Half-Life 2 ist, entgegen meiner Erwartung, ein großartiges Spiel geworden. Ja, es ist vielleicht sogar der beste Shooter des Jahres. Vielleicht…
Allerdings kann ich die grenzenlos überschwängliche Berichterstattung über dieses Spiel ganz und gar nicht teilen. Half-Life 2 ist nicht fehlerlos oder gar perfekt! Auch wenn mir Gespräche mit anderen Spielern schon deutlich gezeigt haben, dass man schnell als Spielverderber gebrandmarkt wird, wenn man nicht in diesen allgemeinen Begeisterungstaumel verfällt, dem die gesamte Fachpresse und auch viele Käufer derzeit größtenteils erlegen sind, werde ich einmal versuchen etwas journalistisch äußerst Wichtiges zu tun: Auf dem Teppich bleiben!
Allein das Thema STEAM lässt ein vorbehaltloses Hochjubeln des Spiels gar nicht zu. Da inzwischen diverse Online-Kolumnisten den Vertriebsdienst von Valve dazu benutzt haben, ihrer ebenso fragwürdigen Polemik freien Lauf zu lassen, erspare ich Euch einen weiteren Aufriss des ganzen. Dennoch empfinde auch ich STEAM als eine Unverschämtheit, die zudem auf rechtlich sehr fragwürdigen Füßen steht:
Warum darf ich mein HL2 nach dem Durchspielen nicht weiterverkaufen? Was mache ich, wenn ich HL2 in 5 Jahren mal wieder spielen möchte, aber Valve inzwischen Pleite gegangen ist? Was macht Vater Maier, wenn er zuhause feststellt, dass sein Analog-Modem erst einmal eine halbe Nacht Daten herunterladen muss, bevor er spielen kann? Selbst mit einem DSL-Zugang vergingen bei mir fast 90 Minuten vom ersten Einlegen der DVD bis zum ersten Spielstart (am 2. Tag nach dem Release). Auf diese Weise wurde meine Vorfreude schon vorm Spielen extrem gedämpft. Und wozu das alles? Zumindest aus kopierschutztechnischer Sicht ist dieser ganze Aufwand ohne jede Wirkung geblieben, denn lauffähige Raubkopien von Half-Life 2 gab es im Netz schon einen Tag nach dem Release. Vermutlich liegt das Hauptinteresse von Valve ohnehin eher im STEAM-Direktmarketing, denn so können sowohl Publisher als auch Groß- und Einzelhandel teilweise umgangen werden.
Aber genug davon. Kommen wir zum eigentlichen Spiel!
Ich gehe einfach mal davon aus, dass jeder von Euch schon unzählige Super-Duper-Reviews zu Half-Life 2 gelesen hat. Unter dieser Voraussetzung kann ich mich auf die Punkte beschränken, die mich am großen HL2-Hype am meisten stören. Wer eher daran interessiert ist, wie sich HL2 denn nun spielt und anfühlt, dem sei der sehr gute HL2-Review Mit der Brechstange von SpielerEins empfohlen!
(Für jene unter Euch, die es noch nicht selbst herausgefunden haben: Die lustigen bunten Kästchen unter meinem Namen bringen Euch zu den anderen drei Junkies, die an diesem Projekt beteiligt sind.)
Die geilste Grafik-Engine ever!
Die Source-Engine ist mitnichten das geilste, was ich bisher gesehen habe! Far Cry hat die schöneren Außenlevel bei höherer Sichtweite und lebendigerer Spielwelt. Doom 3 besitzt die bei weitem schöneren Innenlevel und Special-FX. Beide Engines sind der Source-Engine technisch leicht überlegen, obwohl sie etwas älter sind. Vampire – Bloodlines und CS:Source zeigen zudem, dass HL2 auch schon das mit dieser Engine maximal mögliche zeigt, denn obwohl beide Spiele die Source-Engine nutzen, sehen sie eher durchschnittlich aus. Vampire Bloodlines wirklich viele Qualitäten, aber die Grafik gehört ganz sicher nicht dazu.
