Ich möchte einmal eine Diskussion zwischen Gunnar Lott, seines Zeichens Chefredakteur der GameStar, und einem wilden Blogger-Lynchmob zum Anlass nehmen, ein wenig über die Problematik der Bewertung von Computerspielen zu sinnieren.
Besagte Diskussion fand kürzlich auf Antigames statt und lief nicht ganz so, wie ich es mir vielleicht gewünscht hätte. Auf der einen Seite steht die berechtigte Kritik an mathematisch gemittelten Wertungszahlen, welche wirklich durch nichts logisch zu rechtfertigen sind, auf der anderen Seite ein immerhin gesprächsbereiter Herr Lott, der aber nicht so recht aus der Hüfte kommen konnte, weil man ihn nicht ließ…
Nicht dass wir uns hier falsch verstehen: Stammleser wissen nur zu gut, wie ich zu GameStar und Konsorten stehe, aber wenn schon mal ein Vertreter dieses Lagers gewillt ist, zu diskutieren, dann sollte man die Gelegenheit auch sinnvoll nutzen. Anfangs verharrte Herr Lott zwar in der Position des Chefredakteurs, der sich schützend vor sein Blatt und seine Kollegen stellt, räumte dann aber auch Schwächen des Wertungssystems ein und kam der Gegenseite in kleinen Trippelschritten entgegen. Schade nur, dass sein Entgegenkommen von einigen Teilnehmern als Schwäche und als Einladung zum Nachtreten gewertet wurde…
Hier soll es aber eigentlich nicht um Herrn Lott oder die GameStar im Speziellen gehen, sondern um den generellen Unsinn, Unterhaltungsmedien wie eine Waschmaschine bewerten zu wollen. Die Unsinnigkeit ergibt sich ganz einfach aus dem Umstand, dass Unterhaltung eine sehr individuelle und vor allem höchst subjektive Sache ist.
Es gibt schon einen guten Grund dafür, dass die Stiftung Warentest eher Mikrowellen und Haartrockner testet und keine Bücher oder DVDs: Bei Geräten des täglichen Lebens gibt es einen klar gesteckten Zweck und man kann daher auch überprüfen, wie gut ein Gerät diesen Zweck erfüllt. Hinzu kommen dann noch sekundäre praxisrelevante Kriterien, wie z.B. die Lautstärke und der Wasserverbrauch einer Waschmaschine. Und ganz wichtig ist natürlich noch der Vergleich mit ähnlichen Produkten, denn jeder weiß, dass der Mensch kein Absolut-, sondern ein Vergleichswahrnehmer ist. Obwohl man Haushaltsgeräten durch standardisierte Prüf- und Messverfahren auch klare Zahlenwerte zuordnen kann, bringt mir als Verbraucher der Stromverbrauch einer einzelnen Waschmaschine noch relativ wenig. Ich muss ihn mit den Werten anderer Waschmaschinen vergleichen können, um den Wert einordnen zu können. Dieses System funktioniert bei Kühlschränken, Fernsehern und elektrischen Zahnbürsten ja auch ganz gut.
Kriminell absurd wird das Ganze allerdings, wenn man versucht dieses System auf Medien zu übertragen, deren einziger Zweck die Unterhaltung ist, denn eben jene entzieht sich objektiven Kriterien meist völlig. Ich bin ja nicht einmal grundsätzlich gegen Bewertungen in Form von Zahlenwerten. Wenn der Rezensent einer Musik-CD dieser einen Wert zwischen 0 und 10 gibt, dann ist das seine persönliche Einordnung auf seiner persönlichen Unterhaltungsskala. Die Erklärung zu diesem Zahlenwert liefert er in seinem Rezensierungstext. Und sofern ich den Rezensenten bzw. das entsprechende Magazin einzuordnen weiß, kann ich mir dann selbst überlegen, ob diese CD etwas für mich sein könnte. Gleiches ist auch bei Filmen, Büchern oder Computerspielen in Ordnung.
Wenn nun eine Musikzeitschrift hin geht und einen zweiten Zahlenwert für die Qualität der Aufnahme bzw. Produktion vergibt, dann ist dies eigentlich auch in Ordnung. Immerhin gibt es auch Audiophile, die diese Information stark in ihre Kaufentscheidung einfließen lassen.
