Grestin, Januar 1983. Es ist ein bitterkalter Januarmorgen, an dem ich Viktor Goboran in seiner Zelle besuche. Seit einem Monat sitzt er jetzt wegen Hochverrats in Haft. Nur dank guter Beziehungen und ein wenig Geld für die richtigen Leute ist es mir möglich mit diesem Mann zu sprechen. Bevor ich den Raum betrete, werfe ich noch einen raschen Blick auf das einzige Foto, das ich von meinem Gesprächspartner besitze. Darauf zu sehen: ein freundlich dreinblickender, beleibter Mann mittleren Alters. Als ich eintrete und Viktor zum ersten Mal in Fleisch und Blut vor mir sehe, muss ich kurz innehalten. Der Mensch auf dem Foto existiert nicht mehr. An dem kleinen Tisch sitzt ein schmalere Version dieses Mannes. Keine Spur mehr von seinem natürlichen Frohsinn. Stattdessen eingefallene Augen, die ruhelos jeden Zentimeter der Zellenwände abtasten. Was ist nur mit Viktor Goboran geschehen?
Guten Tag Herr Goboran. Schön, dass wir miteinander sprechen können. Wie geht es Ihnen?
Den Umständen entsprechend. Sie sehen ja selbst. Und bitte … nennen Sie mich doch Viktor.
Viktor…vielleicht könnten Sie mir ein bisschen mehr über sich erzählen.
Ich heiße Viktor Goboran. 1935 kam ich in Paradizna zur Welt. Zuletzt war ich Grenzbeamter in Grestin. Aber das wissen sie bestimmt. Schließlich sind Sie ja deswegen hier, nicht wahr?
Das stimmt, ja. Wie verlief Ihr Leben bevor sie in dieser Zelle gelandet sind?
So wie das vieler anderer Bürger in unserem Land, schätze ich. Mein Großvater pflegte zu sagen: “Arstotzka hat nicht viel, außer der Liebe seines Volkes.” Irgendwann kam die Lotterie. Mein Name wurde gezogen und so wurde ich Grenzbeamter in Grestin. Letztes Jahr, im November 1982, wurden die Grenzen wieder geöffnet. War eine turbulente Zeit. Aber durch die neue Stelle war ich zumindest abgesichert. Es war nicht viel, aber immerhin eine spürbare Verbesserung zu vorher.
Wir alle kennen die Bilder vom Tag der Grenzöffnung. Wie haben Sie diesen Moment erlebt? Schließlich war es ja auch Ihr erster Arbeitstag.
Ich denke noch heute an die Menschenmassen auf der anderen Seite des Zauns zurück. In jedes Gesicht stand die Erwartung geschrieben, Familie oder Partner wieder in die Arme schließen zu können oder einfach nur ein neues Leben in Arstotzka beginnen zu können. Mich selbst hat das alles auch nicht kalt gelassen. Ich wollte schließlich keine Fehler an meinem ersten Tag als Grenzbeamter machen. Zumindest für die Einwanderer war es mit der Heiterkeit und Freude auf ein neues Leben aber schon bald vorbei…
Sie spielen auf die Einreisebeschränkungen an?
Genau. An diesem ersten Tag durften nur Bürger Arstotzkas einreisen. Sie ahnen ja gar nicht was ich mir für Beschimpfungen von den Abgewiesenen anhören musste. Aber ich konnte ja nichts dafür! Ich hatte schließlich auch nur meine Befehle.
An diesem Punkt wäre es wohl angebracht, wenn sie einmal kurz ihren Tagesablauf als Grenzbeamter schildern, Viktor.
Gern. Meine Schicht begann um 6 Uhr morgens und endete 12 Stunden später. In dieser Zeit war es meine Aufgabe, die Papiere aller Einreisenden auf Richtigkeit und Legitimation zu prüfen und ihnen somit die Einreise nach Arstotzka zu erlauben oder zu verweigern. An guten Tagen schaffte ich so bis zu hundert abgefertigte Personen.
