Bevor Baldur’s Gate 3 im Early Access erschien, habe ich auf ein Spiel dieses Namens ehrlich gesagt nicht unbedingt sehnsüchtig gewartet. Die beiden Vorgänger – Baldur’s Gate (1998) und Baldur’s Gate 2 (2000) – waren zwar die ersten großen Rollenspiele, die ich je gespielt habe und die meinen Spielegeschmack und meine Erwartungshaltung an Rollenspiele sicher bis heute prägen. Die übergreifende Handlung der Reihe um die Kinder Bhaals schloss Bioware aber 2001 im Baldur’s-Gate-2-AddOn Thron des Bhaal ab, wenn auch etwas überhastet. Thron des Bhaal hätte ursprünglich ein eigenständiges drittes Spiel werden sollen, weshalb viele Fans bis heute von der Baldur’s Gate Trilogy sprechen, wenn sie die alten Spiele meinen.
Bioware, das Studio der Original-Trilogie, hat mit Dungeons & Dragons seit Jahren abgeschlossen und mit Dragon Age: Origins bereits vor mehr als zehn Jahren einen spirituellen Nachfolger der Baldur’s Gate-Reihe veröffentlicht. Das waren für Bioware noch goldene Zeiten. Inzwischen ist ungewiss, welche Richtung die weitere Entwicklung der Dragon-Age-Reihe und ihres bereits angekündigten vierten Teils nehmen wird, ganz zu schweigen von Bioware selbst. Mit David Gaider 2016, James Ohlen und Drew Karpyshyn 2018 und zuletzt Casey Hudson und Mark Darrah, um nur ein paar wenige Beispiele zu nennen, hat das Studio in den letzten Jahren viel Führungspersonal aus der goldenen Ära verloren. Die Doktoren und Firmengründer Ray Muzyka und Greg Zeschuk stiegen schon 2012 aus, fünf Jahre nach der Übernahme des Studios durch Electronic Arts.
Bleibt die Frage: Warum sollte ein neues Spiel in den Forgotten Realms, von einem anderen Entwickler und mit neuer Geschichte, unbedingt den Namen Baldur’s Gate tragen? Kann man einmal abgeschlossene Reihen, egal wie erfolgreich sie auch waren, nicht einfach in Frieden ruhen lassen? Anscheinend geht das nicht. Die durch Fallout, Icewind Dale und Planescape: Torment bekannten Black Isle Studios begannen schon 2003 mit der Arbeit an Baldur’s Gate III: The Black Hound mit neuer, unabhängiger Geschichte, wurden aber noch im selben Jahr aus finanziellen Gründen von Interplay geschlossen. Über die Jahre bemühten sich unter anderem Brian Fargo von inXile Entertainment und Feargus Urquhart von Obsidian Entertainment, die Rechte für die Produktion eines dritten Teils vom Eigentümer der Dungeons & Dragons-Lizenz Wizards of the Coast zu erhalten. Auch Beamdog, gegründet von Bioware-Mitbegründer Trent Oster, war interessiert. Es gelang schließlich Swen Vincke und den Larian Studios.
Auf der E3 2019 kündigten die Larian Studios mit einem spektakulären Trailer an, dass sie an Baldur’s Gate 3 arbeiten. Überzeugt hat mich das nicht. Ich fand die Gedankenschinder, die mit ihrem Tentakelraumschiff über die Stadt Baldur’s Gate fliegen, als Einstieg ehrlich gesagt zu dick aufgetragen. Zugegeben, ich dachte bei den Gedankenschindern in D&D nie: „Ach, wie cool!“ Mir waren sie immer zu sehr Lovecraft-Abklatsch. Darüber hinaus befürchtete ich, dass sich das neue Spiel eher an Larians eigener, äußerst erfolgreicher Divinity: Original Sin-Reihe orientieren würde als an den zwanzig Jahre alten Vorgängern.
Nach den ersten Erfahrungen im Early Access, das bisher rund zwanzig Spielstunden aus dem ersten Akt des fertigen Spiels umfasst, haben sich meine Befürchtungen teilweise bestätigt. Das Spiel startet hektisch, auf dem Nautiloid genannten Raumschiff der Gedankenschinder. Nach dem Tutorial schaltet BG3 aber erst einmal ein paar Gänge zurück und gibt mir genügend Raum, die Schwertküste zu erkunden. Experimentierfreude und Erkundungsdrang belohnt BG3 wie kaum ein anderes Spiel. Fast alle Quests, fast alle Orte lassen unterschiedliche Herangehensweisen zu, über Kampf, Dialog, kleine Rätsel oder alternative Wege auf der Karte. Diese unterschiedlichen Lösungen führen einen oft an Orte oder zu Story-Abschnitten, die einem vielleicht entgangen wären, hätte man anders entschieden. Hier entsteht echte Freude an Entdeckungen, denn wer nicht aufpasst und sich zu sehr darauf verlässt, mit traumwandlerischer Sicherheit von Questmarker zu Questmarker geleitet zu werden, kann eine Menge verpassen. Selbst wer achtgibt, findet vermutlich bei weitem nicht alles. Hier versteckt sich einfach zu viel für einen einzigen Spieldurchgang.
