“Man stirbt als Held oder lebt so lange, bis man selbst der Böse wird.”
(Harvey Dent in The Dark Knight)
Es kann befreiend sein, den eigenen moralischen Kompass mal kurz tief in die Schublade zu schieben und im Ego-Shooter der Wahl ein Gemetzel anzurichten. Selbst von Sims-Spieler*innen habe ich schon Geschichten gehört, wo sie die armen Sims elendig gefoltert haben und daraus ihren Spielspaß zogen. Und dafür haben wir ja auch den Rahmen eines Spiels, der zwar nicht alles, aber doch einiges rechtfertigt. Es geht halt nicht um die reale Welt, es geht um eine Spielwelt in der viele unserer moralischen Grundwerte, zu recht, ausgesetzt sind. Klar sorgt das immer wieder auch für Kontroversen und Diskussionen und das ist auch gut so. Erwachsene Menschen unterscheiden zwischen Realität und Spiel. Die moralische Komponente ist meist nur eine Nebenerwägung.
Es gibt aber auch Spiele, die uns ganz offensichtlich und bewusst moralische Fragestellungen vor die Füße kotzen und einen dann herausfordernd fragen: Ja, was nun? Was würdest du tun? Die beiden Rollenspiele Tyranny und Disco Elysium sind zwei Spiele aus dieser Kategorie. Sie spielen in Welten, in denen nicht das Gute gewonnen hat. Man ist auch nicht die Heldin, die dem Guten zum Sieg verhilft. Oder genauer: Zumindest kommt man nicht raus aus dem Spiel, ohne sich sicher zu sein, ob alles, was man da mit dem eigenen Avatar, der eignen Spielfigur, gemacht hat „gut“ war. Und ich zumindest sitze dann noch während des Abspanns da und wäge ab, was ich so alles getan oder verbrochen habe und warum.
Die Umstände in Tyranny sind, dass in einer von Magie durchwirkten Welt seit 400 Jahren Kyros herrscht. Wir wissen nicht viel über Kyros, nicht mal sein/ihr Geschlecht ist bekannt (wenn es auch unterschiedliche Vermutungen gibt) und Kyros tritt im Spiel auch nicht auf. Aber Kyros Wille ist es, den letzten Landesteil des Kontinents nun endlich zu erobern. Unter dem Vorwand, Frieden zu bringen. Kyros Macht äußert sich in erster Linie durch die „Edikte“ genannten magischen Gesetze, die er/sie erlässt. Diese sind nach ihrer Verkündigung absolut bindend und werden durch Magie durchgesetzt. Und du spielst die Person, die diese Gesetze verkündet, du bist ein „Fatebinder“. Du bist damit die letzte Instanz in der Auslegung des Gesetzes des Kyros. Jemand hat was geklaut: Du entscheidest, ob du das verfolgst, wen bestrafst oder doch lieber Geld einstreichst, um wegzusehen. Und ja, du musst dich dann irgendwann vor dem obersten Richter des Landes rechtfertigen, aber der ist weit weg und bekommt auch nicht alles mit. Wer unzufrieden ist mit deinem Urteil darf sich gerne mit dir körperlich und magisch messen und wahrscheinlich verlieren. Du ziehst durch ein erobertes, teils zerstörtes Land und sollst die Kriegsverbrechen der Armeen Kyros dokumentieren, um festzustellen, wer denn nun Schuld hat an einem Aufstand gegen die Eroberung. Denn Kyros nennt es Frieden, wenn Kyros gesiegt hat und es darf sich niemand dagegen auflehnen. Zumindest niemand, der/die nicht stark genug ist, sich mit Kyros’ Macht zu messen.
