Seit kurz vor Release denke ich darüber nach, ob und in welcher Form es sich lohnt, etwas zu Atomic Heart zu schreiben. Ich habe so lange darüber nachgedacht, dass mittlerweile eigentlich – vermeintlich – alles dazu gesagt ist. Es gibt Reviews aus spielerischer und aus ideologischer Sicht dazu, die Verbindung der Entwickler Mundfish zur Gazprom-Tochter GEM Capital und zum Kreml-nahen Investor Gaijin Entertainment sind aufgearbeitet, ebenso wie der nominelle Sitz der Firma Mundfish in Zypern, von dessen örtlicher Niederlassung man aber weniger weiß als vom Moskauer Büro, weil Studiotouren und sogar die Auffassung der russischen Presse allen Anschein geben, dass eigentlich von dort gewirtschaftet wird. Es gibt Erklärungen zu den rassistischen Cartoons im Spiel, zum Schweinefleisch mit Ukraineflagge im Spiel und zu den Sexroboter-Killerballerinas, die der ehemaligen ukrainischen Ministerpräsidentin und Widerstandskämpferin Tymoshenko nachempfunden zu sein scheinen – und weitere Erklärungen, die diese Zusammenhänge relativieren oder für weit hergeholt erklären (und von denen ich keine guten Gewissens hier verlinken kann, obwohl manche davon gute Argumente vorbringen, weil sie leider zu großen Teilen auf rechtsoffenen Webseiten, staatsnahen russischen Medien oder in Reddit-Höllenlöchern gehostet sind). Es gibt genug Kommentare zum furchtbarsten aller nervigen Protagonisten in Atomic Heart, dem ewig meckernden, treudoofen, die dümmste Catchphrase aller Zeiten schleudernden P-3 (Crispy Critters, sogar der Name ist bescheuert) und zur sexistischsten Darstellung eines Kühlschranks, die ihr je gesehen habt. Es gibt ganze Podcastfolgen, die sich stundenlang mit dem Spiel befassen, von Waypoint, von Hooked, vom Deutschlandfunk, es gibt sogar Feuilleton-Artikel dazu.
Was gibt es dazu noch zu sagen?
Es ist also alles gesagt. Dachte ich. Doch nachdem ich das Spiel tatsächlich (und durchaus mit spielmechanischem Genuss) durchgespielt und all diese Medien, all diese Einordnungen konsumiert hatte, stellte ich fest, dass ein gewichtiger Punkt in allen davon fehlt. Einer, von dem ich glaube, dass die Entwickler bei Mundfish ganz gezielt darauf gepokert haben, dass er fehlen würde. Egal auf welcher Seite die Einordnungen stehen, ob sie Atomic Heart für die Ausgeburt der Stalinismus-Propaganda halten oder für eine lauwarme BioShock-Kopie in einem überladenen Soviet-Setting, in keinem Artikel wird das Ende des Spiels thematisiert.
Und ich bin mittlerweile der festen Überzeugung, dass man Atomic Heart nicht ohne sein Ende einordnen kann. Denn das Spiel nutzt ganz zum Schluss eine Bait-and-Switch-Taktik, um die Einordnung seines Settings auf den Kopf zu stellen. Ich denke, das ist Absicht, denn ich bin mir recht sicher, dass die meisten Reviewer*innen vor Abgabe ihres Textes keine Gelegenheit hatten, das Spiel zu Ende zu spielen, und dass sich die Story des Spiels ohnehin in den ganzen umliegenden Faktoren des Kriegs von Russland gegen die Ukraine verlaufen hat.
Ich will dieses von mir wahrgenommene Loch in der Berichterstattung also kurz schließen. Wenn ihr diesen Punkt bereits irgendwo anders gesehen habt, freut mich das, schickt mir gerne die Quelle, die ich übersehen haben muss.
Dafür muss ich kurz die Geschichte und das Settings des Spiels darlegen, bevor ich – Achtung – euch rigoros das Ende spoilere.
