Noch 90 Sekunden. Kurz zurücklehnen, Luft holen, konzentrieren. Ich kauere in einem Besenschrank. Durch einen Spalt behalte ich die schmutzigen Toilettenräume eines Stripclubs im Blick. 60 Sekunden. Meine Klamotten müffeln ziemlich stark. Vielleicht weil sie dem bewusstlosen Rausschmeißer gehören, der sich den Schrank mit mir teilt. 45 Sekunden. Ruhig bleiben. Bisher läuft alles wie geschmiert. Ich gehe alles nochmal im Kopf durch: Exakt 110 Sekunden nachdem ich dem Typ neben mir die Kleidung gestohlen und ihn im Schrank verstaut habe, wird Dom Osmond die Toiletten betreten. Zum letzten Mal. 20 Sekunden. Alternativ hätte ich ihn auch mit einer Diskokugel erschlagen oder ihn durch die nicht so kugelsichere Scheibe eines Separees erledigen können. Egal, der Plan lässt sich jetzt nicht mehr ändern. 10 Sekunden. Gleich wird es ernst. 5 Sekunden. Da ist er. Gerade als sich meine Zielperson erleichtern will, hallt das Knacken brechender Halswirbel durch den gefliesten Raum. Doms lebloser Körper wandert ebenfalls in den Schrank. Eilig verlasse ich die Toiletten und fluche innerlich: Ein Rausschmeißer an der Bar hat meine Tarnung durchschaut. Er fragt nach meinem Namen. Ich antworte mit einem Neustart der Mission.
So erging es mir in Hitman: Absolution oft. Die Strategie konnte noch so wasserdicht sein, eine kleine Unachtsamkeit genügt, um auch dem sorgfältigsten Plan den Todesstoß zu versetzen und das Einsatzgebiet in eine bleihaltige Hölle zu verwandeln. Das gilt es natürlich zu vermeiden. Ein Hitman arbeitet so sauber und präzise wie ein Skalpell. Wenn überhaupt jemand zu Schaden kommt, dann nur die jeweilige Zielperson – dauerhaft. Heimliches Vorgehen ist also Pflicht. Immerhin ist Profikiller längst kein so anerkannter Berufsstand wie Lehrer oder Fleischereifachverkäufer. Man kann sich ausmalen, was geschieht, wenn so jemand einen Schwank aus seinem Alltag erzählt: “…und neulich habe ich das Kokain dieses selbsternannten Königs von Chinatown mit Kugelfisch aufgepeppt, haha, ein Riesensp-… Oh, Hallo Officer.”
Als Freund von Schleichspielen verbindet mich eine langanhaltende Liebe mit der Hitman-Serie. Die Diskussion, ob es moralisch vertretbar ist, virtuelle Mordanschläge zu planen, möchte ich an dieser Stelle ganz bewusst außen vor lassen. Hitman war für mich immer ein morbides Puzzlespiel: Hier hast du einen großen Schauplatz, dort eine Zielperson und jetzt sieh zu wie du sie unauffällig erledigst. Einfach war das nie. Schon immer war die Hitman-Reihe für ihren konstant hohen Schwierigkeitsgrad berüchtigt. Im ersten Teil gab es etwa diese Mission in einem riesigen Budapester Hotel. Darin galt es, den Terroristen Frantz Fuchs auszuknipsen und eine chemische Bombe sicherzustellen. Was nach einem einfachen Suchspiel klingt, wurde durch patrouillierende Polizisten, argwöhnisches Hotelpersonal und unzählige Metalldetektoren zu einer hochspannenden Angelegenheit. Tagelang habe ich an dieser Mission herumexperimentiert, um sie schließlich zu perfektionieren. Frantz Fuchs tot, die Bombe in Sicherheit und keiner hat auch nur irgendwas bemerkt – alles in weniger als zehn Minuten.
