Die letzten Tage von Kapitän Cecil waren ein einziger Alptraum. Seit einer Woche schon konnte er nachts kein Auge mehr zutun. Jeder noch so kleine Schatten barg für ihn namenlose Schrecken. Oft hallten grässliche Schreie aus seiner Kajüte und sorgten für Entsetzen unter der restlichen Schiffsbesatzung. Vorräte und Treibstoff waren so gut wie erschöpft und somit verfloss die Hoffnung auf eine sichere Heimreise jeden Tag ein Stückchen mehr. Als die Maschinen schließlich zum Stillstand kamen und das einst so stolze Schiff stumm auf den schwarzen Fluten umhertrieb, war das Schicksal der Besatzung besiegelt. Ein Gewehrschuss zerschnitt die gespenstische Stille an Bord. Kapitän Cecil war nun völlig wahnsinnig geworden. Vier Matrosen riss er noch aus dem Leben, bevor ihn die restlichen Männer und Frauen überwältigen konnten. Dennoch: Die Docks von Fallen London sollte niemand von ihnen wiedersehen.
In Sunless Sea ist das beileibe kein Einzelschicksal, sondern fast schon Alltag. Auf einem gigantischen Unterweltmeer, der Underzee, sucht man als Kapitän eines dampfgetriebenen Kutters sein Glück. Warum, wieso, weshalb? Eine gute Frage. Eindeutige Antworten sollte man sich aber nicht erhoffen. Mysterien und Geheimnisse bilden das Fundament dieser Welt. Einflüsse von Herman Melville und Jules Verne prallen hier mit der Schauerliteratur eines Edgar Allen Poe oder H.P. Lovecraft zusammen. Fallen London ist dabei der zentraler Dreh- und Angelpunkt: Einst von Fledermäusen von der Oberfläche gestohlen, fristet es nun sein Dasein an der Westküste der Underzee. Auf eben jenem Meer bekommt man es mit gigantischen Krabben, Quallen, lebendigen Eisbergen oder schlimmerem zu tun. An Land warten hingegen vornehme Teufel in edlem Zwirn, seelenhungrige Affen oder reiselustige Mumien auf einen Besuch.
Zusammengehalten wird diese bizarre Mixtur von fantastisch geschriebenen Texten. Bloß gut, denn zu lesen gibt es in Sunless Sea so einiges. Von über 250.000 Wörtern ist da die Rede. Jedes einzelne davon scheint mit viel Bedacht gewählt. Das Resultat ist eine detailliert ausgearbeitete Welt, die mit jeder Pore Fremdartigkeit ausschwitzt. Sei es durch Verwendung ebenso simpler wie effektiver Wortschöpfungen wie Zailor, Zee und Zee-Bats oder den feinen Sinn für Humor, der sich trotz deutlicher Horroranleihen durch die Texte zieht. Voller Genuss gab ich mich den vielen Buchstaben hin und fühlte mich hinsichtlich der Menge und Qualität ein ums andere Mal an Planescape: Torment erinnert.
Spätestens hier stellt sich die unausweichliche Frage, was Sunless Sea eigentlich für ein Spiel ist – und die ist gar nicht so leicht zu beantworten. Sid Meier’s Pirates! mag noch die offensichtlichste Parallele sein. Lässt man das ungewöhnliche Szenario mal außen vor, so kann man auch hier als Glücksritter friedlich von Hafen zu Hafen schippern oder unterwegs auf große Kaperfahrt gehen. Wenn da nicht die unbarmherzigen Roguelike-Elemente wären. Denn der Aufbau der Underzee ist bis auf wenige Fixpunkte niemals gleich. Außerdem ist der Tod endgültig, manuelles Speichern ist standardmäßig nicht empfohlen, aber grundsätzlich möglich.
Von der permanenten Ressourcenknappheit mal ganz zu schweigen! Das Leben auf der Underzee ist kostspielig. Damit sich das eigene Schiff überhaupt in Bewegung setzt, ist Treibstoff nötig. Natürlich will auch die Crew mit ausreichend Nahrungsmitteln versorgt werden. Beides geht auf See rapide zur Neige. Zusätzlich steigt der Terror-Level an Bord mit jeder zurückgelegten Seemeile an. Je nachdem, ob man sich mit eingeschalteten Scheinwerfern (die natürlich zusätzlichen Treibstoff fressen) durch die Schwärze bewegt oder darauf verzichtet, mal mehr mal weniger schnell. Somit ist die Zeit auf See eng an die vorhandenen Ressourcen geknüpft.
Es ist dieses permanente Risikomangement, das bisweilen eine unerträgliche Spannung aufkommen lässt. Wie weit komme ich mit den letzten zwei Fässern Treibstoff? Sollte ich mit voller Kraft den nächsten Hafen ansteuern und dabei riskieren, dass mir der Kessel um die Ohren fliegt und die Hälfte meiner Mannschaft in den Tod reißt? Solch existenzielle Entscheidungen trifft man am laufenden Band und sie werden durch die melancholische und mitunter bedrückende Stimmung auf See perfekt eingerahmt.
Prima Aussichten also. Warum sich aber überhaupt auf die Underzee wagen? Hier kommt die eigentliche Stärke von Sunless Sea zum Tragen: Es ist wahnsinnig gut darin, Geschichten zu erzählen. So skurril und absonderlich die Underzee und ihre Bewohner auch sein mögen, so verlockend ist es auch, ihre Mysterien zu ergründen. Gerne wird bei Open-World-Spielen davon gesprochen, dass man seine eigene Geschichte schreiben könne. Doch erst mit Sunless Sea hatte ich wirklich das Gefühl, so etwas auch bewerkstelligen zu können.
