Ein Spiel, in dem quasi keine normschönen, heterosexuellen, weißen Männer mitspielen. Der W*ke Mind Virus hat die Gamesentwicklung erreicht! Wehe uns allen! So oder so ähnlich klingen viele der Bewertungen des neuen Spiels Dustborn, ihr ratet es sicher: hauptsächlich von Menschen, die es überhaupt nicht gespielt haben, denn warum sollten sie Geld für etwas ausgeben, dessen pure Existenz ihre Köpfe schon explodieren lässt? Es ist nämlich so: Unsere Held*innen sind nicht-binär, queer, muslimisch oder auch einfach nicht-weiß. Mehr als eine nicht-durchschnittliche Token-Person ist einigen Kommentatoren (kein generisches Maskulinum) aber schon zu viel, denn sie halten das für unrealistisch und aufgesetzt. Diese Merkmale sind aber ganz natürlich Teil der Figuren und stehen nicht im Vordergrund der Geschichte. Unterdrückte und verfolgte Menschen finden und unterstützen sich aber nunmal und fallen hier eigentlich nur auf, weil sie in anderen Spielen so unterrepräsentiert sind.
Die Freund*innen haben ungewöhnliche Kräfte, die sie geheimhalten müssen, weil ihre ordnungsliebende Regierung sie sonst als “Anomals” verfolgen würde. Das ist auch tatsächlich der wichtigste Punkt, der im Mittelpunkt der Erzählung steht, auch wenn es natürlich spannend ist, dass sich in der Welt alle für “politically correct” halten, weil man jetzt neue Menschen zum gemeinsamen Diskriminieren gefunden hat.
Unsere Gruppe hat die Möglichkeit bekommen, geheime Daten zu stehlen und außer Landes zu bringen, wo sie irgendwem helfen könnten. Man weiß noch nicht so genau, wem, was und warum. Aber immerhin kommt man aus dem Land raus, also hey! Dafür gibt sich die Truppe als Band namens Dustborn aus, die im Rahmen eines kulturellen Austauschs (quasi Goethe-Institut auf Reisen) durch verschiedene Länder fährt, wobei man Untergrund-Bibliotheken mit verbotenen Büchern versorgt und gelegentlich weitere Anomals einsammelt. Ach ja, hab ich schon erwähnt, dass es in einer alternativen Realität spielt, in der nicht JFK erschossen wurde, sondern seine Frau, weswegen dann Marilyn Monroe als First Lady mit ihm eine Diktatur in einem Teil der USA errichtet hat, während drumherum sowohl Mormonen als auch Kommunisten die Macht übernommen haben?
Im Grunde überall nur Polizeistaaten seit dem “Broadcast”, einem zunächst etwas vage gehaltenen Ereignis 30 Jahre vor der Spielhandlung, das einige Leute dazu gebracht hat, besondere Kräfte zu entwickeln, die irgendwie mit Sprache zusammenhängen. Nach und nach findet man als Spielerin, aber auch die Figuren selbst, immer mehr dazu heraus. Zum Beispiel sind immer noch einige Echos dieses Events in der Luft unterwegs und nisten sich manchmal in Menschen ein, flüstern diesen schlimme Verschwörungstheorien ein und stiften damit Chaos. Unsere Protagonistin Pax hat aber eine alte mysteriöse Handheld-Konsole, mit der sie diese erkennen und einfangen kann, um sich daraus neue Fähigkeiten – also im Grunde Zaubersprüche – zu basteln.
Diese Sprüche kann man im Kleinen in Gesprächen verwenden, um andere von etwas zu überzeugen oder abzubringen oder in Kämpfen gegen diverse Gegner als Waffe einzusetzen. Man kann diese zum Beispiel durch einen HOAX-Ruf davon überzeugen, dass sie in Flammen stehen oder dass sie ihre Verbündeten angreifen sollen. Das erleichtert einem die Arbeit natürlich ungemein. Diese Zusatzattacken muss man allerdings auch wieder aufladen, indem man mit einem Baseballschläger auf Gegner eindrischt, die erstaunlich oft Polizist*innen sind und ja, ich bin leicht zu erfreuen, mir hat das Spaß gemacht!