Das ist exemplarisch für jedes Hitman-Spiel. Sämtliche Aufträge verlangen Geduld, Disziplin und nicht zuletzt eine gute Beobachtungsgabe. Trotzdem wird man unendlich oft scheitern und wieder von vorn beginnen. Es ist eine höchst unterhaltsame Form von Trial & Error. Natürlich nur, wenn man es auf die bestmögliche Wertung und unauffälliges Vorgehen anlegt. Grundsätzlich könnte man sich auch einfach Durchballern. Allerdings ist das nicht unbedingt im Sinne des Erfinders. Mal ehrlich: Wenn mir ein Spiel schon anbietet, es ohne Kollateralschäden durchspielen zu können, dann nehme ich dieses Angebot doch dankend an. Hitman: Absolution bildet da keine Ausnahme. Eigentlich.
Denn für den fünften Serienteil hat Entwickler IO Interactive so einiges verändert. Zum einen fällt nun die Zusammenstellung der Mordwerkzeuge vor jedem Auftrag weg. Wer sich also früher mit Schrotflinten und MGs ausgestattet hat, ist jetzt auf das Nötigste beschränkt. Stilbewusste Auftragskiller sind ohnehin nur mit einer Klaviersaite und Betäubungsmittel losgezogen, die Änderung geht also in Ordnung. Wesentlich schwerer wiegt jedoch das Ungleichgewicht zwischen “Töte Person X”- und “Gelange von A nach B”- Missionen. Letztere waren schon immer so überflüssig wie ein Kropf. Dummerweise machen sie nun den Großteil des Spiels aus. Mal muss Agent 47 vor der Polizei flüchten, mal ein Industriegelände infiltrieren und dann wieder seine Zielperson in den nächsten Abschnitt verfolgen. Wenn die dann zwischendurch mal gemeuchelt werden soll, ist das fast schon ein Grund Freudentränen zu vergießen.
Meiner Meinung nach ist die Schuld dafür eindeutig bei der Story zu suchen. Die Zeiten, in denen Nummer 47 als Vollstrecker der Agency unterwegs ist, sind nämlich vorbei. Irgendjemand bei IO Interactive hatte die Idee, dass man einem Klon mit soziopathischen Zügen doch unbedingt eine menschliche Seite verpassen müsste. Und so zettelt er in Hitman: Absolution einen privaten Rachefeldzug an, um ein junges Mädchen zu retten. Rein inhaltlich wirkt die Geschichte wie eine merkwürdige Mischung aus Léon – Der Profi und Super Mario. Dafür kann sie aber mit stimmungsvoll inszenierten Zwischensequenzen und herrlich überdrehten Antagonisten punkten. Ob Cowboy-Waffenfabrikant, grotesk aufgepumpter Luchador oder ein Killerkommando in Nonnentracht: Der fünfte Hitman lässt kaum ein Trash-Klischee aus und weckt damit Erinnerungen an frühere Serienteile.
Eine zentrale Neuerung bereitete mir aber schon im Vorfeld Magenschmerzen: Das Instinktsystem. Auf dem Papier liest sich das eigentlich ganz interessant. Für eine begrenzte Zeit darf Agent 47 Wachen und Zielpersonen durch Wände sehen und sogar ihre Laufwege vorausahnen. Zudem werden benutzbare Objekte angezeigt, um die “tragischen Unfälle” besser planen zu können. Für den Ernstfall gibt es sogar die Möglichkeit in einen von Red Dead Redemption inspirierten Zielmodus zu wechseln. Gegnerköpfe markieren, bestätigen und das tödliche Kugelballett bewundern. Großartig! Nein?! So ist Hitman nicht! Darf ich das bitte abschalten?
Ich darf. Als geübter Hitman starte ich natürlich direkt auf Purist, der letzten von fünf Schwierigkeitsstufen. Hier ist die Welt der Profikiller noch in Ordnung. Bis auf ein Fadenkreuz gibt es nichts. Keine Gesundheits- und Munitionsanzeige, keine Hinweise zu Objekten und die Punktestatistik, die das Vorgehen bewertet, erscheint erst am Missionsende. Zudem offenbart der Instinkt keine Wachen mehr, verbraucht sich rasend schnell und lädt sich auch nicht mehr von selbst wieder auf. Fantastisch, es ist alles so wie früher! Ich darf wieder alles selbst ausprobieren. Sogar das Tutorial wirft mich direkt ins kalte Wasser. Erklärungen zu Steuerung und Spielmechanik gibt es nicht, die Einführung wird zur knallharten Feuertaufe. Und sie dauert. Anderthalb Stunden verbringe ich mit Handbuch auf dem Schoß, ehe ich das “Tutorial” erfolgreich abschließen kann.
