Der unvollendete Schwan verschwindet aus einem unvollendeten Bild in eine unvollendete Märchenwelt. Kurz darauf verwandelte ich mich in den Waisenjungen Monroe, dem Sohn der verstorbenen Malerin, der sich auf die Suche nach dem Vogel ohne Hals begibt. Ich folgte dem Schwan durch eine geheimnisvolle Tür und landete in einem komplett weißem Nichts. Im ersten Moment wirkte es wie eine Art Ohnmacht, hier zu sein.
Blind schritt ich voran und das einzige, was ich hörte, waren meine eigenen Fußschritte, Atemgeräusche und zarte Glöckchentöne einer Windkette. Ich hörte mich gehen, aber ich bemerkte nicht, ob ich mich tatsächlich fortbewegte. Ich sah keine Wände, keine Konturen, keinen Himmel und auch keinen Boden. Nach kurzer Verwunderung dann der Aha-Effekt: Ich konnte mit schwarzen Farbbällen werfen und so meine Umgebung sichtbar klecksen. Ich gab meinem Weg ein Gesicht und eine Form, ich sah die Treppen, Zäune, Pflanzen, Bänke und Steine. Ich selbst war nur ich – in der Egoperspektive, keine Arme, keine Fußspuren. Die ersten Entdeckungen in dieser Schwarz-Weiß-Idylle waren ganz außergewöhnlich und imposant. Je weniger ich kleckste, desto mehr blieb im sterilen Weiß verborgen.
Diese besondere Eigenart von The Unfinished Swan hat mich anfangs sehr entzückt. Die abstrakte Art und Weise, dass eigentliche “Level” erst durch farbliches Tapezieren sichtbar machen zu müssen, war mir ganz neu. Damit entwickelte ich überhaupt erst ein Gefühl für meine Spielfigur. Die Welt um sich herum kaum bis gar nicht zu kennen, sich aber in ihr zurecht finden zu müssen, ist reizvoll und zu Beginn sogar ein wenig herausfordernd. Es war erstaunlich, wie groß der Unterschied war, den ersten Bereich ganz weiß zu betreten und ihn später so bildgewaltig wieder zu verlassen. Es machte Spaß.

Insgesamt sind die vier Kapitel von The Unfinished Swan zwar kurz, aber recht abwechslungsreich gestaltet. Ich lief durch Labyrinthe und machte mit Laternen die Nacht zum Tag, da mich in der Dunkelheit spinnenähnliche Wesen verfolgten. Später konnte ich mich auch in einer Art Bastelkasten-Editor austoben und selber etwas kreativ werden, wenn auch in Maßen. Überall waren sammelbare Ballons und vertonte Gemälde versteckt, welche mir die Geschichte des Königs dieser tristen Welt erzählten.
Aber trotzdem – nach all den schönen Eindrücken, verliert der unvollendete Schwan immer mehr seine Federn. Das größte Problem ist wohl, dass das Spiel in mir nichts zurückgelassen hat. Weder Freude, weder Trauer, noch nicht mal einen tieferen Sinn konnte ich dem erzählten Märchen entnehmen. Ich erwarte ja von keinem Spiel, mir die großen Fragen der Metaphysik zu beantworten. Aber wenn man sich augenscheinlich so künstlerisch-tiefgründig präsentiert, wundere ich mich rückblickend schon über die Bedeutungslosigkeit der Erzählung und der spielerischen Facetten.

The Unfinished Swan jedoch fühlte sich die meiste Zeit über sehr kalt und ziellos an. Es hat nicht den entsprechenden Tiefgang, um bei anderen Spielen des „besonderen Interesses“ mithalten zu können. Selbst Flower ist bedeutsamer, weil es eine Geschichte erzählt, die ohne Worte auskommt und ich nach dem Spielen dennoch das Gefühl hatte, etwas mitgenommen zu haben. Ich spielte nichts nach, ich war niemand bestimmtes – ich war der Dichter und Denker. Beim Schwan wäre ich lieber selbst darauf gekommen, um was es sich dreht und hätte gerne gesehen, wie die Bildsprache für sich spricht. Traute man mir als Spieler/in nicht zu, jene “Kunst” zu begreifen, oder war der Designer sich selbst nicht so sicher, was er hier eigentlich “zu Papier” bringen wollte?
Das ewige Reden, ob Spiele nun Kunst sind oder nicht, hat mich mittlerweile schon etwas müde gemacht. Im Zusammenhang mit The Unfinished Swan muss die “wahre Kunst” leider dem intellektuellem Zwang weichen. Hier passierte genau das, was Kunst am wenigsten gebrauchen kann: Vorgaben und fehlende Würze. Über Sinn und Unsinn kann man ja freudig diskutieren, mir persönlich fehlen hier aber die markanten Ankerpunkte.
Die Vorstellung, in ein Gemälde einzutauchen hat schon einen gewissen Reiz, aber wenn ich ehrlich bin, hatte ich das schon einmal. Es war in keinem Videospiel, sondern in einem Museum. Ich stand vor Frida Kahlos “Die zerbrochene Säule”. Ein Bild, welches die absolute und ungeschönte Wahrheit ausspricht, ohne auch nur einen Laut von sich zu geben. Es besitzt die Eigenschaft, durch künstlerisches Talent und Feingefühl der Malerin, dem Betrachter Schmerz, Trauer und Unbarmherzigkeit fühlen zu lassen. Fridas Wirbel sind gebrochen und dem Schwan fehlt der Hals – so ein Leben ist nur schwer vorstellbar. Fridas Nachricht sah ich, die vom Schwan dagegen leider nicht.


2 Kommentare
Mag deinen Text. Sehr.
Das Spiel selbst konnte ich noch nicht spielen.
Dankeschön. :) Du bist ja auch eher die PC-Spielerin oder? Naja und wie schon angedeutet, muss man sich bei dem Spiel die Investition etwas überlegen.