Meinen Winterurlaub 2015/16 verbrachte ich in Oslo, der Hauptstadt Norwegens. Wer jetzt denkt, dass es nicht besonders klug ist, während des Winters ausgerechnet in ein Land zu fahren, welches wegen seiner relativen Nähe zum Polarkreis zu dieser Zeit noch weniger Sonnenstunden aufweist als Deutschland, der mag damit Recht haben. Irgendwas im Süden wäre die objektiv bessere Wahl für eine Urlaubsreise gewesen, das bestreite ich nicht. Doch hatte ich Oslo nie zuvor besucht und da ich für Anreise und Logis nur wenig Geld ausgeben musste, fuhr ich halt hin.
Oslo ist irgendwann mal von irgendwem zu einer der hässlichsten Großstädte Europas gekürt worden. Warum jemand auf die Idee kam, die Stadt in eine solche Rangliste aufzunehmen, offenbart sich dem Besucher, sobald er den Hauptbahnhof verlässt: Alles ist ziemlich grau, auf jedes hübsche historische Gebäude kommen mindestens drei unansehnliche Klötze. Verlässt man das Zentrum, wird es nicht besser, da reißen auch die bunten Holzhäuschen nichts raus. Klar ist der Fjord gerade bei Nacht sehr ansehnlich und auch das Rathaus versprüht dank schmeichelhafter Beleuchtung reichlich Charme, aber als schön mögen die Stadt trotzdem nur wenige bezeichnen.
Völlig anders schaut es innerhalb der Wohnungen der Norweger aus. Was die Fassade vermissen lässt, bietet der Innenraum in ungeahnter Fülle. Schon beim Betreten eines Flurs oder Vorraums gewinnt der ungeschlachte Deutsche den Eindruck, dass hier alles stimmt und an seinem rechten Platz ist. Nichts wirkt zufällig, auf den ersten Blick fühlt der Gast sich an die perfekt komponierten Fotos aus dem IKEA-Katalog erinnert. Beim zweiten Hinsehen offenbaren die Räume jedoch etwas, das den sterilen Möbelarrangements der Einrichtungsprofis völlig fehlt.
“Peri hypsous” lesen. Robert Burke nicht verstehen.
Die Norweger selbst mögen die dort vorherrschende Atmosphäre als „hyggelig“ oder „koselig“ bezeichnen. In Ermangelung solch onomatopoetisch treffsicherer Ausdrücke bleibt dem Deutschen nur die Feststellung, dass es hier sehr „gemütlich“ ist. Die Räume wirken bewohnt bzw. benutzt und gleichzeitig irritierend museal. Sobald er die anfängliche Scheu überwunden, ein oder zwei Kerzen aufgestellt und sich in eines der geschmackvollen Sofas geflätzt hat, entspannt sich der Gast und fühlt sich wohl. Im gleichen Moment wird ihm schmerzlich bewusst, dass er bei dem Versuch nach der Rückkehr ins eigene Land seine Wohnung ähnlich zu gestalten, jammervoll versagen wird, weil er ja nur ein grober Deutscher ist.
Coldwood Interactive, die Entwickler des Puzzle-Platformers Unravel, sind keine Norweger. Martin Sahlin, Kopf des Studios, Sympathikus und Nervenbündel, kommt aus Umeå in Schweden, dessen umgebende Landschaft Pate für das Weltdesign in Unravel gestanden hat. Von den Wiesen, Feldern und Wäldern um Oslo habe ich nur wenig gesehen, weil in meiner Zeit dort so viel Schnee drauf lag. Doch als ich Unravel startete und das Intro in dem Haus mit der alten Dame und dem aus dem Korb plumpsenden Wollknäuel sah, da dachte ich mir, dass das alles doch schon sehr hyggelig aussieht.
Unravel ist wunderhübsch und weil das da oben doch unter uns gesagt eh alles das Gleiche ist, im besten Sinne skandinavisch. Die Wiesen sind saftig, der Sonnenschein gülden, der Wald dicht und die See… nun, maritim. Alles ist schön und eine wahre Pracht. Spielerisch präsentiert Unravel sich schlicht: Yarni ist ein kleiner Garnklops, der immer weiter abribbelt, umso weiter er sich von der Stelle entfernt an der sein Faden festgeknotet ist. Auf seinem Weg findet er Wollknödel, an denen er seinen Fadenvorrat auffüllt und ist er komplett abgespult, kommt Yarni nicht weiter und sieht zudem ganz ausgemergelt aus. Armer Yarni!
Im Hintergrund: Der Rausch der Berge.
Um Hindernisse zu überwinden, kann der Wolldödel ein Garnlasso nach bestimmten Nägeln, Haken, Vorsprüngen o.ä. werfen, an denen es sich verfängt und sich dort hochziehen oder vorbeischwingen. Spannt er eine Schnur zwischen zwei Punkten, fungiert diese als Trampolin, mit dem er sich hochkatapultieren kann oder als Brücke, über die er Gegenstände zieht. Der Löwenanteil des Gameplays besteht aus solchen oder ähnlich gearteten Umgebungsrätseln, die bis auf einige unlogische bis birnige Ausnahmen relativ leicht gelöst werden können.
