Wer auch immer auf die Idee kam, eine Stadt in den Wolken zu errichten, kann sich meines ewigen Zorns gewiss sein. So dachte ich zumindest, als ich in der Rolle von Privatdetektiv Booker DeWitt in einer Ein-Mann-Rakete in die Höhe geschossen wurde. 5 000 Fuß, 10 000 Fuß – an dieser Stelle meldete sich kurz mein alter Kumpel Höhenangst – dann 15 000 Fuß und schließlich ein lakonisches “Halleluja”. In einem kurzen Moment, in dem sich die Rakete noch nicht entschieden hatte, ob sie weiter steigen oder der Schwerkraft nachgeben sollte, entfaltete sich vor mir das Panorama Columbias. Mit einem reflexartigen “HALLELUJA!” erwiderte ich die Worte der elektronischen Stimme, so wie es Gläubige gegenüber ihren Predigern tun.
Ab da hatte mich BioShock Infinite in seinem Bann. Gleich die erste Person, der Booker DeWitt begegnet, versichert ihm, dass man sich im Himmel, oder dem was man bis zum jüngsten Tag davon sehen wird, befindet. Der Mann spricht die Wahrheit. Man muss kein sonderlich religiöser Mensch sein, um die Schönheit dieses Ortes anzuerkennen. Warum genau der Boden dieser Kathedrale, die als Begrüßungs-Center fungiert, von knöcheltiefem Wasser geflutet ist, spielt keine Rolle. In Verbindung mit den abertausenden Kerzenlichtern entsteht nämlich ein unvergleichliches Farbenspiel, bei dem man glatt in Tränen ausbrechen möchte. Hmm, möglicherweise erklärt das ja den Wasserpegel…
Wie schon Rapture, der Schauplatz der ersten beiden BioShock, ist auch Columbia der Traum eines Mannes: Zachary Comstock, der sich selbst Prophet nennt und mit feurigem Eifer und wachem Blick über seine Herde wacht. Columbia ist Kirche und Staat in einem und im Gegensatz zum Unterwasser-Utopia steht hier noch ein Stein auf dem anderen. Ein Novum innerhalb der Serie, schießlich konnte man früher anhand von Tonbändern und der ruinösen Umgebung lediglich spekulieren, wie Rapture vor der Katastrophe ausgesehen haben muss. Columbia befindet sich hingegen an seinem Zenit. An Stelle von vagen Ahnungen tritt in BioShock Infinite kindliches Staunen.
Schon kurz nach dem Verlassen der Kathedrale bombardiert Columbia seine Besucher mit allerlei Eindrücken. Über uns strahlt der Himmel in sattem Himmelblau, unter uns ist nur eine dicke, weiße Wolkenschicht zu sehen. Worauf es ankommt, ist das, was sich dazwischen befindet: Ein gigantisches, schwebendes Archipel; jede einzelne Insel davon ein Monument für sich. Über manche davon schlängeln sich Prachtstraßen, welche von Bauten gesäumt sind, die geradewegs der Gründerzeit entstammen könnten. Wieder andere locken mit Vergnügungsparks oder Badestränden. Es fällt wahrlich nicht schwer, sich in dieser atmosphärisch dichten und mit einem irrwitzigen Detailreichtum ausstaffierten Spielwelt eines noch jungen 20. Jahrhunderts zu verlieren.
Das kann man getrost als Konzept bezeichnen. Ohne es zu merken, habe ich mich von der strahlenden Schönheit Columbias einlullen lassen. Ich fühlte mich pudelwohl in dieser Stadt und stimmte den Bürgern, die sich im Paradies wähnten, schon nach wenigen Schritten zu. Eine Stunde ungestörten Lustwandelns später, platzte meine Seifenblase. Während einer widerwärtig rassistischen Lotterie bekam das bis dahin makellose Bild Columbias hässliche Farbspritzer in blutrot ab. Plötzlich hielt ich eine Waffe in der Hand, streckte reihenweise Wachmänner mit Pistolenschüssen und magischen Kräften nieder und wurde daran erinnert, dass ich mich ja eigentlich in einem Shooter befinde.