Da sind wir schon auch tief drin in den moralischen Widersprüchen, denn als Spieler*in hast du auch die politische Wahl, mit welchen der zahlreichen Fraktionen du zusammenarbeiten willst, wobei sich natürlich einige Fraktionen gegenseitig ausschließen. Und natürlich ist keine der Fraktionen ohne Fehler. Alle haben irgendwann ihre Versprechen gebrochen, gemordet und geplündert. Und ja, du kannst natürlich alle Fraktionen ablehnen und mit der Konsequenz leben, dass dich alle bekämpfen und du am Ende womöglich alle umbringst. Warum sollte man so ein Spiel überhaupt spielen, fragen sich vielleicht einige: „Ich will doch spielen, um der depressiven Welt zu entgehen!“ Und ja, nicht alle sind so selbstquälende Menschen wie ich es bin, aber für mich ist der Reiz, genau in diese unbequemen Fragen hinabzusteigen und zu erkunden, was meine Gefühlswelt darauf sagt, zwischen schlechten Optionen wählen zu können. Manchmal eine erzählerische Katharsis, also Erlösung, dann doch zu finden, zwischen all dem Negativen. Ach ja und nebenbei ist auch das Konzept des Rollenspielsystems in Tyranny erfrischend, eigenartig und auch nach Jahren noch neu.
In Disco Elysium ist die Hauptfigur Harry, ein alkoholkranker, kettenrauchender Cop, der auch nach Katharsis oder wahlweise Drogen sucht. Die Welt, in der er lebt, ist die der gescheiterten, niedergeschlagenen Revolution von Revachol. Die Revolution wurde mit den Kanonen der liberalen, kapitalistischen Koalition weggebombt. Nach ihrem Sieg hat die siegreiche Koalition Revachol einfach, in guter, Laissez-faire-kapitalistischer Tradition, sich selbst überlassen. Jetzt grassieren Korruption, Selbstjustiz und rassistische Reaktion. Und natürlich arbeitet der Cop für die siegreiche Besatzungsmacht. Ermordet wurde ein Soldat der Besatzungsmacht und deswegen wurde man geschickt, aber Harry kann sich daran gar nicht erinnern. Dazu kommt Kim, ein Cop von einem andern Revier als Sidekick Harrys. Kim ist die Verkörperung des korrekten Cops. Auch im Wegschauen ist er ganz Cop, wenn der Kollege nicht ganz so korrekt ist. Etwaige Verfehlungen kommen in den Bericht und werden später „aufgearbeitet“. Jetzt ist natürlich einem selbst überlassen, wie sehr man Harry seine Süchte und niederen Instinkte ausleben lässt. Auch kann Harry sich politisch als Kommunist, Liberaler, Faschist verhalten und entsprechende Parolen vertreten. Aber wie die Band Feine Sahne Fischfilet einst sang: „Niemand muss Bulle sein!“ Deswegen ist auch hier die Frage: Warum sollte man das überhaupt spielen? Klar sind Soundtrack und der tolle visuelle Stil ein guter Grund, aber reicht das aus? Vielleicht ist es auch der wirklich gute Plot, den ich hier nicht verraten will. Nur soviel: Er ist auch noch immer gut, sobald man ihn komplett kennt.
Ich glaube, man kann in beiden Spielen etwas über sich selbst und über die Welt, in der wir leben lernen. Menschen, die glauben, sie kommen „moralisch sauber“ durch das Leben, haben einfach nur zu viele unreflektierte Privilegien. Alle anderen zweifeln, ob es denn reicht, oder richtig ist, was man so mit dem Leben macht. Kann man es denn überhaupt richtig machen, in einer Welt, die an so vielen Punkten falsch ist? Ich habe darauf keine Antwort und auch !Achtung Spoiler! die Spiele beantworten einem das nicht. Aber ich glaube, sie können einem helfen zu reflektieren, warum man etwas richtig oder falsch findet. Und mir zumindest helfen sie eher zu akzeptieren, dass ich auch bei bestem Willen, nicht immer das Richtige tun kann, aber es trotzdem gut ist, es zu versuchen.
1 Kommentar
Hhm, ich fand Tyranny so langweilig, dass ich das Spiel nach rund 10 Stunden abgebrochen habe. Ging mir so, dass die Figuren wenig überzeugend waren, alle haben sich irgendwie dumm verhalten. Man läuft da durch wie durch Kulissen. Die moralischen Fragen, denen man ausgesetzt ist, sind also auch nur Kulissen.
Disco Elysium habe ich grad erst angefangen. Das macht einen andern Eindruck, und das hat vor allem mit dieser schrägen Umsetzung der inneren Stimmen zu tun. Sowas habe ich noch nie gespielt, das will mehr.