Eine (vermeintlich) kritische Utopie
Also: Atomic Heart spielt in einem alternativhistorischen 1955, in dessen Zeitlinie die Sowjetunion während des zweiten Weltkrieges eine Art an Synapsen andockbares Plastik erfunden haben, das Neuropolymer. Damit bauten sie Roboter, die die Nazis in die Knie zwangen, und die seitdem die Arbeitskraft in der UdSSR stellen. Außerdem können damit Menschen geimpft werden, die daraufhin BioShock-artige Superkräfte bekommen, etwa Blitze zu schleudern, und mit Maschinen interfacen können. Atomic Heart setzt kurz vor dem Start des großen Kollektivprogramms an, bei dem alle Menschen in der UdSSR das Neuropolymer gespritzt bekommen sollen, um daraufhin vorgeblich alle Roboter mit den Gedanken steuern zu können.
Natürlich kapert ein vorgeblicher Terrorist das Programm, das unter der Schirmherrschaft von Dr. Sechenov, Supergenie der UdSSR steht, und schaltet alle Roboter in den Tötungsmodus. P-3, Ziehkind von Sechenov und Supersoldat mit Amnesie, soll das Problem lösen. Dafür bekommt er von Sechenov einen Handschuh, Char-Les, der P-3s Superkräfte augmentiert und außerdem eine Persönlichkeit hat.
Ab dann führt Char-Les den Protagonisten durch die unterschiedlichsten Areale der neuen Sowjetunion, stets wie ein Tourguide die Geschichte erklärend, und nach und nach kommen P-3 Zweifel an Sechenovs Genie und gutem Willen. Im Kontakt mit den vermeintlichen Terroristen, mit einer alten Frau, die sich ebenfalls als Supergenie und als P-3s verschollene Schwiegermutter entpuppt und unter der Leitung von Char-Les Wissen stehen wir am Ende des Spiels vor einem gigantischen Scherbenhaufen, der die vermeintlich utopische UdSSR ist, in der auch schon vor dem Robotergemetzel viel kaputt war. Machtkämpfe in der politischen Führungsriege, Arbeitnehmer, die durch Roboter ersetzt wurden und ohne Rente dastehen, Prostitution an Robotern, das Spiel macht diverse Probleme aus. Am schlimmsten: Sechenov will durch das Kollektiv alle Menschen gleich schalten und als einziger verbleibender Anführer mit eigener Persönlichkeit die Union und die Welt übernehmen. Das Spiel macht diesen Punkt immer wieder deutlich, über sich verdächtig verhaltende Verbündete wie den DDR-Professoren Stockhausen, der in etwa so vertrauenswürdig wirkt wie drei Pestratten in einem Trenchcoat, über Char-Les Erläuterungen und über all das, was um P-3 so passiert. Zum Beispiel werden sowohl Stockhausen als auch Molotov, ja, der echte Genosse Vyacheslav Molotov, nach dem der weltbekannte Brandsatz benannt wurde, umgebracht, nachdem sie sich gegen Sechenov stellen. Und wir werden vor die Wahl gestellt, was zu tun ist, um eines von zwei Enden zu erreichen: Sechenov ausschalten und den Launch des Kollektivs verhindern. Oder an den eigenen Ziehvater Sechenov glauben und nichts tun.
Am Ende dreht der Ton deutlich
Und hier kommt der Schlüssel zum Verständnis, also Achtung, nochmal, Spoiler: Atomic Heart hat ein gutes Ende. Und man löst es aus, indem man sich für zweiteres entscheidet. Dann reißt sich P-3 Char-Les vom Arm, zertrampelt ihn und geht in den Strandurlaub irgendwo an der Adria. Das Spiel ist vorbei, eine Endsequenz wird gespielt, in der alles irgendwie so weitergeht wie bisher und nichts schlimmes passiert, obwohl das Kollektiv gelauncht ist.