Führt diese Musikzeitschrift nun noch weitere Werte für die Covergestaltung, die Frisur des Sängers und das Gewicht des Booklets ein, so wäre das zwar recht skurril, aber immer noch in Ordnung, so lange diese Zahlen nicht zu einer gemittelten Endbewertung zusammengefasst werden. Würde diese Musikzeitschrift nun aber genau dies machen, also auch die (extrem subjektiv bewertete) Frisur des Sängers in die abschließende Bewertung einer Musik-CD einfließen lassen, würde sich wohl jeder Leser gegen die Stirn schlagen und im folgenden Monat vom erneuten Kauf dieses Magazins Abstand nehmen. Und das Magazin… tja, das wäre dann wohl eine Spielezeitschrift, die Musik-CDs testet, denn genau so testen 99% aller Spielemagazine die Spiele.
Viele Magazine entgegnen Kritikern, dass die Prozentwertung nur der schnellen Übersicht dient (was ohnehin schon unsinnig genug ist, denn ein Vergleich verschiedener Spiele anhand der Prozente stände dem sprichwörtlichen Vergleich von Äpfeln und Birnen in nichts nach…) und man anhand des Textes herausfinden kann, ob und wo das Spiel im Detail seine Stärken und Schwächen hat. Aber erstens stimmt dies meist nicht (ich habe in eingangs erwähnter Diskussion bei Antigames beispielsweise auf den lächerlich unfähigen Test von Silent Hill 2 in der GameStar 2/2003 von Heinrich Lenhardt verwiesen) und ist nur eine Schutzbehauptung seitens der Magazine und zweitens, nur mal angenommen ersteres würde der Wahrheit entsprechen, wurde die Kernzielgruppe dieser Magazine über die Jahre dermaßen auf Prozentwertungen konditioniert, dass eine Differenzierung seitens des Durchschnittslesers wohl reines Wunschdenken darstellt. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang noch gut an einige Kommentare zu unseren ersten Artikeln hier, die uns vorwarfen, wir wären ja sowas von subjektiv (= scheiße). Ja sicher sind wir das! Das ist doch eine unserer Zielsetzungen hier: Wir sind höchst subjektiv, weil objektiv gar nicht geht. Und im Gegensatz zu den meisten Magazinen tun wir auch gar nicht erst so, als wären wir objektiv…
Aber an diesen Kommentaren konnte man ganz gut erkennen, wie sehr der durchschnittliche Spieler auf diese pseudo-objektiven Wertungen abonniert ist.
Aber gibt es nicht vielleicht doch eine Möglichkeit, Unterhaltung irgendwie zu messen? Nun, man könnte eine repräsentative Gruppe von Konsumenten befragen, so wie es gerne bei Testscreenings von Filmen gemacht wird. Allerdings wird auch hier, egal wie detailliert der Fragebogen am Ende ist, auch nur eine Durchschnittsmeinung ermittelt. Minderheiten und Ausbrecher fallen nicht weiter ins Gewicht. Dieses Verfahren mag für die Prognose des Markterfolges von Massenware á la Hollywood (oder Electronic Arts) ein Stück weit funktionieren, aber bei etwas anspruchsvollerer und/oder ausgefallenerer Unterhaltung scheitert dies meist schon an der Zusammenstellung der Testgruppe.
