Zehn Jahre. Zehn verdammte Jahre ist es her, dass mit Inquisition der bis dato letzte Dragon-Age-Teil erschienen ist. Initial wurde das Spiel von Kritiker:innen positiv aufgenommen, aber über die Jahre hat es eine Neubewertung erfahren: Zu viele Fetch Quests, lahmes Writing, insgesamt eher langweilig. Mit 12 Millionen verkauften Exemplaren war der kommerzielle Erfolg allerdings gegeben, was eine Fortsetzung unumgänglich machte. Allerdings schien eine Neuausrichtung angezeigt, nicht nur wegen der Kritik am Vorgänger.
Und so sollte aus Dragon Age laut früheren Plänen ein Online-Service-Game werden. Und warum auch nicht? Einer altehrwürdigen RPG-Reihe, die ursprünglich sogar auf ein rundenbasiertes Kampfsystem setzte, kann nichts Besseres passieren, als im großen Häcksler der Videospielindustrie zu einem Always-On-Microtransaction-Pay-to-win-Spektakel verwurstet zu werden. Das scheint zumindest die Überzeugung der Herren (bewusst nicht gegendert) zu sein, die bei den Publishern in den oberen Etagen sitzen. Aber zum Glück haben sich die Schlipsträger nicht durchsetzen können und Dragon Age: The Veilguard ist das geworden, was sich Fans der Reihe erhofft haben dürften: Ein fettes, storygetriebenes Single-Player-Rollenspiel mit einer großen Welt, in der ich vielleicht nicht auf jeden Berg steigen kann, den ich am Horizont sehe, aber trotzdem Stunden um Stunden Neues entdecke. Aber Moment mal. Am Ende ist das doch immer noch ein von EA veröffentlichtes Spiel, kann das alles Gold sein, was glänzt? Gucken wir uns die Sache näher an.
The Veilguard startet buchstäblich mit einem Knall. Solas, einer unserer Begleiter in Inquisition, der sich später als alter Elfen-Gott entpuppte, will in einem Ritual die Grenze zwischen Traum- und echter Welt einreißen. Er hatte diese “the Veil” genannte Grenze einst selbst installiert, um übermächtige BÖSE Götterkolleg:innen einzuhegen, die das Elfenvolk versklaven wollten. Das hat so weit funktioniert, allerdings verloren damit die Elfen ihre Unsterblichkeit und hatten für Jahrhunderte eine insgesamt weniger geile Zeit. Deshalb möchte er diesen Fehler nun korrigieren. Ein ärgerlicher Nebenaspekt des Rituals ist allerdings, dass es unzähligen Bewohner:innen der Welt Thedas den Tod bescheren würde. Das können wir natürlich nicht hinnehmen und schicken uns in der Rolle der Hauptfigur Rook an, dies zu verhindern. Selbstverständlich läuft das alles nicht so gut, wie wir es gerne hätten. Das Ritual scheitert auf spektakuläre Art und Weise. Zwar bleibt die Riesenkatastrophe aus, aber leider werden die alten Saugötter befreit und schicken sich an, die Welt zu unterjochen. Schöne Scheiße.
Diese aus den Trailern bekannten Szenen setzen den Ton des Spiels: Es wird laut, es wird wild, es wird groß. The Veilguard schlägt gelegentlich auch leisere Töne an, ist aber oft Spektakel. Das wird Anhänger:innen des ersten Teils vermutlich nicht schmecken, aber es ist eine folgerichtige Konsequenz aus der Entwicklung, die Bioware spätestens mit Mass Effect 2 eingeschlagen hat. Die Echtzeitkämpfe knallen, die Erzählung ist eine Achterbahnfahrt und die Präsentation bläst uns aus den Sitzen. Allerdings ist The Veilguard mehr als reine Popcornunterhaltung. Während die ersten Stunden sich noch nach einer stark geführten Erfahrung anfühlen, öffnet sich das Spiel später immer weiter. Der Komplexitätsgrad von Genre-Granaten wie Baldur’s Gate 3 wird selbstverständlich nie erreicht, aber es offenbart sich mehr Tiefe, als anfangs anzunehmen ist.
So ist das Kampfsystem auf den ersten Blick simpel. Wir haben einen leichten und einen schweren Angriff sowie ein paar Special Moves. Durch Levelaufstiege schalten wir Kombos und weitere Attacken frei, die uns weitere Möglichkeiten eröffnen. Hinzu kommen die Spezialangriffe unserer Begleiter:innen, die für sich genommen schon ordentlich Schaden anrichten, aber ihre richtige Wirkung erst in Kombination mit anderen Superattacken entfalten. Das Levelsystem ist dabei angenehm flexibel und wir können jederzeit alle Erfahrungspunkte neu verteilen, was zum Experimentieren mit verschiedenen Fähigkeitenkombinationen einlädt. Um den Attacken noch mehr Wumms zu geben, kann die Ausrüstung gelevelt werden, wofür es Rohstoffe braucht, die wir in der Spielwelt finden und bei Händlern kaufen können. Und spätestens wenn wir uns in die Schlacht mit den titelgebenden Drachen stürzen, freuen wir uns über jeden Buff und Bonus.
