Edmonton, 2004. “Wir legen die Story für eine Trilogie an und brauchen deshalb die besten Autoren, die die Firma zu bieten hat. Wenn wir die Geschichte schon im ersten Teil versemmeln, sind die Verkaufszahlen von gleich drei Spielen im Arsch”, so Produzent A. Darauf Produzent B: “Aber wir arbeiten auch an einer Franch…” – “…an einem potentiellen Baldur’s-Gate-Nachfolger. Da hatte schon die Vorlage keine ernstzunehmende Story.” B, am Boden, flehend: “Dann lasst uns wenigstens die Interface-Designer!”
So geschah es. Dragon Age: Origins krankt an einer Haupthandlung, wie sie vorhersehbarer kaum hätte sein können, hat aber gleichzeitig ein Interface, das Spielgefühl und -komfort der alten Infinity-Engine hervorragend in moderne 3D-Welten transportiert. Eine große Leistung, insbesondere wenn man bedenkt, wieviele Spiele an dieser Aufgabe bereits gescheitert sind. Ja, ich schaue dich an, Neverwinter Nights! Und dich, Drakensang!
Mass Effect dagegen wartet mit einer Geschichte auf, die nicht nur in einem Drittel der Zeit ungefähr das Fünffache an Storywendungen unterbringt, es inszeniert sie auch wesentlich besser. Mass Effect ist großartig – zumindest solange man nicht in die Tiefen des Inventars oder des Charakterbildschirms hinabsteigt. Die wirken nämlich so, als hätte jemand im Großen Buch des Interfacedesigns das Kapitel “Don’t do this!” aufgeschlagen und jeden Punkt dort abgearbeitet: Inkonsistente Tastenbelegungen, wenig aussagekräftige Symbole – Check! Schlechte Ausnutzung des Platzes auf dem Bildschirm durch ungeschickte, teils verwirrende Anordnung der Bedienelemente – Check! Weglassen von wichtigen Informationen, um unwichtige Infos auf dem gleichen Bildschirm mindestens fünfmal anzuzeigen – check! Ich könnte das seitenlang fortsetzen. Muss ich zum Glück nicht, denn Krystian Majewski hat sich auf Game Design Reviews mit der Thematik schon ausführlich beschäftigt.
Charakterbildschirm und HUD wurden in Mass Effect 2 marginal überarbeitet; die großen Probleme mit dem Inventar hat man “gelöst”, indem man es komplett gestrichen hat. Ich persönlich habe nichts vermisst. Dass man mehr Zeit in der Spielwelt und weniger Zeit in Menüs verbringt, macht das Spiel deutlich stringenter. “Hätte man das Inventar nicht einfach verbessern können”, fragen nun Puristen, “anstatt es komplett zu streichen?”
Nein, hätte man nicht.
Gut, theoretisch hätte man schon, nur praktisch wäre das Team dazu kaum in der Lage gewesen. Besonders schön sieht man das an den Elementen, die in Mass Effect 2 neu hinzugekommen sind, wie beispielsweise den Upgrade-Terminals in Mordins Labor (siehe obigen Screenshot). Die einzelnen Listenelemente sind ausladend und verschenken massiv Platz, was dazu führt, dass man nur einen Bruchteil der fast 50 Upgrades umfassenden Liste gleichzeitig auf dem Schirm hat. Die Möglichkeit, durch Untermenüs oder gar ein Baumdiagramm Struktur zu schaffen, hat man nicht wahrgenommen, weil mehr als eine einfache Liste wahrscheinlich zu viel Arbeit bedeutet hätte. Zu allem Überfluss sortiert man diese dann auch noch alphabetisch statt nach Funktion, so dass man als Spieler wirklich überhaupt nichts mehr findet.
Zeit für was Positives.
Das Kampfsystem wurde deutlich verbessert. Okay, die Balken mit der Lebensenergie hätte man nicht komplett streichen müssen; die prozentualen, schwer vergleichbaren Anzeigen im Vorgänger waren nur einfach die dämlichstmögliche Art, Healthbars umzusetz… Kruzifix! Nochmal:
Das Kampfsystem wurde deutlich verbessert. Dass man die Munitionsart jetzt wählen kann, ohne das Spiel zu pausieren, ist gut. Dass einem auch mal die Magazine ausgehen und man deshalb zwischen den Waffen wechseln muss, ist gut. Sonst würde ich nämlich nur noch mit dem Scharfschützengewehr herumrennen und jeden einzelnen Gegner im Spiel per Kopfschuss töten. Das ist – zumindest am PC – derart einfach. Zeit verlangsamen, Waffe grob in die richtige Richtung halten, fertig. Präzision oder Timing kann man von Rollenspielern schließlich nicht verlangen. Taktische Vorgehensweise dagegen könnte man verlangen, tut man aber nicht. Mit einer einmal eingespielten Taktik kommt man, von wenigen Ausnahmen abgesehen, durch das ganze Spiel. Zwischengegner wie der Dreschschlund sind selten und wirken uninspiriert. Dragon Age: Origins leiht, was Bosse angeht, wenigstens noch einigermaßen geschickt bei World of Warcraft, doch Mass Effect 2 versucht nicht einmal das.
Was soll’s, die Geschichte ist echt gut.
2 Kommentare
[b]Rückrufaktion[/b]
Bei einem Teil der heute an unsere Leser ausgelieferten Texte ist es zu einem Fehler im vorletzten Absatz gekommen. Entgegen den dortigen Behauptungen ist die Lebensenergieanzeige in Mass Effect 2 [i]vorhanden und voll funktionsfähig[/i].
Das Problem ist auf das aktuelle Modell [i]”Mass Effect, technisch betrachtet”[/i] beschränkt. Ältere Texte von Polyneux sind davon nicht betroffen.
Wir bedauern den Fehler außerordentlich. Die Sicherheit unserer Kunden hat für Polyneux höchste Priorität.
Die direkte Gegenüberstellung von DA:O und ME ist wirklich interessant: Das eine ist ein relativ erdiges RPG ohne Story- oder Inszenierungshighlights, das andere das genaue Gegenteil. Beide BioWare-Teams hätten zusammen vielleicht das ultimative “Story-RPG” erschaffen können…
Das war aber wahrscheinlich gar nicht das Ziel, weil beide Spiele deutlich auf unterschiedliches Publikum abzielen. ME wurde ganz sicher mit Absicht als RPG-Leichtgewicht konzipiert, weil so weniger “Hürden” zwischen dem Spieler und der filmartigen Erfahrung stehen. Das Problem von klassischen RPGs ist ja oft, dass man mehr Zeit im Inventar- und Charakter-Menü verbringt als sonst irgendwo. Dadurch kann ein Spiel wie ME kaum noch funktionieren, weil man ständig aus dem Handlungsfluss herausgerissen würde.
Da beim Versuch eines 50/50-Kompromisses zwischen beiden Lagern (Handlung/RPG-Spielmechanik) eine relativ große Chance besteht, es am Ende keinem so richtig Recht zu machen, ist die Entscheidung seitens BioWare, beide Linien mit unterschiedlichen Spielen zu bedienen, durchaus nachvollziehbar.