Für Besitzer von NVidia-Karten (speziell der FX5900/5800-Serien) stellt sich zudem die Frage, was sich Valve dabei gedacht hat, ihnen den DX9-Support aufgrund der Partnerschaft mit ATI absichtlich vorzuenthalten. Findige Tüftler haben inzwischen das nachgewiesen, was ich mir schon lange gedacht habe: Tarnt man z.B. eine FX5950 Ultra als Radeon9800Pro, so laufen auch plötzlich die DX9-Effekte tadellos!
Auch wenn mich die Grafik im Allgemeinen nicht zum Sabbern gebracht hat, so ist die Charakteranimation der Engine schon ein echter Hingucker. Die Mimik der Gesichter ist wirklich beeindruckend und sucht Ihresgleichen.
Alles in allem macht HL2 grafisch wirklich einen sehr guten Eindruck. Ein allgemeines Aha-Erlebnis, wie ich es beispielweise bei Far Cry hatte, wollte sich bei mir aber einfach nicht einstellen…
Der Sountrack ist heiss!
Zumindest wenn man auf das getriggerte Abspielen von 08/15-Techno-Ambient-Industrial-Tracks steht, die zu keinem Zeitpunkt ins Spielgeschehen passen, geschweige denn dynamisch angepasst werden. Die deutsche Synchronisation ist so schlecht, dass ich schon nach zwei Dialogen sofort wieder das Spiel verlassen habe, um auf den (guten) englischen Originalton umzuschalten. Warum wird ein vermeintlicher Hittitel wie dieser auf dem gleichen Niveau synchronisiert wie z.B. das Big Brother-Spiel? Gordon ist wie schon im ersten Teil stumm (was es mir persönlich immer etwas schwer gemacht hat, ihn zu mögen; dann doch lieber wenigstens Sprüche á la “Hail to the king!”). Die eigentliche Umgebungssoundkulisse ist nicht zu beanstanden, bietet aber auch nichts Außergewöhnliches. Waffengeräusche und sonstige Sounds sind unauffällig…
Die Musikuntermalung wirkt allerdings extrem aufgepfropft und vermittelt insgesamt den Eindruck, als wäre sie in letzter Minute dazugeklatscht worden, weil Valve erst kurz vor dem Mastern des Gold-Rohlings aufgefallen ist, dass man ja noch Musik braucht…
Die Tracks sind extrem plump getriggert. Sie laufen dann, einmal ausgelöst, stumpf durch, auch wenn die Spielsituation sich unter Umständen ganz anders entwickelt. Ist ein Kampf länger als der entsprechende Track, so spielt man irgendwann einfach ohne Musik weiter, weil die Tracks nicht einmal loopfähig sind…
Dynamische Anpassung des Soundtracks an das Spielgeschehen sowie professionelle Ausführung in der Komposition und Produktion sind Gott sei Dank seit Jahren Standards im Spielebereich. HL2 erfüllt diese Standards allerdings überhaupt nicht. Ist das wirklich der Stoff, aus dem Spiele jenseits der 90%-Wertung gemacht sind…?
Die Physik-Engine ist der Hammer!
Nicht wirklich, es sei denn man hat noch nie ein Spiel mit der HAVOC-Engine gespielt, denn nichts anderes beinhaltet Half-Life 2. Auch hier habe ich beim Lesen von vielen Reviews wirklich nur noch mit dem Kopf schütteln können. Da verwechseln einige Redakteure meiner Meinung nach etwas Grundlegendes: Die Physik-Engine von Far Cry ist in meinen Augen derzeit die mit Abstand beste am Markt! Die HAVOC-Engine ist hingegen seit Jahren die Standard-Physik-Engine in unzähligen Spielen, mehr nicht. Einzig die Tatsache, wie die Physik in HL2 für Puzzles benutzt wird ist eine tolle Sache. Auch die Gravity-Gun ist in diesem Zusammenhang ein cooler Einfall. Aber neu oder gar überragend ist in Punkto Physik rein gar nichts in HL2!
Wahnsinns KI!
