger meiner Region gehört zu den Leuten, die solche Dinge ertasten können.
Er hatte einen Sohn, der gerade erst einen 3DS erhalten hatte und nun auf neue Spiele wartete. Das Postbotengehalt ist alles andere als üppig. Da muss man sich eben hin und wieder an der Post anderer Leute bedienen. So wurde ich zum Opfer. Mein Brief verschwand in der Trinkgeldkasse des Postboten.
Zu Hause angekommen, rief dieser seinen Sohn zu sich. Der kam fröhlich herangestürmt. Man überreichte ihm meinen Brief. Er riss ihn auf, griff hinein und zog „New Art Academy“ heraus. Angeekelt warf er es in die dunkelste Ecke, die er im Haus finden konnte. „Was ist denn das für ein unspaßiger Haufen Langeweile? Das ist doch kein Spiel! Ich will Schießen spielen und nicht Malen! Das ist kein Schießen! Ich bin doch kein Idiot, der lilafarbene Berge malt! Lieber Vater, du bist ein Versager! Schaffe mir diese 3DS-Beleidigung aus den Augen!“ Mit diesen Worten verließ der Sohn die Wohnung, um seiner Wut an einer Losbude freien Lauf zu lassen. Der Vater blieb zurück.
Da er nicht wusste, was er mit meinem Brief machen sollte, kam er auf die Idee, ihn mir doch noch zuzustellen. Er wartete, bis es dunkel genug war, dann schlüpfte er in seine Joker-Verkleidung und schlich zurück zu meinem Briefkasten. Er warf den Brief ein und verschwand. So kam es, dass ich trotz Diebstahls an „New Art Academy“ kam. Der Dieb war so enttäuscht darüber, kein „richtiges Spiel“ gestohlen zu haben, dass er es mir zurück gab. Peinlich. Was hatte ich da nur gekauft?
Als ich meine Wohnung betreten hatte, holte ich das Spiel aus dem Brief. Dabei fiel mir etwas auf. Jemand hatte folgende Zeilen auf den Umschlag geschrieben: „Brief lag in unserem Briefkasten. Wurde offensichtlich falsch eingeworfen. Hatten ihn versehentlich geöffnet. Entschuldigung. Die Nachbarn.“ Oh. So ist das also gewesen. Ups. Da ist wohl meine Fantasie mit mir durchgegangen. Damit meine Leser aufgrund der langweiligen Wendung nicht allzu verärgert sind, folgt nun das von mir gemalte Bild einer Melone.
“New Art Academy” ist übrigens ein Roguelike. Es gibt keine “Rückgängig”-Funktion. Und ich mag Roguelikes.
5 Kommentare
Geiler Artikel! Ich hab mich herzlich amüsiert. :)
Gibts bei dem Ding auch Level und so freischaltbare Zusatzwaff..pinsel und Farben meine ich? Und Highscores, ohne geht einfach nicht. Und gibts auch Sexismus oder muss man sich den dann selber malen, so mit Lila und so?
Ansonsten, komische Gegend in der der Autor wohnt. Ehefrauen, die treten, Nachbarn, die mit dem Briefträger unter eine Decke stecken und so Checker-Schießkinder. Schlimme Sache.
Die Melonenbäume gleichen die ansonsten schlechte Wohngegend aus :).
“So aufgeregt, dass ich am Abend heulend in meiner Badewanne lag.” – dis glaub ich dir nich …
[i]”In diesem Moment blieb die Zeit stehen. Davon bekam ich natürlich nichts mit. Schließlich betrifft ein Zeitstillstand auch mich.”[/i]
Super.
Und: Die Tischdecke ist ja lila!
Polyneux ist auch lila! Die schönsten Pausen sind lila!