Die Zone ist mein Haus und Hof, mein Grund und Boden.
Die Zone ernährt mich, die Zone frisst mich auf. Sie ist das Paradies auf Erden, jeder Wunsch soll sich hier erfüllen, und doch ist jeder Tag hier ein Kampf ums nackte Überleben.
Hier herrscht Krieg: Für ein Artefakt, eine Schutzweste oder auch nur eine Wurst würden sich Brüder hier gegenseitig umbringen. Nachts jedoch, um gemeinsam Schutz vor den namenlosen Bestien zu suchen, die gierig vor Hunger kein Risiko scheuen, um lebendige, atmende Beute zu machen, scharen sich Freund und Feind um die Feuer und teilen die letzte Krume Brot.
Die Zone könnte der Garten Eden sein, könnte man sich hier bloß niederlassen. Doch das kann man leider nicht — Wer einmal in ihren Bann gezogen wurde, wird sie nicht mehr los.
Die eingeschworene Gemeinschaft, die in ihr lebt, ist rastlos, getrieben auf der Suche nach Erleuchtung. Sie duldet keinen Stillstand, wer am Morgen nicht aufbricht, um auf einer neuen Route dem vermeintlichen Glück entgegen zu gehen, den holt rasch die ständige Veränderung der Umwelt ein. Wo heute ein stiller Bach fließt, kann morgen schon ein reißender Strom sein, oder Hitze, die Sand zu Glas schmelzen läßt.
Diejenigen, die die Zone durchstreifen, sind auf der Suche nach einem Neu-Anfang und richten gleichzeitig ihren Blick in die Vergangenheit – Sie suchten diesen Ort auf, um nicht nach den Regeln und Gesetzen der übrigen Welt handeln zu müssen, denn von denen hat hier nichts mehr Bestand, nur der Erfolg, das Überleben und die Überlegenheit gegenüber seiner Umwelt gibt einem Recht.
Viele Stalker haben ihren relativen persönlichen Wohlstand aufgegeben; natürlich waren die meisten von ihnen bettelarm, aber hier haben sie nicht einmal in jeder Nacht ein festes Dach über dem Kopf, auch keine Familienmitglieder, die sich um sie sorgen. Hier lebt man nur für seine Träume und zehrt von seiner Hoffnung. Obwohl nie ein Mensch dabei gesehen wurde, den Null-Punkt, den sagenumwobenen Wunschbringer zu erreichen, geschweige denn irgend eine Person, die auch nur in die Nähe dieses Ortes vordrang, je wieder gesichtet wurde, kommt ihnen diese unwahrscheinlich niedrige Chance auf Erfolg realer vor, als zu Hause eine Beschäftigung, die ihren Lebensunterhalt sichern könnte, zu finden.
Vermutlich macht den Stalkern die Aussicht, plötzlich in eine unsichtbare Anomalie zu geraten oder von den Klauen und Fangzähnen eines Mutanten zerrissen zu werden – ein Schicksal, das früher oder später jeden, den die Zone dauerhaft in ihren Bann gezogen hat, ereilt – weniger Angst als in einer Fabrik, dessen Betreiber Löhne, wenn überhaupt, um Monate verspätet zahlt, so lang schuften zu müssen bis man, wenn die Schmerz- und Aufputschmittel keine Linderung mehr verschaffen, tot vor Erschöpfung auf das Fließband fällt.
Ärzte gehören nicht zur Klientel, die sich in die Zone verirrt, intensivmedizinische Versorgung ist nicht vorhanden. Überhaupt keine Versorgung ist vorhanden. Wer das Glück hat, einen Angriff einer Gruppe Banditen oder einer Herde mannshoher Wildschweine zu überleben, sollte besser vorher ein paar wenig verstrahlter Verbände und eines halbwegs sauberen Chirurgenbestecks habhaft geworden sein und geschickt damit umzugehen wissen. Einigermaßen gut ausgerüstet ist nur das Militär, jedoch wer versucht, in eines ihrer Lager einzudringen und dort Strahlenschutzmittel zu stehlen, die mehr als nur eine Placebo-Wirkung entfalten, und sich erwischen läßt, hat größere Sorgen als die Folgen eines zu langen Aufenthalts in einem stark verstrahlten Areal.