Stimmt, die KI in HL2 hat mich wahnsinnig gemacht! Prinzipiell ist die KI der NPCs in Half-Life 2 wirklich gelungen, aber diese idiotischen Rebellen, die einem über weite Teile des Spiels zur Seite stehen, sind in ihrem Verhalten ein absolutes Ärgernis (worauf auch Kollege SpielerEins schon dezent hingewiesen hat). Ich habe irgendwann aufgehört zu zählen, wie oft ich durch meine „Helfer” gestorben bin oder einfach nur meine Zeit unnötig verschwendet habe. Ein kleiner Ausfallschritt in einen Gang, um eine Granate Richtung Gegner zu schleudern erwies sich oft als tödliche Falle, da ich nicht wieder in Deckung gehen konnte, weil diese virtuellen Deppen mir den Rückweg versperrten. Auch das Durchqueren eines engen Flures oder Treppenhauses kann in HL2 schon einmal mit einer an die Wand geworfenen Maus enden…
Die KI ist keinesfalls vermurkst, aber warum die Teammitglieder ständig das Bedürfnis haben, möglichst dicht an meinem Hintern zu schnüffeln, weiß wohl nur der Verantwortliche bei Valve…
Die Spielzeit ist überdurchschnittlich hoch!
Ja, aber nur wenn man sich schon an den neuen Shooter-Spielzeit-Durchschnitt der letzten 2 Jahre gewöhnt hat, der kaum noch über 10 Stunden liegt. Ich hatte HL2 in drei Abenden durch, was etwa einer Spielzeit von 15-20 Stunden entspricht. Das ist zugegebenermaßen länger, als man für die meisten anderen Shooter der letzten Jahre brauchte (Unreal 2 konnte man z.B. locker in 6-8 Stunden durchzocken), aber trotzdem weit unter der Zeit, die ich mit Far Cry und Doom 3 verbracht habe, welche beide jeweils weit über 20 Stunden meines Lebens gefressen haben.
Sind wir schon auf dem Niveau angelangt, dass wir uns so sehr an fallende Standards gewöhnt haben, dass wir gleich vor Freude ausflippen müssen, wenn mal wieder etwas solides geboten wird? Das erinnert mich an den Spruch „In Afrika hungern die Kinder!”, wenn ein Kind nicht essen will, weil Muttern nie richtig kochen gelernt hat…
Mann, was für eine coole Geschichte!
Ja, die Story von Half-Life 2 ist schon toll! – Toll löchrig! Sie ist so voller Löcher, dass am Ende gar keine Geschichte mehr übrig bleibt…
Sogar den größten Akte-X-Fanatikern dürfte am Ende des Spiels das Entsetzen im Gesicht stehen, denn was anfangs noch wie ein geschickter Spannungsbogen wirkt, entpuppt sich spätestens nach Betrachten der Endsequenz als riesige Luftblase. Während des Spiels denkt man die ganze Zeit, dass die dürftigen und teilweise sinnlosen Informationshäppchen sich schon irgendwann zu einem Ganzen zusammenfügen werden. „Irgendwann kurz vor dem Finale erklärt mir der Oberbösewicht bestimmt in bester Bond-Manier seinen ganzen Plan und wie es überhaupt zu dem ganzen Szenario kam. Da bin ich ganz zuversichtlich!” – Nein, tut er nicht! Und die Story funktioniert auch nicht auf einer Silent Hill-Ebene, wo dem Spieler absichtlich Spielraum für Fantasie und Spekulation gelassen wird. HL2 besitzt im Grunde rein gar nichts, was man als Geschichte durchgehen lassen könnte. Je weiter ich mich dem Showdown näherte, desto stärker wurde das Gefühl, hier ein zweites Unreal 2 zu spielen, bei dem storymäßig auch eigentlich gar nichts Sinn machte und lediglich dazu diente, die verschiedenen Locations einer gigantischen Grafikdemo aneinander zu kleben.
