Eine meiner extravaganteren Spiele-Obszessionen ist wohl eindeutig die japanische Shin Megami Tensei-Reihe. Das wird den meisten schon nichts sagen, die Namen der Subreihen wie Persona, Devil Summoner oder Digital Devil Saga dann schon eher. Mein Interesse geweckt hat damals der GameOne-Beitrag zum Release von Persona 3 auf der PlayStation 2. Gekauft habe ich mir das Spiel damals aber noch nicht, obwohl ich die entsprechende Konsole besaß. Zu sehr habe ich mich von der Schrägheit des Konzepts Social Sim + Dungeon Crawler abschrecken lassen, und zu sehr habe ich den GameOne-Leuten in ihrem Urteil vertraut, das Dungeon Crawling wäre zu eintönig. Erst mit dem Release von Persona 4, ebenfalls bei GameOne in einem Videobeitrag vorgestellt, habe ich mich an die Serie gewagt. Und seitdem hänge ich an der Shin Megami Tensei-Reihe und insbesondere an der Persona-Serie wie an keiner zweiten. Selten bin ich so missionarisch unterwegs wie wenn es darum geht, jemandem, der auch nur im Entferntesten etwas mit JRPGs am Hut hat, Persona 4 nahezulegen. Selten treffe ich auf mehr Ablehnung, aus denselben Gründen, die mein kindliches Ich davon abgehalten haben, sich Persona 3 zu kaufen.
Dabei hat mir gerade Persona 4 so viel gegeben, mir über so viele Hürden im Leben hinweg geholfen, und ich wünschte, ich könnte diese Momente mit anderen teilen. Doch zu schnell wird die Serie als Jugendspielereihe, als buntes, lang gezogenes Final Fantasy-Ding abgetan. Das könnte weiter entfernt von der Wahrheit nicht sein.
Trotz seiner strahlenden Farben, seiner weich gezeichneten Charaktere und der japano-poppigen Musik kenne ich wenige Spiele, ob westlich oder aus Japan, die in ihrem Inneren erwachsener sind als Persona 4. Es geht um Mord und um Übernatürliches; wattig genug in einen Jugendkrimi verpackt, um kindgerechten Grusel auszulösen, ohne zu verstören. Doch darunter stecken dunklere Ebenen, die dem jungen Spieler gar nicht erst offenbart werden – sowohl geistig als auch wortwörtlich spielerisch. Es ist unwahrscheinlich einfach, sich mit dem „normalen“ Ende von Persona 4 abspeisen zu lassen – es kann sogar passieren, dass weniger investierte Spieler schon nach dem schlechten Ende zufrieden den Controller aus der Hand legen. Und gerade ersteres ist doch völlig normal, nicht wahr? Jeder bekommt das normale Ende zu sehen, diverse Secret Endings klären meist ein paar Fragen, die man sich eigentlich gar nicht stellt, oder eröffnen einen neuen Storystrang für einen potenziellen Nachfolger.
Persona 4 schließt alle Spieler bis auf die motiviertesten von seinem geheimen Ende aus. Und damit von nicht weniger als der wahren Auflösung der Geschichte. Die erweiterte, auf der PlayStation Vita erschienene Version Persona 4 Golden treibt das auf die Spitze, indem sie gleich zwei weitere geheime Enden einfügt, die noch hanebüchener zu erreichen sind und das wahre Ende um noch mehr Facetten bereichern.
Aber das klingt wie eine erzwungene, furchtbar unnötige Qual, die zur Demotivation aller außer der härtesten Japanofreaks da ist, oder?
Eigentlich ist das genaue Gegenteil der Fall.