Spielerisch überschlägt sich Unravel also nicht unbedingt vor Innovation. Seinen größten Reiz bezieht es nicht aus den zu lösenden Aufgaben, sondern aus seiner Präsentation. Yarni ist ein putziger Geselle und guckt und tappst so unbeholfen durch die Gegend, dass es einem das Herz erwärmt. Doch sein Design hat auch abseits aller Knuddeligkeit eine Bedeutung, denn in Unravel geht es irgendwie um Freundschaft, das hatte der Nervositätsbolzen Sahlin auf der Bühne bei der E3 damals erklärt. Und Freundschaft ist gut, da kann man nichts dagegen sagen.
Tatsächlich hält sich Unravel nicht mit feinsinnigen Metaphern auf, sondern schmiert uns seine Symbolik extra dick aufs Brot. Yarnis Faden ist die Verbindung zur Heimat, zu Freunden und Familie. Er reißt nicht, auch wenn wir unsere Heimat verlassen. In den Levels tauchen gelegentlich Schemen von Menschen auf, die die bis auf Yarni und verschiedenes Getier unbevölkerte Szenerie wohl früher mit Leben gefüllt haben. Zudem werden nach jedem gelösten Level Fotografien freigeschaltet, die Szenen aus dem Leben der alten Dame aus dem Intro, der mutmaßlichen Haus- und Garnbesitzerin, zeigen. Auf diesen Bilder sehen wir eine glückliche Vergangenheit und Menschen, die gut gelaunt in der Natur herumhängen. Manche von ihnen tragen sogar einen Fjäll-Räven-Rucksack.
Ob die Geschichte am Ende irgendwie schlüssig aufgelöst wird oder einfach weiter vor sich hin mäandert, kann ich nicht sagen. Obwohl Unravel nicht besonders lang sein soll, habe ich es nicht beendet. Denn man könnte nach obigen Zeilen zwar vermuten, dass ich das Spiel ganz schön prima finde, mit all seiner Niedlichkeit und Hyggeligkeit, aber so einfach liegt der Fall dann doch nicht. Denn zwischen den vielen „Ah“- und „Oh“-Momenten, die mir Unravel bescherte, watete ich durch relativ viel Nichts. Spielerisch fühlte ich mich nicht sonderlich angemacht und wurde dem Geschwinge und Geknüpfe stellenweise ziemlich überdrüssig, manche Elemente (Krebse und Mücken!) nervten mich schwer.
Ich habe etwas im Auge!
Besonders störend wirkte auf mich allerdings der Soundtrack, ein folkloristisch verquaster Klebekitsch erster Ordnung, der in dieser Form verboten gehört. Ob es sich hier ebenfalls um etwas aus der Schublade „typisch skandinavisch“ handelt, vermag ich nicht zu beurteilen. Die einzige skandinavische Musik mit der ich mich auskenne, ist norwegischer Black Metal und danach hörten sich die seifigen Kompositionen wahrlich nicht an. Das ist sehr, sehr schade.
Am Ende ist Unravel leider ein „Shower“, kein „Grower“. Anfangs fasziniert, war ich recht schnell ermüdet und widmete mich nach Feierabend lieber anderen Dingen, als diesem eigentlich schönen Spiel. Und das ist ja immer ein ganz schlechtes Zeichen. Vielleicht war ich auch einfach noch so satt vom famosen Firewatch, dass ich für ein eher durchschnittliches Spiel keinen Platz in meinem Herzen hatte, wer weiß. Doch trotz allem kann sich der Flusengnom Yarni meiner ewigen Sympathie gewiss sein. Allein die Szene, in der er sich einen Wollfisch an die Brust nimmt und ihn nach allen Regeln der Kunst herzt, bescherte mir trotz (oder wegen?) ihrer Kalkuliertheit leicht feuchte Augen.
Aber was soll ich sagen, ich bin nur ein sentimentaler, ältlicher Herr, der es hyggelig und koselig mag und nicht so recht weiß, wohin er als nächstes in den Urlaub fahren soll. Schweden böte sich an, zu diesem Land habe ich ja jetzt schon praktisch eine emotionale Verbindung aufgebaut. Obwohl mir die Sprache nicht so gut gefällt, wie das immer etwas niedlich klingende Norwegisch. Außerdem sieht Oslo, wenn gegen 15 Uhr die orangefarbene Straßenbeleuchtung anspringt, um sich gegen die hereinbrechende Dunkelheit zu stemmen, doch ein bisschen schöner aus, als man tagsüber vermutet hätte. Und wenn die Norweger sich angetan mit schicken Kleidern abends im Wohnzimmer am Klavier treffen und bereits leicht angetrunken Volksweisen schmettern, dann stehe ich gerne am Rand und murmele in mich hinein: „Ich bin eher Norweger, denn Schwede. Aber eigentlich ist Skandinavien insgesamt ziemlich okay“ und streiche mir mit der Hand über meinen Bart.
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