Als ich majaku´s Text zum Release von Until Dawn noch einmal las, bevor ich mich an dieses Machwerk setzte, stolperte ich über die Redewendung des „Zehn-kleine-Jägermeister-Prinzips“, den sie gebrauchte, um die Storymechanik des Spiels zu beschreiben. Das hat sie wirklich nett formuliert, muss ich sagen: Politisch korrekt, dabei so gar nicht verkniffen und maximal sympathisch. Und man weiß worum es geht. Nun, mir fiel im Laufe von Until Dawn eine andere Bezeichnung dafür ein, die mit allem Recht der Welt dort gelandet ist, wo sie hingehört: In die Mülltonne, in der auch all die anderen strunzdoofen Redewendungen aus vergangenen Epochen ihr Dasein fristen. Es geht natürlich um die zehn kleinen Negerlein.
Aber zurück zum Storyprinzip: Denn das gefällt mir. Aus vielen Gründen. Dass jederzeit, zumindest ab Spielstunde drei oder vier, eine(r) aus der lauschigen Twen-Gruppe abgemurkst werden könnte, ist zuerst einmal spannend. Dass darüber hinaus die Charaktere exakt so trashig sind, dass man sie dafür liebt, weil sie so wunderbar superscheiße sind, gibt der ganzen Geschichte noch mehr Würze. Und mit Hayden Panettierre als liebes, toughes Mäuschen und Rami Malek, dem Mr. Robot-Gollum, als Quoten-Wahnsinnigen, wurde sogar ordentlich prominentes Futter aufgetischt. Soweit ist das wunderbar und reicht wahrscheinlich schon für ein nett herunterzuspielendes Horror-Popcorn-Videospiel – wäre da nicht diese kleine wunderbare Telltale-Gedächtnis-Flunkerei, die Until Dawn auf ein ganz eigenes Podest hebt. Es geht natürlich um die sogenannte Entscheidungsfreiheit des Spielers, die die Geschichte von Until Dawn in abertausende sich komplett voneinander unterscheidende Richtungen treibt. Und dass verdanken wir einer nahezu wahnsinnig hyperintelligenten KI, die quasi magisch alle Fäden zusammenhält und verlässlich für eine Pulitzerpreis-verdächtige Story inklusive wunderbaren Happy End sorgt, bei dem am Ende sogar immer (!) geheiratet wird. Das ist natürlich Käse. Was aber wahr ist und das finde ich ganz herausragend: Man bestimmt tatsächlich mit, wer draufgeht. Faszinierend.
Hätte ich DAS gewusst, wäre Until Dawn nie und nimmer im Regal der Schande gelandet. Bei dem schönen „Jägermeister-Prinzip“ ist man also nicht nur passiver Zuschauer, so wie bei den entsprechenden Filmen und Büchern, sondern aktiv beteiligt – innerhalb des Storykorsetts natürlich. Wobei, ich muss es zugeben: Mein Part lag oft darin, eine Sekunde zu lang bei einem QT-Dingens geträumt oder einfach nur Mist gebaut zu haben. Hayden Panettiere beispielsweise habe ich völlig unnötig ganz kurz vor Ende in einer erschreckend anspruchslosen Sequenz über die Klinge springen lassen, weil ich innerlich schon in Abspannlaune war. Aber auch eine schöne Telltale-The-Walking-Dead-Reminiszenz gibt es, bei der wir entscheiden müssen, wer stirbt und wer nicht und es keine Chance gibt, aus der Nummer herauszukommen. Dramatik pur. Denkt man sich, aber diesen amüsanten Twist verrate ich jetzt nicht.
Dass Until Dawn das beste Telltale-Videospiel ist, dass Telltale nicht selbst produzierte, wurde mir verschwiegen. Vielleicht liegt es daran, dass zuviel an Until Dawn herumgemotzt wurde. Keine Ahnung warum, vielleicht gab es damals irgendeinen supernervigen Hype, der den Leute auf den Keks ging, zu negativen Abwehrreaktionen trieb und die vielen Stärken des Spiels in den Hintergrund geraten ließ. Unfair bleibt es so oder so.
Und es gibt noch eine weitere Stärke, die eigentlich irrelevant ist. Normalerweise. Wir bei Polyneux zählen ja keine FPS oder halten uns mit anderem optischen Schnickschnack auf. Oder, wer weiß, vielleicht doch, dann aber nur heimlich. „Die Grafik“ an sich ist in nahezu allen unseren Texten kein entscheidendes Kriterium in der Bewertung von Spielen (ich gebe „der Grafik“ als Faktor für die Güte eines Spiels nur eine 3/10) und das ist auch gut so – aber trotzdem darf ich für Until Dawn eine Ausnahme machen. Abgesehen davon, dass hinten heraus zu viel Mine und zu wenig abgefucktes Irrenhaus als Location verwendet wird, muss ich schon sagen, dass Until Dawn atmosphärisch, optisch und technisch ganz herausragend gelungen ist. Sogar die seltsame Kamera, die oft ein scheinbares Eigenleben hinter dem Rücken der gerade gesteuerten Person führt, flashte mich. Besonders die Uncharted-Gedächtnis-Perspektive, bei der uns die jeweils zu spielenden Protagonisten scheinbar entgegenlaufen, ist besonders gelungen, weil sie sich nahtlos ins Spiel einfügt. Bei Uncharted gehen bei diesen Spielereien alle auf die Knie vor Begeisterung, bei Until Dawn redet mal lieber niemand darüber. Es ist eine unfaire Welt. Auch der oben erwähnte Perspektivwechsel, bei dem jeder Charakter als Spielfigur an die Reihe kommt, ist eine löbliche Idee. Wobei ich zugeben muss, dass es mich manchmal juckte, bei den unangenehm sportlichen Sportskameraden und den besonders zickigen Damen ein wenig unvorsichtiger zu spielen als sonst. Habe ich natürlich nicht gemacht, das gehört sich nicht. Ebenso wie es sich eigentlich nicht gehörte, dass Until Dawn derart lange bei mir im Regal der Schande Staub ansetzte.
2 Kommentare
Ich muss dir tausendfach recht geben! Until Dawn ist ein wunderbares Spiel und soviel besser als alles, was Telltale seit Wolf among us gemacht haben. Und das liegt nicht nur an der Optik.
Besonders erwähnenswert erscheint mir noch der immer großartige Peter Stormare als vertrauenswürdiger Psychotherapeut. Ach, ich bekomme doch glatt wieder Lust auf das Spiel…
Das stimmt, ich fand die Sitzungen allesamt super, das war ein ganz hervorragender Kniff – auch wenn der Twist frühzeitig zu erahnen war. Machte aber nix.