Überhaupt die größte Besonderheit der Zone ist die Abwesenheit sämtlicher sogenannter Errungenschaften der Zivilisation: Alles von Menschenhand Geschaffene wurde mit einem Mal unbrauchbar, die Maschinen standen plötzlich still, verharren seitdem in einem bewegungslosen Zustand und fallen der langsamen Zerstörung anheim. Straßen und Schienen werden von Gräsern und kurzen Strauchern überwuchert, Gebäude gehen unter in einem grünen Meer emporwachsender Bäume, Wurzeln sprengen den verseuchten Beton, Wind, Sonne und Regen schlagen in diese Kerben und fegen sämtliche Zeugnisse der menschlichen Präsenz langsam aber sicher davon.
Was noch steht, bietet den Menschen geringen oder gar keinen Schutz, weil Fenster zerborsten, Türen verrottet, Dächer eingestürzt sind, nuklear verseuchter Staub oder Metalle einen langsam dahinraffen würden oder Anomalien oder Monster, die eine ‘zivilisierte’ Person sich nur in ihren schlimmsten Alpträumen ausmalen kann, diese Orten beherrschen. Künstliche Dinge stellen in der Zone ausschließlich ein Diorama unterschiedlicher Stufen des Zerfalles dar.
Die größte Besonderheit der Zone ist jedoch, daß sie sich nie wissenschaftlich erforschen oder erklären ließ. Die wenigen Gruppen von Wissenschaftlern, die es versuchten, streifen jetzt wahrscheinlich alle als gedanken- und willenlose Kreaturen durch die riesigen, dunklen verseuchten Wälder oder ihre zerborstenen Skelette klammern sich immer noch hinter einer provisorischen Barrikade aus Müll und Schrott an ihre längst nicht mehr einsatzbereiten Gerätschaften. Die Zone läßt den Menschen, denen sie eine karge Herberge bereitstellt, weder Raum noch Ruhe, um sich mit etwas anderen als dem täglichen Kampf um das Überleben zu beschäftigen.
Daher lautet auch eine mögliche Erklärung des wirklichen Geheimnisses der Zone, der Grund ihrer Existenz, abgesehen vom legendenumwundenen Wunschbringer, daß sie die Menschen auf das Leben unter veränderten, widrigen Umständen, die möglicherweise in Zukunft überall auf der Erde herrschen könnten, vorbereiten solle. Vielleicht ist sie ein lebendiges Mahnmal gegen die Ausbeutung der Natur, eine Warnung, wie es in dicht besiedelten Gebieten aussehen könnte, ein halbes Jahrhundert, nachdem moderne Städte durch einen selbst verschuldeten Unfall von Menschen unbewohnbar wurden. Vielleicht handelt es sich um eine Art Rückzugsgebiet, einen Ort, der künstlich vor sämtlichen menschlichen Einflüssen bewahrt werden soll – die Arche Noah des 21. Jahrhunderts.
Doch gibt es wohl so viele verschiedene unwahrscheinliche Erklärungen wie es junge Stalker gibt, die, aufgrund der Aufregung über eine Tags zuvor um Haaresbreite überlebte Exkursion durch eine der verzweigten, mit tödlichen Anomalien und anderen Gefahren gefüllten Tunnel-Anlagen, auf der Suche nach wertvollen Artefakten, in der Nacht keinen Schlaf finden. So wie ich in diesem Augenblick..
3 Kommentare
STALKER war wirklich ganz großes Kino. Wenn man von einigen Bugs und dem ärgerlichen Dramaturgie-Schnitzer absieht, dass man aufgrund einer nicht erledigten Sidequest später nicht mehr die Möglichkeit hat, das “wahre” Ende zu erleben…
Das bald kommende Prequel hat gute Chancen, der Perfektion ein Stück näher zu kommen.
Ist das Spiel nicht vor einiger Zeit günstiger geworden? Sollte ich mal zuschlagen. Vor einiger Zeit hatte ich mir das Spiel mal für ein paar Wochen ausgeliehen und ich hatte recht viel Spaß mit dem Teil. Und das obwohl ich Ego-Shooter nicht mag.
Bei Clearsky hoffe ich ja auf noch mehr Freiheit und die Möglichkeit, seine eigene Dramaturgie zu schreiben. Das, das kann man hoffentlich aus meinem Eintrag herauslesen, hat mir auch beim ersten Teil am meisten fasziniert.
Hoffentlich erscheint das Prequel überhaupt irgendwann.