Wir leben in einer Welt, in der nahezu jede Nische mit genug Konkurrenz ausgefüllt ist, dass es fast obsolet wird, Dinge zu erklären; viele ausufernde Erklärungen lassen sich mit Aussagen wie “Es ist so ein bisschen wie…” auf das Nennen einiger Gemeinsamkeiten herunterdampfen. Viele Schreiber, mich eingeschlossen, nehmen diese einfache Route zum Verständnis. Zu viele, zu oft. Immerhin haben wir aus dieser Art des Diskurses schon meme-trächtige Stilblüten wie “the Dark Souls of” bekommen. Das Dark Souls der Waschmaschinenlieferdienste, das Game of Thrones der Straßenmusikervereinigungen. Noch schlimmer gehts eigentlich nur, wenn sich Produkthersteller oder Dienstleiter selbst solchen Vergleichen in ihren Werbekampagnen unterwerfen.
Neofeud, entwickelt vom hawaiianischen Ein-Personen-Studio Silver Spook, bewirbt sich als Game of Thrones nach dem Untergang der modernen Gesellschaft. Großer Fehler. Erstens sollte man sich, wenn man beansprucht, eine anspruchsvolle Geschichte mit tiefer politischer Aussage zu erzählen, nicht freiwillig mit Game of Thrones vergleichen. Zweitens ist der Trend, Medienprodukte, die sich mit Politik beschäftigen, mit GoT gleichzusetzen selbst dann ausgelutscht, wenn sich abseits dessen wenigstens noch ein paar Gemeinsamkeiten finden lassen. Neofeud hat bis auf die Beschäftigung mit einer neofeudalen, also nach dem Weltuntergang zurück ins Mittelalter verfallenen Weltordnung nichts mit politischen Intrigen am Hut. Es versucht zwar, gegen Ende eine politisch durchgesetzte Revolution gegen die herrschende Ordnung abzubilden, der eigentlich spannende Teil des Spiels findet aber weit davor und darunter statt: In den Armenvierteln von Coastlandia City, Tijuana, einer Industriemetropole im westlichen Mexiko. Regiert wird diese Stadt von einer aus den pervertierten Oberschichten des heutigen Kapitalismus zusammengeschmolzenen Herrscherkaste: Den Clington-Busches, den Merkel-Lecroixes (kein Scheiß!). Selbstverständlich schweben diese dank modernster Technologie in Wolkenstädten über den eigentlichen Ballungsräumen, in denen sich vor allem ein Problem abzeichnet: Seit geraumer Zeit sind Maschinen zu intelligentem Leben erwacht und verlangen zusammen mit den in der Apokalypse entstandenen humanoiden Mutanten Menschen- und Bürgerrechte. Dieses Anliegen scheint aber bereits vor langer Zeit gescheitert zu sein, denn zum Handlungszeitpunkt Neofeuds müssen sich Humanoide — wie alles, was nicht komplett menschlicher DNA entspricht, in Coastlandia genannt werden — einem manipulierten Gehirnwellentest unterziehen, der sie in Wesensklassen einordnet. Alles unter Ergebnis 4.1 gilt als tierische Intelligenz, ohne Chance auf Anerkennung der Mündigkeit. Das durchschnittliches Ergebnis dieses Tests liegt wenig überraschend bei 3.9.
Auftritt Karl Carbon, Sozialarbeiter. Als ehemaliger Cop selbst halb zur mechanischen Kampfmaschine umgebaut, ringt Karl nach seinem Rauswurf nun selbst mit dem Untermenschenstatus. Seinen Posten und damit seine spärlichen Privilegien kann er nur behalten, indem er die schmutzige Arbeit für sein ‘Sozialamt’ macht.