Persona 4 beschäftigt sich wie mit keinem anderen Thema in all seiner Dialogfülle mit der Suche nach der Wahrheit. Vom Anfang des Spiels, in dem vier unbedarfte Teenager ein ‘Investigation Team’ formen, um mehr zur Eigenbelustigung als aus Altruismus einen Mordfall aufzuklären bis zum letzten Kampf des letzten Endes, in dem der Begriff der über den Spielverlauf angesammelten Wahrheit eine materielle Form annimmt und die Götter in ihre Schranken verweist. Mehrfach habe ich die Wahl, den Fall so wie er ist auf sich beruhen zu lassen. Teilweise ist dies in der Story festgelegt, führt mich als Spieler und die Protagonisten als Akteure auf falsche Fährten und wird dann wenig später durch eine dramatische Wendung aufgeklärt. Aber mehrere aufeinanderfolgende Male, gerade gegen Ende des Spiels, konstatiert das Spiel auch: Du hast den Fall gelöst. Geh nach Hause, triff dich mit deinen Freunden und genieße den friedlichen Rest des Spiels. Manchmal kommt es auf einen Klick an, ob ich mich vom Nebel der Bequemlichkeit einlullen lasse oder ob ich erkenne, wo die Wahrheit weitergeht. Hinweise gibt es genug. Ein storygesteuertes Beziehungslevel, das erst auf Stufe 7 ist, während alle anderen Beziehungen bis Stufe 10 aufgewertet werden können, weist genauso darauf hin, dass es weitergeht, wie ein Gruppenmitglied, dass offene Fragen aufwirft. Doch in der Durchführung ist Persona 4 gnadenlos. Das Dialogsystem, spricht mit mir als Protagonist wie als Spieler gleichzeitig und legt mir in Konjunktiven meine Möglichkeiten dar. Dabei ist es besonders darauf aus, mich in die bequeme Sphäre des Erfolgsgefühls zu locken und fungiert hier damit ähnlich wie der finale Drahtzieher hinter der Mordserie in P4‘s fiktiver Kleinstadt Inaba als freudsches Es, das sich der Erfolgssucht hingeben möchte. Einmal habe ich sogar ganz offen die Wahl, selbst einen Mord zu begehen, um den Fall vermeintlich zu lösen. Ein falscher Klick – und ich stehe im Nebel.
Dabei spielt Persona so sehr mit meiner Psyche wie die wenigsten Horrorspiele. Als Spieler bin ich es gewohnt, zu gewinnen – gerade geschichtenreiche Rollenspiele folgen oft einer linearen Hauptstory, die sich nicht verpassen lässt. Mit dieser Gewinnsicherheit spielt P4 ebenso wie mit der typischen Abwägung, die gerade langjährige Spieler im Blut haben – bringt es mir etwas, wenn ich Subsystem A des Spiels nutze, oder investiere ich die Zeit lieber in Subsystem B? Tappe ich in typische RPG-Fallen, bestraft mich Persona 4, ohne dass ich es merke, und wirft mich anschließend in ein New Game+ voller subtiler Hinweise darauf, dass es da noch viel mehr gibt, als ich zu Augen bekommen habe.
Wer sich weiter oben gewundert hat, warum ich einen Vergleich mit Freud ziehe – Wenn es neben der Suche nach dem wahren Vorgang ein Motiv in Persona gibt, dann ist es die Psychologie.
Ein großer Teil des Spiels und einiger Spielsysteme gehen nämlich auf C.G. Jung zurück – jenen deutschen Psychoanalytiker, der sich nach seiner Schülerschaft bei Freud einen ganz eigenen Namen gemacht hat. Seine Aussagen stehen heute, ähnlich denen seines Lehrer, irgendwo zwischen „Umstritten“ und „Als falsch anerkannt“. Aber als bildliche, spielbare Darstellung der dunklen Seiten menschlicher Persönlichkeit ist seine Klassifizierung äußerst brauchbar. Das Konzept von Schatten und Persona entstammt direkt seiner Normierung. Und auch Philemon, die fädenziehende Schutzgottheit der gesamten Persona-Reihe, symbolisiert durch einen blauen Schmetterling als Speicherpunkt, taucht als Konzept zuerst bei Jung auf und wird dann beispielsweise von Max Frisch in „Mein Name sei Gantenbein“ aufgegriffen. Jung bezieht sich dabei auf den biblischen Philemon, der von Paulus zum Christentum bekehrt worden sein soll, als Symbolbild des Wandels innerhalb einer Person. In der Terminologie des Spiels: vom Shadow zur Persona.
