Die Faszination der Killerspiele ist ungebrochen. Die Langzeitauswirkungen dieses furchterregenden Mediums sind bisher nicht abzusehen. Oder etwa doch? Wir trafen uns mit Speter Drei (Name von der Redaktion geändert), der nach eigenen Angaben schon seit seiner Kindheit diesem unheilvollen Hobby frönt.
Das Folgende mag auf den einen oder andern erschreckend wirken, aber es ist unsere Pflicht als journalistisches Medium, Ihnen auch diese traurige Seite der Realität zu zeigen.
Eine deutsche Großstadt, der Himmel grau, die Gesichter der Menschen abweisend. Hier wohnt Speter Drei in einer billigen Zweizimmerwohnung mit einem Mitbewohner. Speter ist laut seines Personalausweises ein junger Mann, doch ein Blick in sein Gesicht zeigt etwas anderes: Verlebt sieht er aus, der Kraft seiner jungen Jahre beraubt. Seine Finger immer in Bewegung, sein Blick stets unruhig hin- und herwandernd, gibt er ein trauriges Bild ab. Wie er mir jedoch versichert, spielten herkömmliche Drogen nie eine Rolle in seinem Leben. Ich nähere mich ihm mit Vorsicht, weiss ich doch, dass die vielen Jahre des Killerspielezockens ihn mit unmenschlichen Reflexen und übernatürlicher Geschicklichkeit ausgestattet haben müssen. Der Blutdurst, der sicherlich ihn ihm wüten muss, ist von Laien nicht erkennbar. Lassen wir ihn selbst zu Wort kommen:
“Es fing alles mit einem Sinclair QL an..”
“Entschuldigen Sie, Sie müssen diese Fachbegriffe für unsere Leser erläutern. Um was für eine Waffe handelt es sich hierbei genau?”
Seine Augenbrauen senken sich, sein missbilligender Blick fällt auf mich, den Interviewer. Habe ich ihn mit meiner Unkenntnis beleidigt? Ich greife nach dem Pfefferspray, welches ich sicherheitshalber mitgebracht habe, aber er scheint sich noch unter Kontrolle zu haben. Puuh, das war knapp!
“Der Sinclair QL war mein erster Computer. Ich war noch jung, ich wusste ihn nicht zu schätzen. Irgendwann war der Monitor kaputt, weil ich mich immer draufgesetzt habe. Später hatte ich dann einen C64, und da wurde es richtig schlimm …”
Speter blickt an die Decke, als ob die Erinnerung an seine Kindheit schmerzhaft wäre. Doch schon im nächsten Moment ist dieser Eindruck wie weggewischt, denn er spricht mit einer unerwarteten Begeisterung:
“Das Spiel hieß Nippon, das war ein Rollenspiel aus dem C64’er-Verlag. Im Intro-Screen stand im Fließtext, dass man für das Durchspielen mit Lösung acht Stunden benötigen würde, was uns damals unglaublich lange vorkam. Die Spielwelt war von japanischer Mythologie beeinflusst und für damalige Verhältnisse riesig. Das Spiel war vollkommen unlinear, und ehrlich gesagt hab ich nie ganz kapiert, was man überhaupt machen sollte. War aber auch egal, weil man so viel tun konnte. Man konnte Artefakte finden, schwimmen lernen, Buddhas anbeten für bessere Attribute, zaubern, mit einem Schiff die Welt bereisen, unglaublich viele Städte und Dörfer entdecken, mit Hunderten von Figuren reden, im Gespräch zwischen sieben verschiedenen Emotionen wählen, mit welchen man dem Gegenüber begegnet, zum Beispiel “Freundlich” oder “Fromm”, Wachhunde und Sklaven kaufen, ausserdem verschiedene Rüstungen und Waffen und -”
An dieser Stelle schreckte ich auf, war ich doch fast weggenickt während dieses Monologs.
“Aha, Waffen – also musste man töten, nicht wahr?”
“Ja, wenn man in den Kampfmodus ging – was im Übrigen nur in der Oberwelt ging, nicht in den Städten, Dungeons gab es sowieso nicht – wurde der sonst scrollende Bildschirmausschnitt eingefroren, und der Kampf dann in Echtzeit ausgetragen. Es gab Fern- und Nahkampfwaffen, und Drachen, Harpyen, Fledermäuse, Ninjas, Samurai, Händler, Bauern, Seewürmer und nochn paar als Gegner. Man konnte aber theoretisch immer fliehen, nur die wenigsten Gegner waren schneller als man selbst, und Erfahrungspunkte gabs eh nicht. Na ja, auf jedenfall hab ich ganze Sommerferien vor diesem Spiel verbracht, und weder ich noch meine Freunde haben es je durchgespielt. Ich glaube, man konnte auch irgendwie durch die Zeit reisen, aber dabei bin ich dann an Altersschwäche gestorben. Tjo.”
“Ich verstehe” sage ich und blicke auf die beiden Wörter, die ich mir auf meinen Notizzettel geschrieben habe. “Also, wie haben sie sich dabei gefühlt, wenn sie Händler und Bauern getötet haben?”