Ein anderer Ansatz ist die reine Bewertung von Verkaufzahlen. Mal davon abgesehen, dass man nicht erst den Verkaufserfolg abwarten kann, wenn man sich die Kaufberatung des Konsumenten auf die Fahnen geschrieben hat, möchte ich mal folgenden dummen Spruch zitieren: „Scheiße ist geil! Milliarden von Fliegen können nicht irren!“ Ich denke, ich muss das jetzt nicht weiter erläutern…
Es ist wohl klar geworden, dass Unterhaltung nicht wie der Stromverbrauch eines Kühlschranks absolut messbar ist. Nichtsdestotrotz geben Spielemagazine Spielen ganz konkrete Punkt- bzw. Prozentzahlen. Dies tun sie schon lange nicht mehr nach einer relativen Skala, wie ich sie weiter oben am Beispiel der CD-Rezensionen beschrieben habe, sondern nach immer ausgefeilteren Systemen, die beim Leser die Illusion der Objektivität erzeugen sollen. Und spricht man sie darauf an, hat man teilweise das Gefühl, sie würden inzwischen selbst an diese Objektivitätslüge glauben…
Da werden viele Einzelkriterien benotet und dann mit unterschiedlicher Gewichtung per Excel-Sheet in eine Endwertung eingebracht, welche rein rechnerisch über jeden Zweifel erhaben ist. Nur mit dem kleinen Schönheitsfehler, dass man Unterhaltung und Spaß eben nicht berechnen kann. Und das schon gar nicht für jeden Spieler! Ich verrate wohl kein großes Geheimnis, wenn ich Euch sage, dass man über Geschmack nicht streiten kann…
Wie dieser Bewertungswahnsinn in der Spielepresse entstanden ist, weiß wahrscheinlich keiner mehr so recht. Irgendwie ist er gewachsen. Bewertungssysteme wurden irgendwann von irgendwem aufgestellt, dann wieder von jemand anderem kritisiert, worauf ersterer mit einem noch abstrakteren, weil weniger anfechtbarem System konterte. Das bisherige Ergebnis dieser realsatirischen Entwicklung kann sich jeder selber am Kiosk seines Vertrauens anschauen.
Als Nebenprodukte dieses selbstauferlegten Zwanges der Scheinobjektivität kommen dann auch noch solche Dinge wie „Wertungskonferenzen“ dabei heraus, die die Wertungswillkür vollends wasserdicht gegen jede Kritik machen sollen. Also ich muss schon sagen, diese Wertungskonferenzen sind eine tolle Sache: Da sitzen 10 bis 20 Redakteure am Konferenztisch und der jeweilige Tester erzählt den anderen, warum er dieses oder jenes Spiel toll oder scheiße findet. Im Idealfall haben es sogar noch 2 oder 3 andere Leute am Tisch angespielt (für mehr hat man als festangestellter Redakteur meist keine Zeit, weil man ja seine eigenen Testobjekte auf dem Zettel hat). Also wird, höchstens mit leichter Auf- oder Abwertung, die Meinung des hauptverantwortlichen Testers von den anderen abgenickt. Ein „Hoch!“ auf die Demokratie und die Transparenz! Und wie kommt die Wertung des eigentlichen Testers zustande? Natürlich ist es seine ganz eigene subjektive Bewertung. Geht ja auch gar nicht anders. Außerdem leben wir ja in einem freien Land und jeder hat das Recht auf eine Meinung. Aber um Himmels Willen, verkauft das ganze doch bitte nicht als ein objektiv gemessenes und gegengerechnetes Faktum wie die Erdanziehungskraft oder die Lichtgeschwindigkeit! Da kommen sich intelligente Menschen ganz schnell richtig verarscht vor…
Als ironische Fußnote möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass sich der Spielemarkt in all den Jahren inzwischen teilweise den Bewertungssystemen angepasst hat: Wenn man sich die Shooter-, Renn- und Sportspiele der letzten Jahre, insbesondere die von EA, so anschaut, stellt man fest, dass dieses abstruse Bewertungsschema der Zeitschriften teilweise sogar wie die Faust aufs Auge passt. Nehmen wir mal die FIFA-Reihe: Hier kann man tatsächlich eine gewisse objektive Vergleichbarkeit zwischen den Teilen schaffen, indem man sie in ihre Einzelteile zerlegt und diese dann bewertet. In solch einem Fall kann man dann sogar ganz korrekt Äpfel mit Äpfeln vergleichen…
Aber das nur am Rande.
Die Lösung des Bewertungsdilemmas wäre eigentlich ganz einfach:
Man müsste einfach nur den Kern des ganzen Problems einsehen und „Ja!“ zur ohnehin vorhandenen Subjektivität des Testers sagen. Wenn ein Redakteur, der eigentlich nicht auf Grusel-Adventures steht, ein solches aus redaktionellen Gründen eben doch besprechen muss, dann kann er dies doch einfach ganz klar in seinem Artikel sagen, es aus seiner Sicht beschreiben, bewerten und dann am Ende trotzdem einräumen, dass das Spiel den Fans dieses Genres oder vergleichbarer Spiele dennoch ganz große Freude bereiten kann. Wo ist das Problem? Hat man Angst vor den vielen Leserbriefen, in denen Leser ihre Sicht der Dinge der des Testers entgegenstellen? Wenn allen, also Autoren wie Lesern, klar ist, dass jede Rezension nur eine, wenn auch (hoffentlich) fundierte, Meinung von vielen ist, dann ist doch alles in Butter!