Doch schon nach zwei weiteren Missionen weicht der nostalgische Freudentaumel der knallharten Realität. Etwas stimmt hier ganz und gar nicht. Wieso mir das erst jetzt auffällt, lässt mich kurz an meiner geistigen Gesundheit zweifeln: Ich bewege mich geduckt durch die Level, spähe um Ecken und werfe Flaschen, um Gegner abzulenken – ich schleiche! Entschuldigung, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass das früher nicht so war. Der Clou an Hitman bestand ja gerade darin, sich in der passenden Verkleidung nahezu frei durch die Level bewegen zu können. Experten nennen das auch “Social Stealth”. Sich wie ein Chamäleon im direkten Blickfeld der Wachen zu verstecken, war doch gerade das Alleinstellungsmerkmal von Hitman. Was ist geschehen?
Zwar greift Hitman: Absolution auf das Verkleidungssystem zurück, macht es in seinem Modernisierungswahn aber kaputt. Ein Beispiel: Verkleidet sich Agent 47 als Polizist, hat er zwar Zutritt zu sonst versperrten Bereichen, wird aber auch rasend schnell von anderen Polizisten enttarnt. Andere NPCs wie Putzleute oder Mechaniker schöpfen hingegen keinen Verdacht. Noch absurder wird es, wenn man in die Klamotten eines vollmaskierten Elitesoldaten schlüpft, damit aber trotzdem auf 50 Meter Entfernung von einem Kollegen enttarnt wird. Sicher mag es einigermaßen logisch sein, wenn sich die Mitglieder kleiner Gruppen untereinander erkennen. Doch bei vielbeschäftigten Köchen in Chinatown und Laboranten in Schutzanzügen wird es hochgradig albern.
Gut, dass es Instinkt gibt! Damit kann sich 47 nämlich auch an NPCs mit den gleichen Klamotten vorbeimogeln indem er sich – jetzt kommt’s – am Kopf kratzt oder mit der Hand über sein Gesicht fährt! Ihr erinnert Euch daran, dass sich der Instinkt auf Purist rasend schnell verbraucht? Aus diesem Grund habe ich Social Stealth in meinem Kopf direkt abgehakt. Das echte Hitman-Gefühl findet sich wohl irgendwo auf den unteren Schwierigkeitsstufen. Dort, wo die Wachen noch nicht über gottgleiche Sinnesorgane verfügen. Eine ungesunde Mischung aus Trotz und Stolz hielt mich aber davon ab, den Schwierigkeitsgrad nach unten zu korrigieren. Also habe ich mich weiter an allwissenden Gegnerhorden vorbeigeschlichen. Und hatte einen Heidenspaß. So viel Spaß, dass ich voller Elan nochmal von vorn angefangen habe, als Agent 47 meinen Spielstand auf halber Strecke stranguliert hat.
Vielleicht liegt es daran, dass es um Schleichspiele in letzter Zeit nicht gut bestellt gewesen ist. Von Assassin’s Creed will ich gar nicht erst anfangen, das ist im Grunde eh nur ein großer Etikettenschwindel. Dishonored hat mich wiederum fast wahnsinnig gemacht. Zu oft konnte ich nicht nachvollziehen, warum ich von einer Wache entdeckt wurde. Traurig aber wahr: Schleichen in der Ego-Perspektive hat zuletzt in Thief 2 so richtig gut funktioniert. Habe ich mich insgeheim also gar nicht auf ein neues Hitman, sondern auf ein gutes Schleichspiel gefreut?