Das Leveln unsere:r Protagonist:in erfolgt klassisch über XP, die wir durch Kämpfe und Quests generieren. Unsere Mitstreiter:innen erzielen Stufenaufstiege aber über deren Verbindung zu unserer Spielfigur. Je häufiger wir sie mitnehmen und in Nebenquests unterstützen, desto stärker werden sie. Das birgt die Gefahr, dass nur die eigenen Favorit:innen leveln und der Rest zurückbleibt. Das wird allerdings durch charakterspezifische Quests einigermaßen ausgeglichen. Obendrauf gibt es noch das für BioWare typische Beziehungssystem. Wenn Mitstreiterinnen uns gar nicht mögen, stehen diese unter Umständen zeitweise nicht mehr zur Verfügung. Selbstverständlich können wir uns auch wieder auf Romanzen einlassen. Dieses Mal steckt allerdings ein bisschen mehr bzw. etwas anderes dahinter als das übliche „dreimal nett sein und ab in die Kiste“. Insgesamt werden gerade die weiblich gelesenen Figuren nicht mehr so stark sexualisiert, wie das in früheren Teilen der Reihe der Fall war. Eine erfreuliche Entwicklung.
Eine weitere positive Veränderung im Vergleich zum Vorgänger sind die Nebenquests in The Veilguard. Vorbei sind die Zeiten, in denen wir bis zum Erbrechen hin und her rannten, um irgendwelche Kräuter aufzusammeln. Mechanisch sind diese kleineren Aufgaben zwar nicht immer herausfordernd oder originell, aber dafür oft abwechslungsreich und narrativ schön eingebunden. Das hat zur Folge, dass sie sich nicht nach Arbeit anfühlen, sondern uns noch mehr an der Welt des Spiels teilhaben lassen. So lernen wir mehr über die Geschichte von Thedas, erleben kleine Horrorstories oder hören von den tragischen und komischen Schicksalen mehr oder weniger wichtiger Figuren. Die Quests unserer Kompagnons wiederum liefern uns Details über deren Hintergrund und Gefühlswelt. Wenn wir diese abschließen, gibt es am Ende noch eine Extrafähigkeit und einen besonderen Ausrüstungsgegenstand als Bonus. Juhu!
Auch die Hauptstory selbst bleibt bis zum Schluss interessant. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt habe ich das Spiel noch nicht GANZ durch, stehe aber kurz vor dem Ende. Und auch nach über 90 Stunden freue ich mich immer wieder, wenn ich Zeit habe, noch etwas weiterzuspielen. Einerseits ist es toll, so in einer Welt versinken zu können, andererseits ist die Länge des Spiels mein größter Kritikpunkt. Für viele ist es immer noch ein Qualitätsmerkmal, wenn ein RPG die 100-Stunden-Marke knackt. Ich habe aber leider noch andere Sachen zu tun und möchte nicht zuletzt auch noch weitere Spiele spielen, weshalb mich so ein Umfang eher abschreckt. Aber ein-, zweimal im Jahr halte ich das schon aus, gerade wenn es sich um so einen Kracher handelt
Schon im Vorfeld wurde Kritik am comichaften Grafikstil geübt, der manche sogar zu Fortnitevergleichen hinriss. Auch ich war zu Beginn skeptisch, wurde aber beim Spielen schnell warm damit. Tatsächlich empfinde ich die stilisierten Gesichter inzwischen sogar immersionsfördernd, da sie mich nicht durch einen vergeigten Realismus auf die Schussfahrt ins Uncanny Valley schicken. Darüber hinaus sind die Umgebungen eine wahre Pracht und haben in ihrem Abwechslungsreichtum und Detailgrad einen hohen Wiedererkennungswert. Hier wirkt alles handgemacht und es ist eine wahre Freude, einfach nur durch die Landschaft zu latschen. Dass praktisch hinter jeder Ecke Schatztruhen, Rohstoffe, Goldmünzen, Schreine usw. warten, steigert die ohnehin hohe Motivation zum Erkunden noch weiter. Ach ja, dass The Veilguard Opfer massiven Review-Bombings von kleinen Kellerwichsern war, die sich eine “woke Agenda” zusammen fantasieren und jedes Medium für ihren rechtsradikalen Kulturkampf instrumentalisieren, sei hier nur am Rande erwähnt. Die sollen bitte einfach irgendwelchen reaktionären Scheiß von Vorgestern spielen und die Fresse halten. Bussi.
Ihr merkt, dass es sich bei The Veilguard um eines meiner diesjährigen Highlights handelt. Auch wenn ich dem Ende entgegenfiebre, will ich eigentlich nicht, dass es aufhört. Ein Teil von mir möchte sich einfach nicht von der Welt und den Figuren verabschieden, die mir jetzt schon seit ein paar Wochen eine sehr gute Zeit bescheren. Aber alle schönen Dinge müssen zu Ende gehen, genau wie dieser Text. Und so bleibe ich allein mit der Frage zurück, ob es dieses fantastische Spiel in diesem überraschend starken Jahr auf mein Treppchen schafft. Oder wird es gar mein Spiel des Jahres?! Wer das genau wissen will, muss sich wohl oder übel gedulden, bis Ende des Jahres unser Polyreuxblick erscheint. Bis dahin bleibt gut gelaunt und spielt The Veilguard. Es lohnt sich!
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