Sie arbeiteten 12 Stunden am Stück? Das klingt gräßlich monoton. Wird man da nicht verrückt? Ich könnte mir nicht vorstellen länger als einen Tag in diesem Beruf zu arbeiten…
Sie werden lachen, aber ich hatte tatsächlich Spaß. Sehen Sie es mal so: Ein kleines Licht wie ich bekommt von heut auf morgen unglaublich viel Verantwortung übertragen. Das bringt natürlich seinen ganz eigenen Reiz mit sich.
Sie haben täglich über die Schicksale vieler hundert Menschen entschieden. Würden Sie sagen, dass Ihnen vor allem dieses Machtgefühl gefallen hat?
Nein, ganz bestimmt nicht. Es war die Arbeit an sich, die mir gefiel. Schauen Sie nicht so ungläubig, ich meine das vollkommen ernst. In der Ausbildung hat man uns eingebläut, dass jeder Einreisende verdächtig ist. Meine Aufgabe als Grenzbeamter bestand also darin, Beweise für diesen Verdacht zu finden. Manchmal waren die Pässe ungültig oder gefälscht. Mal stimmte das Geburtsdatum nicht oder das angegebene Geschlecht und Foto ließen sich der Person nicht zuordnen. Ich fühlte mich fast schon wie ein Detektiv.
Sie hatten also ein festes Regelwerk, nach dem sie sich richten mussten. Haben Sie denn niemals ein Auge zugedrückt?
Wo denken Sie bloß hin? Das konnte ich mir einfach nicht leisten. Mein Lohn war ja direkt an die Gründlichkeit meiner Arbeit gekoppelt. Jede korrekt abgefertigte Person brachte mir ein wenig Geld ein. Fehler wurden dagegen mit Verwarnungen und Abzügen geahndet. Ich musste also nach Vorschrift handeln. Selbst wenn das bedeutete, ein Liebespaar an der Grenze zu trennen, weil die Frau keinen Pass besitzt.
Ich kann mir vorstellen, dass sie öfter mit solchen Situationen konfrontiert wurden. Was ich mich frage: Haben Sie am Ende des Tages so etwas wie Mitleid empfunden?
Kaum. Diese Arbeit bringt so einige Nebenwirkungen mit sich. Man beginnt den Mensch auf der anderen Seite der Glasscheibe nicht mehr als Mensch zu sehen. Was zählt sind die Papiere vor einem auf dem Tisch. Arbeitsgenehmigung, Impfpass, Ausweis und so weiter und so fort. Es gab Tage, an denen hatte ich sechs oder fünf verschiedene Dokumente vor mir, die ich alle miteinander abgleichen musste. Aber um nochmal auf ihre Frage zurückzukommen: Mitleid empfand ich selten. Mit einer Datensammlung kann man nur schwerlich mitfühlen.
So viel Papierkram unter Zeitdruck zu überprüfen klingt nach einer beeindruckenden Leistung. Wie hält man das durch, so viele Papiere an einem Tag abzuarbeiten?
Ha! Überhaupt nicht! Erinnern Sie sich an die Epidemie damals da drüben in Kolechia? Das war die Zeit, wo bis zu sechs Dokumente vor mir lagen. Hundert Personen pro Schicht waren da schon längst nicht mehr zu schaffen. Ein Viertel davon war die Regel. Da kam es schon mal vor, dass ich ohne Lohn nach Hause ging. Flüchtigkeitsfehler waren da an der Tagesordnung.
Aber sagten Sie nicht, dass ihr Lohn leistungsgebunden war? Meine Aufzeichnungen besagen, dass Sie auch Familie haben. Wie kommt man in solchen Zeiten über die Runden?
Indem man kreativ wird. Die Zustände in unserem Apartment waren zu der Zeit unerträglich. Mein Onkel hielt uns jede Nacht mit seinem Keuchhusten wach, mein Sohn litt an einer Lungenentzündung und wir heizten täglich mit ein paar Zeitungsfetzen, die meine Frau den Tag über auf der Straße gesammelt hat. Das einzig gute an der Situation war, dass es ausnahmslos allen schlecht ging. Auch den anderen Mitarbeitern am Grenzposten, die Soldaten und Wärter.
Ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Viktor…
Stellen Sie sich doch nicht so dumm! Wir tüftelten natürlich untereinander Geschäfte aus. Die Bezahlung der Wärter richtete sich ebenfalls nach der Menge an eingebuchteten Personen. Also sorgte ich dafür, dass es immer genügend Nachschub gab und bekam so ebenfalls meinen Teil vom Kuchen ab.
Nur damit ich sie richtig verstehe: Sie haben einfach Leute verhaftet, um Ihren Lohn aufzubessern?!
Spielen Sie jetzt bloß nicht den Moralapostel. Ich bin nicht stolz drauf, aber jeder hätte in meiner Situation wohl dasselbe getan. Es ging um meine Familie, um meinen Lebensunterhalt und die Sicherheit eines vernünftigen Lebens. Außerdem wurden die meisten direkt am nächsten Morgen wieder aus der Haft entlassen, glaube ich. Wegen Lappalien wird man nicht verurteilt.
Ganz im Gegensatz zu Ihnen, Viktor. Man wirft Ihnen nicht weniger als Sabotage und Kollaboration mit Staatsfeinden vor.
Dazu werde ich nichts sagen. Nur soviel: Ich liebe unser großartiges Arstotzka aus ganzem Herzen. Nie würde es mir einfallen, mit einer angeblichen Untergrundbewegung Pläne zu schmieden. Dabei kann es sich nur um einen Verfahrensfehler handeln. Nie würde unsere Regierung einen treuen Bürger wie mich wegen lächerlichen Gerüchten verurteilen.
Sie sind sich also keiner Schuld bewusst?
Was wollen Sie?! ICH LIEBE ARSTOTZKA!
So sehr, dass Sie auch ohne Skrupel auf Menschen geschossen haben, die über die Mauer kletterten?
Es war meine Pflicht, verdammt! Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?! Von tapferen Männern wie mir hängt es ab, ob ein Immigrant mit fünf Kilo mehr Gewicht, die laut Pass nicht sein dürften, über unsere Grenze spazieren darf. Fünf Kilo, die sich dann vielleicht als Sprengsatz entpuppen, der drei tapfere Grenzsoldaten zerfetzt. Und bevor Sie weiter so dämlich fragen: Nein, ich finde Nacktscanner keineswegs bedenklich und unmenschlich und habe sie gern und oft eingesetzt!
Beruhigen Sie sich wieder Viktor… ich will Sie nicht verurtei-
Doch genau das wollen Sie! Nichts anderes, bestimmt sind sie ein Spion oder so etwas. Wollen Sie mich vielleicht sogar umbringen? Haben DIE sie geschickt, weil ich mich geweigert habe, ihre staatsgefährenden Aufträge auszuführen? So ist es doch oder? WÄRTER! HILFE!
Was reden Sie da Viktor?! Keiner will Ihnen ein Haar krümmen…
Im nächsten Moment wird die Zellentür aufgestoßen. Zwei Sicherheitsbeamte stürmen in den Raum und bringen Viktor mit ein paar Schlägen zum Schweigen. Dann begleiten sie mich nach draußen. Einer der beiden sagt noch so etwas wie: “Armes Schwein, dieser Goboran. Hat gerade mal einen Monat an der Grenze gearbeitet und schon den Verstand verloren. Die sollten vielleicht lieber Maschinen dafür einsetzen, da passieren immerhin keine Fehler.” Als ich in das Schneegestöber hinaustrete und einen Blick zu Viktors Zelle werfe denke ich noch: “Wer sagt behauptet denn, dass Viktor Goboran nicht längst zu einer geworden ist?”
8 Kommentare
Coole Idee, schön umgesetzt.
Jetzt habe ich noch mehr Lust auf das Spiel bekommen :)
Wirklich eine tolle und sehr kreative Variante für einen Test. Da steckt bestimmt viel Arbeit drin. Das Lesen hat mir wirklich Spaß gemacht. :)
Die Unterabteilung S für Schriftwesen und Kommentarkultur möchte sich hiermit für die lobenden Worte bedanken.
Glory to Arstotzka!