Halloween 2020: Eine Japanologin und ihr bloggender Freund setzen sich zusammen, um ein Horrorspiel zu spielen. Sie entscheiden sich für eine Visual Novel, die sie gemeinsam lesen. Sie entscheiden sich für ein Spiel, das auf der Shopseite den Eindruck erweckt, eine klassisch japanische Geschichte über Flüche zu erzählen, mit vielen Mysterien und Suspense, wie der Freund es vom Autoren der Visual Novel gewohnt ist.
Sie entscheiden sich für Iwaihime.
Iwaihime: When They Cry ist die aktuellste, im Westen verfügbare Kinetic Novel des in Nischenkreisen recht bekannten Visual-Novel-Autors Ryukishi07. Kinetic Novels sind Visual Novels ohne Auswahlmöglichkeiten: Ihre Art, ohne Entscheidungsmöglichkeiten des Spielenden eine geschriebene Geschichte zu entfalten, ist Ryukishi07s übliches Format der Erzählung, die ich seit Higurashi When They Cry kenne. Und auch Iwaihime hat auf den ersten Blick so viel mit mir vertrauten Kinetic Novels zu tun, dass ich meiner Freundin den gemeinsamen Versuch nahegelegt habe.
Wie schon Higurashi mit seinen Zeitreisen findet auch Iwaihime Wege, Fragen clever zu stellen, die eine sich wiederholende Zeitspanne behandeln: Eine Gruppe Schüler und Schülerinnen muss, von wechselnden Nachtmahren geplagt, immer wieder einen schief gegangenen Schulalltag überstehen. Durchleben wir dabei in Paralleluniversen die Leben der Highschooler, oder blutet die Albtraum-Thematik der einzelnen Kapitel in seine Spielstruktur hinein? In so vielen Kapiteln, wie es Schülerinnen zu verführen gibt, werden wir das wohl herausfinden. Oder würden, denn wir haben es nicht bis zum Ende ausgehalten.
Doch trotz der überraschungslosen Spielstruktur war der Aufbau des Spiels in erwartbare Kapitel keines unserer Probleme mit dem Spiel. Immerhin sind die einzelnen Abschnitte wesentlich kürzer als noch in Higurashi When They Cry: Wo ich über die letzten drei Jahre verteilt achtmal zwischen acht und fünfzehn Stunden den Zikaden zugehört habe, wechsle wir in Iwaihime alle drei Stunden den Albtraum. Und genau hier, in diesen Albträumen, haben wir den Appetit auf mehr Iwaihime nach zwei durchlebten Szenarien gründlich verloren.
Nicht etwa, weil sich Iwaihime hier bei allen bekannten Tropes und Klischees des Slice-of-Life-Animes bedient. Ich habe kein Problem damit, dass der Protagonist ein farbloser, beinahe charakterloser Junge mit praktischen Deus-Ex-Machina-Karatefähigkeiten ist. Im Gegenteil, ich bin sogar der Meinung, dass viele Visual Novels dann gut funktionieren, wenn man die Geschichte durch die Augen der langweiligsten Figur erlebt, weil man dadurch die spannenden Figuren beständig vor der Kameralinse hat.
Es hat uns auch nicht gestört, dass die vier narrationstreibenden Figuren Mädchen sind, die auf dem ersten Blick Abziehbildern bekannter Animestereotype gleichen. Ich weiß bei Ryukishi07 instinktiv, dass mehr hinter den Figuren steckt als gut datebarer Eyecandy, zumal Dating ja ohnehin keine Option ist. Jedes der Mädchen wird im Verlauf des Spiels Gelegenheit bekommen, Persönlichkeit zu entwickeln, über das Anschmachten des Protagonisten hinauszuwachsen und sich seinen eigenen Abgründen zu stellen.