Wenn ich nun einmal nicht Far Cry, UT2004 und Doom 3 als Vergleiche heranziehe, sondern das fantastische Original-Half-Life, dann komme ich auch zu einem ähnlichen Schluss wie damals bei Unreal 2: Ein würdiger Nachfolger ist dies definitiv nicht!
Half-Life war seinerzeit ein Meilenstein, weil es der erste Shooter war, der auf filmähnliche Weise eine Geschichte zu erzählen wusste und so dem ganzen Genre entscheidende neue Impulse gab; ähnlich Deus Ex, welches plötzlich offen für alternative Handlungen war und Charakterentwicklung als wesentliches Element einführte.
Diese herausragende Eigenschaft des Vorgängers tritt HL2 mit Füßen, was auch mein größter Kritikpunkt an diesem umjubelten Über-Spiel ist!
In diesem Spiel ist einfach alles super!
Nun, einige Dinge in Half-Life 2 sind wirklich sehr gut. So ist trotz der nicht vorhandenen Story ein sehr hohes Maß an atmosphärischer Dichte zu attestieren! Das Mittendrin-Gefühl wird über weite Strecken sehr gut herübergebracht. Ebenso ist das Level-Design in meinen Augen sehr gelungen. Die Abschnitte, in denen man Fahrzeuge steuert, sind für meinen Geschmack etwas zu lang, ebenso die Müll-Puzzelei am Strand. Aber Einfälle wie das Buggy-Kran-Puzzle oder die Monsterkrabben, die mir wie ein Rudel Wölfe gehorchen, sind Gold wert! Zudem fügen sich wirklich alle Abschnitte sehr gut zusammen, so dass es nie Ungereimtheiten in der Spielwelt gibt.
Spielerisch ist HL2 einer der abwechslungsreichsten Shooter überhaupt. Die gelungene Mischung aus schöner Grafik, Action, Atmosphäre und intelligenter Knobelei macht es zu einem Spiel, das niemand verpassen sollte!
Wie eingangs erwähnt, ist HL2 auf jeden Fall ein klasse Spiel. Warum sich die Mehrheit der Fachpresse allerdings zu einem Feuerwerk der Superlative hinreißen lässt, ist mir ein Rätsel. Da geben einige Magazine die höchste Wertung, die ein Spiel jemals bekommen hat. Wie kann so etwas sein? Half-Life 2 hat durchaus einige Punkte, die kritikwürdig sind. STEAM ist eine einzige Unverschämtheit am Kunden und diese Karikatur von einer Hintergrundstory ist in Anbetracht des Vorgängers geradezu unverzeihlich!
Das stinkt zwar auf den ersten Blick nach Artikel-Kauf und Absprache, muss aber nicht unbedingt wirklich der Fall sein. Vielleicht ist es einfach die Tatsache, dass viele Leute im Vorfeld nicht mehr wirklich mit einem Hammer gerechnet hatten und dann mehr als positiv vom Spiel überrascht wurden. Mir ging es zumindest teilweise so. Nach diversen Verschiebungen und der mehr als ominösen Geschichte vom Datenklau im Valve-Firmennetz stand der Erwartungshorizont verständlicherweise nicht mehr besonders hoch. Und mal ehrlich: Wer soll denn bitte schön glauben, dass eine Firma, die so etwas wie STEAM an den Start bringt, das eigene Firmennetz gegen Hackerangriffe offen stehen lässt…?
Anyway, ich wollte hier lediglich einmal klarstellen, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Ich kann den Medienhype der letzten Wochen einfach nicht so stehen lassen. Half-Life 2 ist ein sehr gutes Spiel, das aber auch einige derbe Mängel aufweist und deshalb alles andere als der beste Shooter aller Zeit ist. Es steht ohne Zweifel mit den anderen Referenz-Shootern der letzten 12 Monate auf einer Stufe, mehr aber auch nicht. In einigen Punkten ist es der Konkurrenz sogar klar unterlegen.
So, da bin ich ja mal sehr auf Eure Kommentare gespannt, denn der Hype um HL2 hat sich ja bei vielen Leuten schon als Ideologie verfestigt.
Beschimpft mich, schlagt mich, gebt mir Tiernamen…
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