Ja, Neofeud selbst nimmt Begriffe wie “Eugenik” und “Untermensch” in den Mund, ein Charakter vergleicht sich selbst schamlos mit Joseph Goebbels. Das hat mir mehrfach beinahe die Zehennägel hochgerollt. Eigentlich meint es das Spiel gut; die mahnende Botschaft hinter dem irren Wissenschaftler, der sich schamlos an unschuldigen Wesen vergreift und damit eine globale Eugenik-Industrie geschaffen hat, ist nie versteckt und wird das ein oder andere Mal auch durch sehr explizite Bilder als unmenschlich böse charakterisiert. Leider reichen plumpe “Tyrannei ist böse, Kinder”-Floskeln nicht aus, um die Pietät zu wahren, wenn man meint, tatsächlich einen Holocaust-Vergleich anbringen zu müssen. Dazu hätte mehr Finesse gehört, mehr Achtung der Betroffenen und ein kleinerer Blickwinkel.
Denn wo Neofeud eigentlich glänzt, das ist beim Fokus auf die Opfer, die Betroffenen und die im System Verfangenen. Carbon, seine Schützlinge in der Syntheten-Sozialarbeit, die Mitrevolutionäre, die ihn auf den Pfad gegen das feudale Regime führen. Hier wirken auch die dem Spiel zur Verfügung stehenden Mechaniken. Denn abgesehen von seinem Ehrgeiz ist Neofeud ein sehr klassisches Point & Click-Adventure, dass sonst höchstens noch durch seinen eigenartigen, handgezeichneten Stil herausstechen könnte. Dementsprechend funktioniert die Progression im Spiel über sehr konventionelle Inventarrätsel, die sich jedoch durch Karls Leatherman-Cyberarm sehr organisch in die Welt integrieren. Damit lassen sich Slums navigieren, ohne die Involvierung zu brechen — goldene Paläste weniger. Wann immer Neofeud versucht, politisch relevant zu werden, bricht das eigensinnige Gerüst und die hakelige, altmodische P&C-Steuerung tritt eher störend in den Vordergrund, als dass sie Gewohnheit verschafft. Glücklicherweise navigiere ich Karl Carbon mehr als die Hälfte unserer gemeinsamen Zeit durch ebenjene Slums, weswegen ich meine Zeit mit Neofeud absolut nicht bereue. Ich würde mir gar ein komplettes Spiel im Stil von Coastlandias Sozialarbeitersetting wünschen. Hier hat Silver Spook über die Dialoge, die Lebensumstände der Charaktere und zu großen Teilen durch den farbenfrohen Zeichenstil sehr gute Arbeit geleistet.
Dass sich Neofeud so viel besser anfühlt, wenn es sich auf die Probleme einzelner Personen in Coastlandias Armenbezirken konzentriert, verwundert nicht mehr, wenn man den Hintergrund der Entwicklung kennt. Silver Spook alias Christian Kealoha Miller ist IT-Lehrer in Honolulu und hat seine Erfahrungen mit der Armutsschere Hawaiis in Neofeud verarbeitet. Obwohl er selbst auf eine wohlhabende Privatschule ging, wuchs er mit seinen Eltern größtenteils obdachlos auf, ein paradoxer Lebensumstand, der auf seine Schüler auch heute noch zuzutreffen scheint. Diese, wie Miller sie nennt, kafkaesquen Zustände haben sein Bild des fiktiven Mexicostaates Neofeuds geprägt. Leider findet sich hierauf kein Hinweis im Spiel selbst – ein Kommentarmodus wie in vielen Double Fine-Spielen hätte hier wahre Wunder gewirkt, die Botschaft des Spiels tatsächlich zu vermitteln. Tatsächlich finden sich die Hintergründe Millers und Neofeuds aber nur in den Pressemitteilungen des Spiels. Den meisten Spielern werden der autobiographische Hintergrund und das Aufmerksammachen auf reale Missstände also leider komplett entgehen, der schmutzige, scheinbar wie die Slums Coastlandias aus Einzelteilen zusammengesetzte Artstyle könnte viele sogar komplett abschrecken. Das ist schade; denn dort, wo sich Neofeud nicht an politischen Fettnäpfchen übernimmt, ist es ein erschreckend berührendes und lehrreiches Spiel.
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