Trotz großer, zusammenhängender Karte im ersten Akt ist BG3 weit davon entfernt, eine wirkliche Open World zu sein. Die Abstände zwischen den einzelnen, für die Handlung relevanten Orten stimmen nicht. Es entsteht kein Gefühl von landschaftlicher Weite. Wenn die Späher von Fraktion A bisher erfolglos nach dem Stützpunkt von Fraktion B suchten, beide Fraktionen auf der Karte aber kaum 500 Meter voneinander entfernt sind und der Eingang des Stützpunktes ein riesiges, weithin sichtbares Tor ist, kratzt das schon ganz schön an meiner suspension of disbelief. Die Karte ist verschachtelt, mit vielen verschlungenen Wegen, wie um von dieser Tatsache abzulenken. Dennoch fühlt sich die Welt nach Vergnügungspark an, vollgestopft mit Attraktionen. Die Vorgänger mit ihren sehr viel kleineren Karten hatten dieses Problem paradoxerweise nicht. Fraktion A und B hätten hier sicher eigene Spielabschnitte gehabt, zwischen denen man auf der Weltkarte hätte reisen müssen. „8 Stunden Reisezeit“, schlicht als Text, aber immer mit der Möglichkeit, während der Reise von A nach B von Banditen oder Wildtieren überfallen zu werden, schufen die Illusion, die Spielwelt sei gigantisch.
Ähnlich ist mein Eindruck von der Story. Attraktionsüberladen, als hätte man alles, was an den Forgotten Realms cool ist, direkt in die ersten zwanzig Stunden packen wollen. Das geht mit den Gedankenschindern nur los. Auf weitere Beispiele verzichte ich, um Spoiler zu vermeiden, aber so manches, was den Spieler in der ursprünglichen Reihe erst nach vielen Dutzend Spielstunden oder sogar erst im zweiten Teil erwartet hat, entdecken wir hier im ersten Akt. Einerseits frage ich mich, wie Larian diese hohe Schlagzahl über das gesamte Spiel durchhalten will – Kudos, wenn sie das schaffen -, auf der anderen Seite fehlt mir aber auch schlicht die Bodenständigkeit. Einfach mal in ein normales Dorf mit normalen Leuten kommen und die Taverne besuchen. Mir fehlt der Kontrast zu all den Highlights.
Doch das ist Jammern auf hohem Niveau. Die Story zieht, das muss ich zugeben. Mysterien verlangen nach Aufklärung! Zu gerne wüsste ich nach dem Durchspielen des Early Access, wie es weitergeht. Auch wenn die Handlung 100 Jahre nach Baldur’s Gate 2 spielt: Dass sich eine Rückkehr in die titelgebende Stadt bereits andeutet, erfüllt mich trotz meiner Einlassungen zu Beginn dieses Artikels mit Freude und ich bin gespannt, welche Anknüpfungspunkte es an die alten Spiele geben wird.
Unsere Heldin und die möglichen Begleiterinnen und Begleiter, auf die man in dieser Art von Spiel zwangsläufig trifft, sind zu Beginn der Reise vor allem durch ihre Lage und nicht durch freiwillige Zusammenarbeit aneinander gebunden. Manche von ihnen würden sich unter normalen Umständen eher an die Gurgel gehen. Dass viele nicht unbedingt Sympathieträger sind, ist laut einem Interview mit Swen Vincke auch der Tatsache geschuldet, dass in diesem frühen Stadium nur die – nach dem Moral-Koordinatensystem von D&D – bösen und neutralen Begleiter im Spiel sind, während die Guten noch fehlen. Ich finde die Gruppendynamik allerdings schon jetzt gelungen und hoffe auf das Potenzial, dass dieser bunte Haufen im Verlauf des Abenteuers zu einer eingeschworenen Gemeinschaft zusammenwächst.