Jener Bezeichnung wird BioShock Infinite aber nur teilweise gerecht. Natürlich kann das Spiel seine Shooter-Mechaniken nicht gänzlich verleugnen. Zugleich demonstriert es aber auch, dass es Chefentwickler Ken Levine vorrangig auf die ersten beiden Wörter in First Person Shooter ankommt. Wie schon die beiden Vorgänger will auch BioShock Infinite mehr sein als eine reine Schießbude, wenngleich sich die ersten Konfrontationen tatsächlich so anfühlen. Levine hat viel zu erzählen und tischt mal wieder ein buntes Themenmenü auf. In Infinite besteht es vor allem aus Nationalismus und dem damit verknüpften Rassismus. Abgeschmeckt wird das alles mit einem Schuss religiösen Fanatismus und dem fast schon obligatorischen Klassenkampf.
Nicht alle Themen werden mit derselben Sorgfalt behandelt und doch genügt es, um ein abwechslungsreiches Sittengemälde der columbischen Gesellschaft zu entwerfen. Die Idee der US-amerikanischen Überlegenheit drückt sich in opulenten Gemälden und Skulpturen aus. Eine Ordensbruderschaft huldigt gar dem Lincoln-Attentäter John Wilkes Booth und im Industriebezirk Finkton wird deutlich mit Motiven aus Fritz Langs Filmklassiker “Metropolis” gespielt. Zu den Teilen der Geschichte, die lediglich über die detaillierte Spielwelt transportiert werden, gesellen sich einmal mehr Tonbänder und neuerdings auch Stummfilme, die jeden Propagandaminister mit Stolz erfüllen würden.
Allerhand Tiefe für ein Spiel, in dem man sehr viel Zeit damit verbringt, die Leben seiner Gegner zu verkürzen. BioShock Infinite will mehr sein als ein stinknormaler Shooter von der Stange. Von dessen grundsätzlichen Mechaniken kann sich das Spiel aber dennoch nicht lösen: Auch in Columbia tauscht man Kugeln und Raketen auf herkömmliche Weise mit simpel agierenden Gegnern aus. Viel offensichtlicher ist aber, dass BioShock Infinite auf dem normalen Schwierigkeitsgrad kein besonders forderndes Spiel ist. Mit welchen der acht Kräfte man letztlich seine Gegner beharkt, spielt fast keine Rolle. Für die Waffen gilt dasselbe. Das geht sogar so weit, dass man es sich zweimal überlegt, ob man sein Geld für Upgrades ausgibt, die den Schwierigkeitsgrad nochmals deutlich senken würden.
Eine solche Redundanz kann man aber auch als Chance sehen. Gerade weil die Zusammenstellung des Arsenals so egal ist, laden die zahlreichen Scharmützel zum Experimentieren ein. Eine klare Vorliebe für bestimmte Kräfte und Waffen, hat sich bei mir jedenfalls nicht eingestellt. Ganz im Gegensatz zum ersten BioShock, wo einem direkt zu Beginn die vernichtende Kombination aus Elektroschock und Nahkampf, respektive Schrotflinte nahe gebracht wurde, mit der man im Grunde das ganze restliche Spiel bestreiten konnte. Überhaupt stehen in BioShock Infinite viel mehr Spielzeuge zur Verfügung, mit denen die Dynamik und Hektik in den Gefechten nochmal deutlich zunimmt.
So rase ich zum Beispiel an einer Skyline hängend an einer Gegnergruppe vorbei, picke mir raubvogelgleich den Schwächsten heraus und springe ihm mit angelegtem Skyhook ins Gesicht. Seine zwei Kollegen wollen Rache, werden von mir aber erst mal in die Luft gehoben und anschließend weggestoßen. Die können warten. Soeben hat sich ein Handyman, quasi das Pendant zu einem Big Daddy, angekündigt und schleudert mir auch schon einen toten Wachmann entgegen. Ich gehe diesem halbmechanischen Ungetüm mit Elektroschocks auf die Nerven, setze Öllachen unter ihm in Brand und versuche verzweifelt sein pumpendes Herz mit meinen Kugeln zu erwischen. Klick-klick-klick. Keine Munition mehr. Panisch renne ich umher, während mir der Handyman weiter auf den Fersen ist. Die vereinzelten Wachleute beschäftige ich mit einem Krähenschwarm, ein armer Teufel tappt in die vorher gelegte Feuerfalle. Dann endlich der rettende Ruf: “Booker!”. Ich hämmere auf die Viereck-Taste meines Controllers, Elizabeth wirft mir Munition für meinen Raketenwerfer zu, ich lade durch und gebe dem Handyman den Rest. Für die verbliebenen Gegner fehlen mir jetzt die Nerven. Elizabeth schafft mit einem beschworenen Geschützturm Abhilfe.