Der eingangs erwähnte Kapitän Cecil startete beispielsweise als einfacher Weinhändler. Später schmuggelte er nicht ganz legale Güter nach London. Das alles war so einträglich, dass er rasch eine schräge, aber hocheffektive Crew (Stichwort gepanzertes Meerschwein und Tentakelwesen) anheuern konnte. So gerüstet machte er für mehrere Wochen den Norden der Underzee unsicher. Inmitten von Schneestürmen jagte er die gefürchteten Lifebergs und wurde dadurch noch wohlhabender. Dazwischen schloss er Pakte mit Piratenkönigen, trank Tee mit einer reizenden Teufelin (und verlor dabei seine Seele) und baute nebenbei ein Spionagenetzwerk in Khan’s Glory auf. Letztlich war es eine Verkettung ungünstiger, aber vermeidbarer Umstände, die Captain Cecil den Kopf kosteten. Schlecht für ihn, gut für seinen Erben, der mit einem Teil seines Nachlasses in See stechen darf.
Das schöne an Cecils Lebenslauf: Es hätte nämlich alles ganz anders kommen können. Vielleicht hätte er sein ganzes Leben lang Berichte über ferne Häfen anfertigen können. Womöglich aber auch die südlichen Dschungel nach Schätzen durchkämmen können. Sunless Sea macht da keine Vorgaben. Sobald man das erste Mal in See sticht, steht einem die komplette Welt offen. So ist kaum ein Charakter gleich, sondern wird maßgeblich durch die eigene Neugier und Risikobereitschaft geformt.
Nüchtern betrachtet, dürften die Storylastigkeit und die Roguelike-Elemente überhaupt nicht zusammenpassen. Und tatsächlich ist auch Sunless Sea vor Wiederholung nicht gefeit, wenn man zum x-ten Mal die Anfangsinseln samt ihrer Stories abklappern muss. Doch davon mal abgesehen, habe ich das Gefühl, selbst nach über 40 Stunden Spielzeit nur einen Bruchteil der Welt gesehen zu haben. Dazu kommt das Versprechen der Entwickler, das Spiel in regelmäßigen Abständen mit neuen Geschichten zu versorgen. Da das in der Early-Access-Phase schon hervorragend geklappt hat, kann man davon ausgehen, dass es sich hierbei nicht nur um leeres Marketing-Geschwätz handelt.
Insgesamt prophezeie ich Sunless Sea eine glänzende Zukunft. Während die Underzee zu Beginn der Entwicklung noch ein Flickenteppich aus leeren Flecken und unfertigen Inseln war, ist sie heute ein ungeheuer abwechslungsreicher Kosmos: Stürme toben über dem pechschwarzen Wasser, Nebelbänke erschweren bisweilen die Navigation. Neutrale Händler kreuzen immer mal wieder den Kurs des eigenen Schiffs. Unzählige Fraktionen buhlen um die Gunst von fähigen Kapitänen, um sie für ihre Zwecke einzuspannen. Aktuell stellt die Underzee die wohl spannendste und originellste Spielwelt da draußen dar und es ist höchste Zeit, darin einzutauchen.
4 Kommentare
Ich habe es erstmal auf meine Steam-Wish-List gepackt. Hört sich alles sehr interessant an, aber ich bin mir noch nicht ganz sicher, ob es mir einen Zwannie wert ist…
…der nächste Steam Sale kommt ja bald und dann werde ich wohl zuschlagen. Vom Design und der Kritik oben klingt es ja nicht übel, im Gegenteil. Trotzdem habe ich gegenüber Sunless Sea irgendwie diffuse Vorbehalte. Und die kritische, innere Stimme, die laut STOPP sagt, liegt ja nicht immer falsch. Obwohl ich Pirates anno dazumal ganz gerne gespielt habe, traue ich dem Konzept heutzutage nicht mehr so ganz über den Weg.
Ich bin sehr neugierig, aber für ein solches textlastiges Spiel muss ich in der richtigen Stimmung sein. Wahrscheinlich wird es irgendwann ein Spontankauf. Jules Verne mochte ich jedenfalls immer sehr :).
Zur Zeit spiele ich NEO Scavenger, hat das jemand aus der Indie-Fraktion von Polyneux schon ins Auge gefasst? Auch sehr detailverliebt, auch fies roguelike, deshalb musste ich eben daran denken… aber nicht ganz so storylastig, zumindest nicht am Anfang. Das Spiel scheint trotz guter Kritiken wenig Beachtung zu finden.
Ich behaupte mal, dass jemand, der einen schicken Pirates! oder FTL-Ersatz sucht, mit Sunless Sea nicht sonderlich glücklich wird. Dafür stehen die Elemente beider Spiele einfach zu wenig im Mittelpunkt. Wie geschrieben passiert hier viel über die Texte und die Ausarbeitung der Welt – da muss man Lust drauf haben.
Kleiner Tipp/Vorschlag: Einfach mal ein bisschen im Browsergame (jaja, ich weiß!) Fallen London rumklicken. Das ist schließlich die (ebenfalls toll geschriebene) Grundlage für Sunless Sea und dementsprechend ein wunderbarer Test, ob man sich auf das ganze Universum einlassen kann.
@ZiB: Hab ich tatsächlich auf dem Schirm! :D