Ob man als Fan der Reihe mit den Entscheidungen hinsichtlich des Kampfsystems glücklich wird, hängt vor allem von den eigenen Präferenzen ab. Der größte und im offiziellen Forum zeitweise hitzig debattierte Unterschied zwischen BG3 und den Vorgängern: Während die Kämpfe in den Spielen von Bioware in Echtzeit abliefen und auf Knopfdruck pausiert werden konnten, um den bis zu sechs Gruppenmitgliedern neue Befehle zu geben, ist BG3 ein rundenbasiertes Spiel, in dem man höchstens mit einer Vierer-Gruppe unterwegs ist. Während der Arbeit an diesem Artikel habe ich zum Vergleich Baldur’s Gate auf der Switch gespielt, die komplette Passage vom Mantelwald bis ins letzte Kapitel. Die Echtzeit-Kämpfe sind chaotischer und die Positionierung der Charaktere schwieriger, weil sich außerhalb des Pause-Modus alle, auch die Gegner, gleichzeitig bewegen können. Man muss nicht bis zum nächsten Zug warten, um auf eine Bewegung des Gegners zu reagieren, man kann das sofort tun.
Das rundenbasierte Spiel ist sehr viel taktischer, fühlt sich bei Kämpfen mit vielen Gegnern aber träge an. Dadurch ändert sich, wie ich an das Spiel herangehe: Natürlich erledige ich nur die Anführer der Banditen, wenn sich das Spiel damit zufriedengibt. Das ganze Camp niedermachen zu wollen und dann warten zu müssen, bis sich zwanzig computergesteuerte Stufe-1-Luschen ihren Zug überlegt haben, bevor man selbst wieder aktiv werden darf – das probiere ich einmal und nie wieder.
Leichte Schwierigkeiten habe ich auch mit den Anleihen aus Larians eigener Divinity: Original Sin-Reihe. Eine erhöhte Position verschafft den Fernkämpfern zum Beispiel massive Vorteile, die so im D&D-System nicht vorgesehen sind. Praktischerweise gibt es bei jedem größeren Kampf auch genügend Möglichkeiten, sich in solche Positionen zu begeben. Manche Begegnungen werden dadurch so stark trivialisiert, dass sich die Taktik im Moment ziemlich cheesy anfühlt.
Klar sind aber zwei Dinge: Erstens ist der Early Access nicht fertig ausbalanciert und solche Dinge können sich bis zum Release noch ändern. Teilweise tun sie es bereits, während ich diesen Artikel schreibe und Patch 3 erscheint. Zweitens wird es schlicht unmöglich sein, alle Fans zufriedenzustellen, von Larians eigener D:OS-Community über die 5th Edition D&D-Tabletop-Spieler bis hin zu den Hardcore-BG-Fans, die BG2 noch heute zwei Mal im Jahr komplett durchspielen. Dafür sind die Ansprüche einfach zu verschieden.
Es gibt einiges, was ich sonst noch bemängeln könnte. Die Kamerasteuerung zum Beispiel finde ich furchbar hakelig. Auf Konsolen wäre das kein Problem, dort habe ich den linken Analogstick zum Laufen und den rechten Stick für die Kamera. Auf dem PC bin ich mit der Maus und gedrücktem Mausrad ständig am Nachjustieren. Daran habe ich mich in zwanzig Stunden nicht gewöhnt. Das konnte Dragon Age: Origins 2009 schon besser. Es ist aber halt Early Access und dort wird das Spiel auch etwa ein Jahr bleiben. Viele dieser Probleme werden bis zum Release hoffentlich behoben sein.
Wenn die Neugier nicht zu groß ist, würde ich deshalb auch raten, mit dem Spielen bis zum Release zu warten. Der Early Access kostet bereits jetzt Vollpreis. Das verstehe ich durchaus, denn man möchte ja ernsthaft Interessierte anlocken, nicht Schnäppchenjäger. Allerdings enthält das Spiel bisher nur den ersten von voraussichtlich drei Akten und Larian hat nicht nur angekündigt, vor dem Release die Spielstände zurücksetzen zu wollen, sondern das mit dem aktuellen Patch 3 auch zum ersten Mal getan. Dass die übrigen Akte nach bisherigem Stand erst in der Vollversion verfügbar gemacht werden sollen, ist eine Entscheidung, die ich nur begrenzt nachvollziehen kann. Ich befürchte deshalb vermeidbare Bugs und Balancing-Probleme im späteren Spielverlauf und überlege, ob ich nicht wie bei Divinity: Original Sin auf eine Enhanced Definitive Complete Edition, oder wie immer sie dann heißen wird, warten sollte, bevor ich mich ins Vergnügen stürze.
1 Kommentar
Danke, guter Einblick. Ich habe in den 90ern BG2 angespielt, bin aber damit nie warm geworden. Und gerade erst nicht richtig in D:OS2 reingekommen. Aber ich kann leider nicht behaupten, dass mich die D&D-Basis und die Spielwelt von BG3 nicht reizen würden.