Elizabeth? Ja, genau. Erstmals bekommt man in einem BioShock einen Sidekick gestellt. Bereits nach wenigen Stunden wird die junge Dame von Booker befreit und weicht ihm von da an kaum noch von der Seite. Aus einem bis dahin traditionellen BioShock wird also plötzlich eine lange Begleitmission. Viele andere Spiele würden ab diesem Punkt unweigerlich abstürzen oder gibt es tatsächlich Leute, die Eskorten in Videospielen ernsthaft abfeiern? BioShock Infinite umschifft diese Klippe gekonnt, denn seine Begleitmission ist eigentlich gar keine. Altehrwürdige Statuten, nach denen NPC-Begleiter so clever wie ein Toastbrot oder so selbstständig wie ein auf den Rücken gedrehter Maikäfer sein müssen, gelten für Elizabeth nicht. Sie ist anders. Sie ist einfach nur da.
Elizabeth ist ein Wagnis, ein regelrechter Drahtseilakt, den Ken Levine und seine Kollegen bravourös gemeistert haben. Auf dem Papier ist Elizabeth kaum mehr als die Karotte, anhand derer man durchs Spiel gelotst wird. Damit würde man der Figur aber Unrecht tun. Zu jeder Sekunde kommuniziert Elizabeth auf irgendeine Weise. Sei es nonverbal, wenn sie etwa eine Vitrine neugierig mustert und den Spieler somit auf einen interessanten Punkt in der Welt aufmerksam macht. Oder sei es in kurzen Wortfetzen, mit der sie das Geschehen mal schnippisch, naiv oder ernst kommentiert. Elizabeths Reaktionen drücken sich nicht nur in Extremen aus, sondern vermögen auch die leisen Zwischentöne, etwa mit einer unscheinbar hochgezogenen Augenbraue, anzuschlagen. Gleich mehrfach hielt ich beim Spielen inne, um Elizabeth dabei zu beobachten, auf welch oft überraschende Art und Weise sie mit der Spielwelt interagiert.
Sie ist eine Figur, die man einfach gerne in seiner Nähe weiß. Sie ist der wohl bis dato – sorry Alyx – lebendigste NPC, mit dem man je in einem Videospiel zu tun hatte. Einer, dessen Reaktionen nachvollziehbar sind und der uns im Kampf mit Munition, Geld oder Erste-Hilfe-Paketen versorgt. Umso schmerzlicher vermisst man sie, wenn sie mal für ein paar Minuten nicht an unserer Seite weilt. Womöglich ist das auch schon das größte Kompliment, das man dieser Figur machen kann: Wenn sie fehlt, dann fehlt sie wirklich.
Gibt es in BioShock Infinite überhaupt Anlass für Kritik? Durchaus. Ich könnte mich an dieser Stelle darüber beklagen, dass Columbia von Klonen bevölkert wird und Diebstähle keine Folgen haben. Oder tierisch darüber motzen, dass vieles nur Kulisse ist und ich fast gar nicht mit der Umgebung interagieren kann. Aber ganz ehrlich? Das ist mir alles so schnurzpiepegal. Wer das Haar in der Suppe sucht, wird auch fündig. Ich hingegen kann das ein oder andere Härchen zwischen meinen Zähnen verkraften, wenn der Rest so grandios inszeniert ist, wie im Fall von BioShock Infinite.
BioShock Infinite hat für mich von vorne bis hinten funktioniert. In jedem Moment schien das Spiel zu wissen, welche Knöpfe es bei mir drücken muss, um mich in Begeisterung zu versetzen. Sollte wirklich jemand nur bis hierhin gelesen haben, in der Hoffnung ein objektives Fazit vorzufinden, tut’s mir ehrlich leid. Denn das stilsichere Design der Welt, Elizabeth und natürlich die ebenso komplexe wie meisterhaft konstruierte Geschichte, die einiges an Diskussionspotenzial zu bieten hat, sind so miteinander verwoben, dass daraus ein Spielerlebnis entstanden ist, das mir mehr als einmal die Sprache verschlagen hat. Es war mir eine Freude daran teilhaben zu dürfen.
Dafür meinen herzlichsten Dank, Herr Levine.
3 Kommentare
Toller Artikel.
Eine Korrektur: Diebstahl wird bestraft, allerdings nur an bestimmten Stellen. So kann man in einem Geschaeft und einer Polizeiwache spaeter im Spiel frei herumlaufen (sofern man nicht sowieso alle Wachen erschossen hat), diverse Gegenstaende erscheinen mit roter Schrift – sackt man diese ein, werden die NPCs aggressiv.