Und im Spiel ist dieser Psychologieansatz gerade mit besagter Wahrheitssuche eng verbunden. Denn bevor sich ein Charakter der Protagonistengruppe anschließen kann, muss er zunächst die Wahrheit über sich selbst herausfinden – indem er seinen Schatten konfrontiert, eine geballte Ansammlung seiner innersten Ängste, die sich in einer pervertierten Monsterform auf ihn stürzt und seine Identität zu übernehmen versucht. Da muss der möchtegernharte Rocker, der sich mitten in der sexuellen Identitätsfindung befindet, sich mit einer homosexuellen Version seiner selbst auseinandersetzen, die er aus lauter Angst vor der Reaktion der Öffentlichkeit in seiner Seele verbirgt. Und die zarte, nach japanischen Schönheits- und Keuschheitsidealen geformte Gasthaustochter mit ihrem sexuell geladenen Spiegelbild auf der Suche nach willigen Hengsten. So klischeehaft und überspitzt das auch erst einmal ist, die konsequent daraus gezogenen Lehren sind tatsächlich spielenswert.
Denn Persona 4 macht seinen Charakteren wie seinen Spielern klar, dass es absolut normal und notwendig ist, mit seinen inneren Ängsten zu kämpfen – als Videospiel hat es dabei den großen Vorteil, das als bombastische Bosskämpfe inszenieren zu können – und dass es nicht darauf ankommt, wie pervers, ekelerregend oder falsch sie uns erscheinen mögen: Denn jeder hat seine Abgründe, seine Neigungen und seine Probleme, die nicht annähernd so gravierend sein müssen, wie sie uns erscheinen. Eine abstrakte Angst, die keinerlei Bewandtnis hat, muss konkret gedacht werden, um sich mit ihr zu befassen, und dann gewinnt sie an Intensität und Bedrohlichkeit. Das ist Teil jedes Verarbeitungsprozesses und manchmal schafft man es alleine und manchmal eben nicht, man braucht Freunde, die einem beistehen, oder anderweitige Hilfe. Im Spiel gewinnen diejenigen, die ihren Schatten nicht nur besiegen, sondern auch als Teil ihrer Selbst akzeptieren, die namensgebende Macht der Persona, eine Stärke aus dem Inneren, die sich in einer magiebegabten, mächtigen Beschwörung gottgleicher Wesen ausdrückt. Wer seinen Schatten nicht akzeptiert, der wird früher oder später von ihm zerfleischt. Auch wenn die Darstellung sehr plakativ ist, die Aussage dahinter ist keine dumme.
Vielleicht hat meine Zuneigung zu diesem Spiel und seiner Aussage damit zu tun, dass ich mitten in der Pubertät und der ersten Identitätskrise im Leben steckte, als ich es zum ersten Mal gespielt habe. Als unsicherer Teenager hilft es ungemein zu sehen, dass die eigenen Probleme so viele andere Menschen auch kennen, dass es sich lohnt, ein Spiel daraus zu machen. Heute fasziniert mich neben den hervorragenden RPG-Kämpfen und dem Social Sim-Aspekt vor allem die psychologische Tiefe, die in der Geschichte steckt. Verschiedene Charaktere symbolisieren unterschiedliche Aspekte der menschlichen Psyche, Eigenschaften, die sich bis zu den Drahtziehern des großen Plots verfolgen lassen. Als aus Persona 4 eine ganze Serie wurde, ging dieser Aspekt ein wenig verloren. Aber die Neuauflage des Originals auf der PS Vita, Persona 4 Golden, baut darauf noch einmal auf und versieht sogar die Götterfiguren der Persona-Welt mit menschlichen Psychosen, ordnet sie in jungsche Kategorien und macht sie damit in gewisser Weise zu noch fürchterlicheren Gegnern. Schließlich gibt es für viele Teenager keinen groteskeren Feind als die eigenen Gefühle und Gedanken.
1 Kommentar
Als ich P4 das erste Mal durchgespielt hatte, habe ich das “schlechte” Ende bekommen und war mir dessen auch vollkommen bewusst, aber ich wusste nicht, was ich falsch gemacht haben sollte. Ich habe dann in einer Komplettlösung nachgeschaut und das entscheidende Gespräch noch einmal mit den vorgegebenen Antworten durchgemacht, wobei mir ein paar der Antworten sinnfrei erschienen. Rückblickend vielleicht weniger, aber wenn man da (ohne die Antwort zu kennen) selbst drauf kommen sollte, kann ich mir nur schwer vorstellen. Wer es geschafft hat, Respekt!
Außerdem ist Teddy mit einen bär-scheidenen Wortspielen doof. Überhaupt, wie passt der in das psychoanalytische Bild?