Er schaut mich verwirrt an. Haben die verfluchten Spiele sein Hirn schon so weichgekocht, dass er selbst diese einfache Frage nicht mehr versteht?
“Naja, die waren beide nicht mehr wirklich schwer, wenn man schon ein bisschen gespielt hatte. Die Tatsus waren übel, die haben manchmal ein ganzes Dorf verbrannt, weil das Spiel lief auch weiter, wenn man die Stadt-Diskette einlegen musste, und dann konnte man sich ja schlecht wehren, wenn man die Floppy öffnet. Ich hab das ewig nicht mehr gespielt, aber ich glaube die Goldroute zwischen Watashibune und Hayagake-Do würde ich immer noch ohne Probleme finden. Die musste man nämlich oft rennen, weil in Hayagake-Do gab es hinter einer verschlossenen Tür acht Felder Gold, aber Schlüssel gab es nur in Watashibune, und ein Schiff kostete 1500 Gold, und …”
Ich erspare ihnen den Rest dieses unsinnigen Gewäschs. Ich hatte während des Gesprächs oft das Gefühl, als ob wir verschiedene Sprachen sprachen. Doch was soll aus der Psyche eines beeinflussbaren Kinds werden, wenn es monatelang nur Bauern tötet? Gut, so richtig gefährlich sieht er nicht aus, wie er mir da mit leuchtenden Augen gegenübersitzt und seine Kindheitserinnerungen schildert, aber oft ist es ja nur ein einziger Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Ich höre ihm weiterhin zu, immer ein Ohr auf die versteckten Gewaltschilderungen, die sich im Subkontext verbergen. Speter erzählt von einer 20-Stunden-Session Planescape: Torment, verwirrt mich dann jedoch, so dass ich nachhaken muss:
“Herr Drei, sie sagen, sie haben 20 Stunden lang ein Spiel gespielt, in dem man selbst nicht sterben kann und Gewalttaten begeht, haben dann direkt anschliessend ihre Ablehnung an der hiesigen Universität aus dem Briefkasten geholt und sind nicht Amok gelaufen?“
“Das ist richtig.”
“Sind Sie sicher? Nicht einmal ein paar Professoren oder Sekretärinnen an der Universität bedroht oder geschlagen?”
“Nee. Eigentlich war ich über das Durchspielen so euphorisch, daß die Ablehnung nicht mehr so wild war. Ausserdem wurde ich dann ja im nächsten Semester angenommen.”
Ich schüttele mitleidig den Kopf. Denn ist dies doch das beste Beispiel für die Gefahr von Mordsimulationen: Die Welt im Computer erscheint selbst auf der emotionalen Ebene echter, wertvoller als die Realität. Vor mir sitzt ein menschliches Wrack, ein gefährliches dazu. Unser Gespräch wird unterbrochen von den lauten Schreien seines Mitbewohners im Nebenraum, ich frage Speter, was da vorgeht. Ich erfahre, daß er Battlefield spielt: eine Kriegssimulation, im beängstigenden Maße realistisch. Hunderte und Aberhunderte beeinflussbare junge Männer begeben sich Tag für Tag in diese Traumwelt, in der sie der Held sind, in der Tod, Amputation und Kriegsverbrechen (oder wie sie es nennen: Coolateralschaden) Spaß sind. Die besten unter ihnen, die es schaffen, die gesamte gegnerische Mannschaft auszuschalten, werden von ihren Spießgesellen respektvoll Teamkiller genannt. Killer, auf deutsch Mörder: Ist es das, was wir unseren Kindern als anstrebsam präsentieren wollen? Sollen auch sie schließlich in einem leeren Raum sitzen, einsam vor einem Computer, und imaginären Freunden Kommandos zubrüllen? Denn im Zimmer des Mitbewohners ist ausser ihm keiner, wie ein kurzer Blick beweist.
Ich wende mich wieder Speter Drei zu. In seinem dümmlichen Ton erzählt er begeistert von seinem neuesten Metzelspiel („Baten Kaitos“, in dem Menschen mit Angelruten und verdorbenem Essen gepeinigt werden), doch als er anfängt zu gestikulieren, gehen meine Nerven mit mir durch. Ich greife mein Pfefferspray und schieße die ganze Ladung in sein Gesicht. Während er sich am Boden windet und das erste Mal wahren Schmerz begreift, rufe ich ihm zu, ob er denn virtuelle Gewalt nun immer noch so toll fände, jetzt, wo er weiß, wie weh das tut. Dann nehme ich Reißaus, denn man weiß ja nie.
Liebe Eltern, unter großen persönlichen Risiken habe ich Ihnen diesen Einblick in die Schattenwelt des Cyberkrieges ermöglicht, und nun bitte ich Sie: Sorgen Sie sich um Ihr Kind. Kein Mensch sollte so enden wie mein Interviewpartner, mehr Tier als Mensch, nur noch von Instinkten geleitet, Instinkten zu Töten, zu Vernichten. Nehmen Sie Ihren Kindern die Gameboys und PCs weg, zerstören Sie CD-Roms und DVDs, und kaufen Sie ihnen lieber ein gutes Buch oder Holzspielzeug. Denken Sie an Ihre Kinder! Friede auf Erden! Halleluja.
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