Nein, es sind diese Abgründe, die uns beide abgestoßen von Iwaihime zurückschrecken haben lassen. Genauer gesagt, die Art, in der das Spiel die Konfrontation der Figuren mit den bizarren Monstern ihrer Alpträume inszeniert. Jedes Kapitel des Spiels nimmt die Innenperspektive eines der Mädchen in den Fokus, in das der Protagonist Suzumu hineingezogen wird. Er und das Mädchen werden von Alpträumen geplagt, die sie und immer mehr der anderen Figuren in bösartige, widerliche Paralleldimensionen ziehen. In diesen Paralleldimensionen werden die Figuren aufs ekelhafteste gefoltert, in jedem Kapitel auf eine andere Art und von anderen Monstrositäten. Obwohl es die Grenzen meiner Resilienz gegenüber Übelkeit ausreizt, die Beschreibungen Suzumus zu ertragen, während er von einem stinkenden Blob aus Fleisch verspeist wird, kann ich diesen lediglich mit Worten, Soundeffekten und abstrakten Bildern meisterhaft inszenierten Body Horror respektieren, wenn ich ihn in Happen genieße. Es sind die Perspektiven auf die Mädchen, die der Autor mit Worten und der Grafiker mit viel zu expliziten Bildern zeichnet, die meiner Freundin und mir das Spiel verdorben haben. Die als Puppe mit verzerrtem Gesicht gezeichnete Toé, die vom Blob angelutscht und in alle Richtungen gebogen wird, um später, in der ‘echten’ Welt, als gebrochenes Unfallopfer mit zertrümmerten Knochen im Krankenhaus zu landen, jedoch nicht ohne sich im Rausch der Schmerzen dem Protagonisten als Sexobjekt anzubieten, wirkte noch so sehr wie ein willentlich in Kauf genommenes Horror-Anime-Klischee, dass wir sie hingenommen und weiter gespielt haben. Die Horrorversion von Alice in Wonderland, in der eines der anderen Mädchen erst in starker Referenz auf Higurashi Körperteile opfern muss, um anschließend von einem Raupenmonster in eindeutig Vergewaltigung evozierenden Bildern von Dornen penetriert und mit Monsterschleim injiziert zu werden, dann nicht mehr. Ich habe keine Ahnung, was nach dem zweiten Kapitel von Iwaihime noch passiert, und mit welchem cleveren Plot Device Ryukishi07 die Parallelversionen der Schulkinder und ihre morbiden Albträume zusammenführt. Wir wollen es auch beide nicht wissen. Der voyeuristische Gore, wäre schon in rein geschriebenen Worten hart zu ertragen, grenzt aber durch die gerade in diesen Szenen detailliert gemalten Bilder an Exploitation Porn. Ich gebe zu, wir haben keine Body-Horror-Orgie erwartet, als wir Iwaihime starteten; ich gestehe dem Spiel seine Thematik zu, auch wenn ich sie nicht mag. Was wir nicht verstehen konnten ist das raubtierische Ergötzen am Leid der weiblichen Figuren, das Verharren auf den eindeutig gezeichneten Situation und das Wiederkehren eben dieser im nächsten Kapitel, mit anderen Mädchen und Monstern. Für mich lagen Ryukishi07s Stärken immer im Brechen der Muster, die er selbst aufgerufen hat: Dieselbe Kleinstadt, dieselben sieben Tage, und doch acht vollkommen unterschiedliche Wochenverläufe in Higurashi. Iwaihime wirkt davon wie ein riesiger Schritt zurück: Zwar ändert sich der Schulalltag leicht, doch die Figuren erleiden immer das gleiche Schema des Grauens. Iwaihime wirkt wie gemacht für den männlichen Blick, der sich an einer bestimmten Art des weiblichen Leidens aufgeilt. Auch im Body Horror ist das kein Muss und ginge anders. Immerhin, selbst einige Horror-Hentai-Novels wie das kultige Saya no Uta machen das besser. Dass Iwaihime starkes körperliches Unwohlsein auslöst, wenn man selbst bereits Erfahrungen mit Bedrängung und Belästigung gemacht hat, wundert mich daher nicht. Und irgendwie reicht auch ein Mindestmaß an Empathie meiner Meinung nach, um unter den Bildern dieses Spiels auch dann Unbehagen zu verspüren, wenn man selbst noch nicht in einer solchen Situation war. Nun soll Body Horror ja auch unbequem und unangenehm sein, klar – aber ich werde die Überzeugung nicht los, dass das auch besser gegangen wäre. Ryukishi07 hat es schließlich in Higurashi ganz ohne Bilder und ganz ohne Vergewaltigungsmetaphern geschafft, mir nur via Text den weißglühenden Schmerz zu vermitteln, sich die eigenen Fingernägel ziehen zu müssen. Irgendwo zwischen 2002 und heute scheint ihm die Finesse verloren gegangen zu sein. Wirklich schade.
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