Die Kämpfe sind nur ein kleiner Teil des Gameplays, ein größerer besteht aus, aus kleineren Musikeinlagen (man ist schließlich eine Band) Rumlaufen und Dinge herausfinden, natürlich aus Echos einsammeln und auch aus diversen Mini-Games, die man aber auch überspringen kann, wenn man keine Lust auf sie hat. Wobei ich empfehlen würde, in alle zumindest einmal kurz reinzuspielen, weil z.B. das Retro-JRPG, das die Backstory des Daten-Heists erzählt, wirklich sehr süß gemacht ist. Auch der Comic-Stil des restlichen Spiels ist gut eingearbeitet. Es ist nicht nur eine rein optische Sache, man bekommt auch nach jedem Kapitel eine Zusammenfassung aller Geschehnisse in Comic-Paneelen, die einem sogar noch zeigen, wie andere Leute entschieden haben und ja natürlich, Superheld*innen, Bösewichte und Comics passen bekanntlich sehr gut zusammen.
Wirklich wichtig ist im Spiel aber das Socializing mit den anderen Band- oder Untergrundmitgliedern. Wie man mit ihnen umgeht, ob man sich um sie kümmert, ihnen ab und zu mal ein passendes Geschenk macht, das man unterwegs gefunden hat – also die Freundschaft pflegt – oder ob man lieber snarky sein und vielleicht sogar seine Kräfte einsetzen möchte, um sie zu beeinflussen. Meistens konnte man sich fürs Eine oder Andere entscheiden, um die Entwicklungen zu steuern. An einer Stelle hatte man aber nur die Wahl, eine Figur mit verschiedenen “Voices” (den Überzeugungskräften von Pax) in die “richtige” oder zumindest die vom Spiel gewollte Richtung zu lenken. Dass das auch später nicht problematisiert wurde, habe ich als wirklich extrem unangenehm empfunden, da ich doch lieber auf die Aktion verzichtet hätte, als das Gehirn meines Freundes im Grunde zu der Entscheidung zu zwingen.
Insgesamt fand ich es aber wirklich schön, die Konflikte mitzuerleben, die größere Gruppen mit sich bringen. Ja, es ist immer wichtiger, mehr Verfolgte aus den Klauen des Faschismus zu befreien, keine Frage. Man darf über die veränderten Dynamiken aber nicht die Menschen vergessen, die man vorher schon im Leben hatte. Die alten Freund*innen brauchen einen genau so wie vorher beziehungsweise in Krisensituation sogar mehr, aber man hat jetzt auch damit zu tun, dass sich die neuen wohl fühlen. Man kann leider nicht überall gleichzeitig sein, was die Gruppe später auch je nach getroffenen Entscheidungen kurz- oder langfristig zum implodieren bringt.
Man merkt dem Spiel an, dass die norwegischen Red Thread Games um Ragnar Tørnquist keine Neulinge beim Schreiben großer Welten und Storys sind. Immerhin haben sie mit dem Point & Click-Adventure The Longest Journey, das sie in den Dreamfall-Fortsetzungen auch narrativ modernisiert haben, schon über 20 Jahre Erfahrung. Auch Dustborn geht wieder mit der Zeit und baut neben Entscheidungsmöglichkeiten, wenn auch vielleicht nicht anspruchsvollere, dann aber zumindest durch lustige Sprüche unterhaltsamere Kämpfe ein, diverse Minigames und auch die inzwischen fast obligatorischen Musik-Einlagen. Hier macht es natürlich die Mischung und für mich funktioniert die Mischung aus Spielmechanik und Story so grandios, dass ich die 15 Spielstunden am liebsten komplett am Stück erlebt hätte, wenn die Zeit nicht dazwischen gekommen wäre. Für mich deswegen – und natürlich wegen der linguistischen Backstory – ein Anwärter für mein Spiel des Jahres.
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