Vermutlich trifft das den Nagel auf den Kopf. Der fünfte Teil lässt die perfekt geformten Fußstapfen des Vorgängers Blood Money links liegen. Doch das war mir irgendwann egal, ich fand mich damit ab. Ungeachtet der Tatsache, dass das Verkleiden an Wert verloren hat, funktioniert das Geschleiche nämlich ganz hervorragend. Wenn ich hier entdeckt werde, weiß ich auch warum. Die unbarmherzige Aufmerksamkeit der Gegner frustriert mich nicht, sondern spornt mich nur noch mehr an. Das Gefühl, einen Auftrag nach zwanzig, dreißig vergeblichen Versuchen fehlerfrei gelöst zu haben, entschädigt für die Strapazen. All der Groll über das dumme Instinktsystem, die übermäßig eingesetzten Infiltrationsmissionen und die lahme Story ist dann vergessen. Nicht nur Hannibal liebt es, wenn ein Plan funktioniert. Ich liebe es auch.
Sven kennt man auch als @nesnevs auf Twitter. Außerdem betreibt er noch sein lesenswertes Blog Hören, Sehen, Knöpfe drücken.
6 Kommentare
Fein formuliert, gefällt mir! Wenn ich also ein weiteres Blood Money bzw Hitman-Killerpuzzle erwarte, werde ich enttäuscht – das Spiel ist aber trotzdem gut?
Diesen Hotellevel in Budapest habe ich ja geliebt…
leider muss ich dir zustimmen. zwar sind die 50 euro nicht verschenkt. das spiel als solches ist schon ganz nett. was aber wieder mal auffällt ist, dass die andere sequels einer franchise bereits den highpeak erreicht haben und weitere folgen nur noch verzweifelt versuchen, an ehemalige highlights anzuschließen: das beste dragon-age war baldurs gate 2; das beste ultima war ultima 7; das beste civ war civ3; das beste spiel aus der elderscrolls-reihe ist morrowind, das beste samsung galaxy ist das galaxy s2etc etc. und nun ist das beste hitman – hitman blood money. das kann so manchen euro sparen denn blood money ist für wenig geld erhältlich. und wenn man nicht zu denen zählt, die immer alles neue sofort haben müssen und unreflektiert konsumieren, sondern sich an objektiven testberichten orientieren, kann man durch kaufverhalten und postings in blogs etc. vielleicht auch die publisher erreichen und denen vermitteln, welche tugenden ihrer spiele wirklich die käufer interessieren.
ps. bevor großer protest aufkommt :) natürlich gibt es auch sequels, die besser sind als die erstausgabe: zb thief, der pate, alien, die hard, terminator.. mir fallen leider nur beispiele aus der filmwelt ein :)
[quote]Fein formuliert, gefällt mir! Wenn ich also ein weiteres Blood Money bzw Hitman-Killerpuzzle erwarte, werde ich enttäuscht – das Spiel ist aber trotzdem gut?[/quote]
Danke! Genau das: Wenn du dir eine klassische Hitman-Mission nach der anderen erhoffst, kannst du nur enttäuscht werden. Schätzungsweise laufen nur 20-30% der Aufträge nach dem altbekannten Schema ab. Klar, ich hätte auch gern mehr davon gesehen. Umso überraschter war ich, dass mich Absolution trotzdem über die gesamte Spieldauer fesseln konnte. Und das sagt schon so einiges über die Qualität des Spiels aus, wie ich finde. :)
Hab hier die Greebpepper-Trilogie von Hitman rumliegen und muss leider sagen, dass es schon bei Hitman Contracts vorbei mit der Waffenauswahl vor der Mission war (wie es bei Blood Money ist weiß ich noch! nicht).
Wie hast du eigentlich das Speicherpunkte-System empfunden? Soweit ich gehört hab, kann man nur an bestimmten Stellen in der Mission an festen Stellen speichern und beim Tod sollen wieder alle vorher ausgeschalteten Gegner da sein. Hat dich das irgendwie groß gestört?
Guter Hinweis. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich mich fast gar nicht mehr an Contracts erinnern kann. Muss wohl an dem großzügigen Missionsrecycling liegen. Bei Blood Money war das Feature aber definitiv wieder dabei.
Zu den Speicherpunkten kann ich mich im Grunde gar nicht äußern. Auf Purist gibt es sie einfach nicht. Wirklich vermisst habe ich das aber nur während ein paar wenigen, längeren Schleichpassagen. Kann mir gut vorstellen, dass man auch auf den niedrigen Schwierigkeitsgraden ganz gut ohne zurechtkommt. Zumal respawnende Gegner das System eh überflüssig machen würden.