Allerdings ist man leider bei der Mehrzahl der Magazine (und ich rede hier keinesfalls nur von Printmags, sondern schließe die meisten Onlinemagazine ebenfalls ein) vollauf damit beschäftigt, die selbstaufgebaute Objektivitätslüge aufrechtzuerhalten und weiter auszubauen, so dass für ehrliche Selbstreflexion keine Zeit bleibt. Und selbst wenn man sich diesen Kardinalsfehler eingestehen würde, hätte man da noch ein kleines Problem: Wie erklärt man einer ganzen Generation von Computer- und Videospielern, dass man sie jahrelang verarscht hat…?
4 Kommentare
Besser spät als nie – aber ich bin erst durch einen neueren Titel auf diesen hier gestoßen und möchte ganz kurz ein paar Worte dazu los werden :)
[quote]Wie dieser Bewertungswahnsinn in der Spielepresse entstanden ist, weiß wahrscheinlich keiner mehr so recht. [/quote]
Das Problem der (neueren) Menschheit besteht einfach darin, dass keiner mehr selber denken will. Es ist doch viel bequemer die vorgefertigte Meinung eines anderen zu übernehmen. So steht man mit “seiner” Meinung nicht alleine da und brauchte sich auch nicht selber den Kopf darüber zu zerbrechen. Es ist doch viel schwieriger seine (wirklich) eigene Meinung zu verteidigen, besonders wenn die meisten das anders sehen.
Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich diese viel und gern genutzten Bewertungsverfahren größter Beliebtheit erfreuen. Und die Nachfrage regelt ja teils immer noch das Angebot.
Es freut mich ja immer, wenn unsere Leser auch mal im Archiv stöbern. Dieser Artikel ist übrigens einer der Gründe, warum mich die “Christian-Schmidt-Gate-Geschichte” kürzlich total angenervt hat: Diese Diskussion ist ein ganz alter Hut. Und die Tatsache, dass Herr Schmidt 7 Jahre (!) nach Gillen’s NGJ-Manifest feststellt, dass er und seine Kollegen seit mehr als 2 Jahrzenten Bullshit verfassen, ist nicht sensationell, sondern höchst beschämend (für ihn). Und dass in der aktuellen Diskussion so getan wurde, als gäbe es all das, was Schmidt fordert, gar nicht (oder wenn, dann höchstens nur im englischsprachigen Raum), ist ein Schlag ins Gesicht aller deutschen Spieleblogger der ersten Stunde…!
Schade, dass wir die Original-Kommentare der alten Artikel nicht retten konnten, denn dort wurde eigentlich alles schon gesagt, was dieser Tage wieder diskutiert worden ist.
Hast du zufällig Links zur von dir angesprochenen “aktuellen” Diskusion? Ich bin kein großer Leser von Zeitschriften ;)
Ok – hab was gefunden. den Spiegel-Artikel von Christian und die Antwort von Schnelle …
Jetzt weiß ich wieder warum ich keine Reviews lese – weder bei Spielen noch bei Musik. Oder wenn, dann nur ganz viele Verschiedene. Und dabei müssen mindestens genauso viele negative Kritiken wie positive dabei sein, sonst ist das eh alles unrealistisch. Nur so kann ich mir aus der Erfahrung vieler verschiedener “User” eine eigenes Bild vom evtl besvorstehenden Neukauf machen.
Ja ich denke auch, dass das Thema Spieletest bzw Spielebewertung die Meute teilt. Man kann es halt nicht jedem Recht machen: einer will technische Details des Spiels und ein anderer nur die Umsetzung der Geschichte. Da lohnt es sich, wie in vielen anderen Bereichen, gar nicht drüber zu diskutieren.