Oder man macht, was die meisten Leute tun, indem sie A) den Hinweisen im Spiel folgen und B) ein Videospiel wie ein Videospiel spielen, nämlich indem sie einen ordentlichen Endboss wollen und den Konflikt im Spiel auflösen zu versuchen. Wir jagen also Sechenov in einem mehrstufigen Bosskampf gegen oben genannte Sexroboter-Killerballerinas eine Kugel in den Bauch, und während der noch auf dem Boden herumrollt wird P-3 klar, dass er sich hat manipulieren lassen, denn Char-Les reist sich von seinem Arm los, bringt Sechenov um und verbindet sich mit der Ursuppe des Neuropolymers zu einem Supermutantenmonster, das die Kontrolle über Roboter und über Menschen hat, weil es eigentlich einmal Sechenovs verschollener Geniekollege war und sich nun an ihm rächen will, indem es die Welt übernimmt. Während die Kamera also konstant auf P-3s geschockt und gebrochen wirkendes Gesicht hält, zieht der Char-Les-Blob in der Endsequenz eine Schneise der Verwüstung durch die Hauptstadt und verschwindet dann. Die Implikation: Alles ist scheiße. Und zwar weil du, als Spieler*in hinter P-3, die Idee des Kollektivs in Frage gestellt hast, indem du dich von Eigeninteressen hast manipulieren lassen, von den niederen Beweggründen einer trauernden Schwiegermutter und der Machtgier eines intelligenten Supercomputers. Hättest du mal, so das Spiel in aller Deutlichkeit, die es dir mit einem Ende-gewordenen Game-Over-aber-für-die-ganze-Welt-Screen vermitteln kann, hättest du mal an die sowjetische Idee und deren Führerkult geglaubt.
Denn trotz aller Schwächen, die das Spiel seinen Vordenkern zugesteht, bleibt ein Genie ein Genie. Und ich glaube, dass ganz abseits von allen vermeintlichen Darstellungen einer Utopie, die wir schließlich auch BioShock im Kapitalismus zugestehen, trotz aller Pastiche des kalten Krieges, die wir eben auch in einem Fallout genießen können, hier der Knackpunkt liegt, den es braucht, um Atomic Heart zu analysieren. Ich sage, ein Spiel ist kein Propagandainstrument, nur weil es in einem Sci-Fi-Setting einer ideologischen Weltmacht spielt, auch nicht, wenn es daraus eine Utopie macht, die Schwächen hat – so funktionieren auch utopische Romane oft. Ich halte auch nichts davon, dass sozialistische und kommunistische Ideen in einer Tour mit den stalinistischen Horrorszenarien der UdSSR gleichgesetzt werden – es darf liebend gern mehr echte, utopische sozialistische Medien geben. Aber Atomic Heart schafft es, in einer Sekunde Audiologs zu präsentieren, die den Horror unter Stalin sogar ansprechen und von sich weisen, die die eigene Welt als ein besserer, über Stalin hinweggekommener Kommunismus präsentieren – und dich am Ende mit der Moral aus dem Spiel zu entlassen, dass es einen Anführer braucht, um die Welt besser zu machen, selbst wenn das Menschenleben auf der anderen Seite der Erde kostet, und dass der Kampf für die Freiheit des Einzelnen ein vergeblicher ist, weil die Verlockungen der Macht immer schlimmere Auswirkungen haben als ein gutmütiger, kluger Diktator. Alles, was Atomic Heart zuvor verkündet, kann in meinen Augen nicht ohne dieses Ende interpretiert werden – völlig unabhängig davon, ob die Entwicklerinnen nun tatsächlich Aussagen über den aktuellen Krieg in Russland treffen wollten oder ob es sich bei Atomic Heart um einen allgemeinen Kommentar auf eine Sowjetunion als Gesellschaftsform handelt.
2 Kommentare
Eine sehr gute Analyse zu einem Spiel, das mir völlig egal ist :D
Gut.