Am achten März war Weltfrauentag. Passend dazu habe ich bis tief, tief in die Nacht ein Spiel gespielt, bei dem ich eine Protagonistin gesteuert habe. Amy Wellard, Autonärrin und Mechanikerin in der postapokalyptischen Welt von Shardlight, die durch einen gefährlichen Reparaturjob in eine Rebellion gegen das kaputte Klassensystem ihrer Welt hineingezogen wird. Amy tritt Ärsche, sie verteidigt ihr Leben wenn es sein muss und hat trotzdem mit den Toten zu kämpfen, die sie zu verantworten hat. Amy hat Freunde, die ihr viel bedeuten, denen sie hilft und die ihr helfen, ohne dass eine Seite etwas von der anderen erwartet. Amy Wellard ist ein realistischer Charakter, menschlich geschrieben mit Schwächen, Stärken, Abhängigkeiten und Problemen.
Aufgefallen ist mir das erst, als ich am Morgen aufgewacht bin. Denn so weit sind wir mittlerweile, auch wenn wir immer noch mit übersexualisierten, instrumentalisierten Damsels in Distress überschüttet werden. So weit, dass wir die Stimmen ignorieren, die rufen, „da hätte man ja auch genauso gut einen Mann spielen können“. Amy wird nicht einmal sexuell misshandelt oder auf irgendeine sexualisierende Weise angefasst oder angesprochen, selbst wenn sie schwer verletzt oder anderweitig eindeutig unterlegen ist. Sie wird nicht romantisiert und romantisiert nicht, denn sie hat andere Probleme. Sie hat, wie die meisten anderen Angehörigen ihrer sozialen Schicht, die Strahlenkrankheit.
Shardlights Postapokalypse ist clever. Die meisten Endzeit-Settings bedienen sich dem Wasteland-Konzept, bei dem der Untergang der Gesellschaft schon viele hundert Jahre zurück liegt und die Relikte der Vergangenheit entweder Objekt der Anbetung oder Forschungsgegenstand darstellen. In Shardlight dagegen liegt der Einschlag der Bomben exakt zwanzig Jahre zurück. „Remember Blast Day“ warnen Regierungsposter allerorts, und die meisten Leute können gar nicht anders. Amy Wellard war beim Einschlag fünf Jahre alt und erinnert sich noch gut daran. Ständig trifft sie auf Leute im Alter ihres Vaters und sogar auf Greise, die den Weltuntergang überlebt haben. Nelson, der alte Bibliothekar auf dem Markt, erzählt nur allzu gern von seiner Kindheit und verleiht Bücher über all die Errungenschaften der Zivilisation. Die Aristokraten, Regierungsklasse der namenlosen Stadt, in der Shardlight spielt, tragen auch jetzt noch postmoderne Kleidung (wenn sie sich nicht für den Dresscode des neunzehnten Jahrhunderts entschieden haben) und betreiben eifrig die Kraftwerke, Fabriken und Labore der Stadt weiter, die den Anschlag überlebt haben. Das Ende der Gesellschaft in Shardlight hat die Bevölkerung nicht nennenswert dezimiert: Stattdessen hat sie Infrastrukturen zerstört, Klassen getrennt und die Atemluft verpestet. Vor allem letzteres wird zum Drehpunkt Shardlights gemacht: denn die namensgebenden grün-leuchtenden Uranglasscherben sind so ziemlich die einzige Quelle von künstlichem Licht in der Stadt. Da allerdings der radioaktive Staub der Apokalypse gepaart mit den Uranabrieb das menschliche Atemsystem zersetzt, haben die ärmeren Bewohner der Welt von Shardlight mit einer Strahlenkrankheit namens Green Lung zu kämpfen. Der lässt sich mit einer monatlichen Impfung Einhalt gebieten, ein Heilmittel ist jedoch noch nicht gefunden. Amy ist krank, und sie kann sich die Impfung nicht leisten. Wie so viele andere nimmt sie einen Knochenjob an, der ihr ein Lotterieticket verspricht – nur ein Arbeiter pro Monat wird ausgelost, die Impfung zu bekommen.
Wadjet Eye Games-Spiele sind seit jeher bemerkenswert inklusiv, lange schon, bevor das Thema eine so universelle Bedeutung erlangt hat. Grund dafür ist sicherlich Wadjet Eye selbst, die im Kern aus dem Ehepaar Janet und Dave Gilbert bestehen (Über Ben Chandler, den artistischen Geist hinter dem typischen WEG-Design, habe ich bei meiner Technobabylon-Review bereits geschrieben). Ein dermaßen ausgewogenes Team besitzt mehr Rumdumblick als die eher eingeschränkte Perspektive eines einzelnen Entwicklers und weit mehr Flexibilität als ein größeres Entwicklerstudio, das in den meisten Fällen dann auch noch aus einem Großteil weißer Männer besteht.
In ihrem Quasi-Durchbruchswerk Blackwell Legacy nimmt Rosangela Blackwell die starke Protagonistenrolle ein, während Johnny Mallone durch seine Geistform beständig auf sie und ihr physisches Dasein angewiesen ist. Letztendlich sind die beiden jedoch ein regelrechtes Dream Team, weil eben beide Fähigkeiten haben, die der andere nicht vorzuweisen hat, weil sie sich regelmäßig necken und gegenseitig ärgern, obwohl sie sich mögen, und damit sympathisch und – trotz der Übernatürlichkeit – sehr natürlich wirken. Das von Technocrat entwickelte und Wadjet Eye veröffentlichte Technobabylon lässt mich die Hälfte der Zeit mit Police Officer Max Lao eine Frau steuern, die nicht allzu lange vorher noch ein Mann war. Das wird nur in einem Nebensatz fallen gelassen, ändert aber die Bedeutung von Lao für den Aufbau der Welt massiv. Denn Lao wird nicht diskriminiert oder kritisiert, sondern vor allem respektiert für ihren Charakter und ihre herausragenden technischen Fähigkeiten. Selbst als sie über die sexuellen Möglichkeiten eines Androiden-Hausmädchens fantasiert und sich dabei als pansexuell zu erkennen gibt stößt sie nicht auf Abweisung, nur auf Kritik an ihrer Professionalität, weil es bei dem Androiden um ein blutverschmiertes Beweismittel handelt.
Auf die Frage, wie die Umsetzung der Szene zustande kam, haben mir die beiden geantwortet, dass sich Dave zusammen mit dem Schreiber von Technocrat Games an eine Gruppe LGBT-Aktivisten gewandt hat, um einen realistischen Dialog zu schreiben.
Janet: I do know that Dave discussed Max Lao with trans people he knows in order to get the character right, and they had useful feedback that influenced her dialog.
Dave: When I originally saw the “Lao coming out to Regis” scene it didn’t ring very true to me. I couldn’t explain why. Something about the way she said it, and the way Regis responded, rubbed me the wrong way. So I asked the writer if I could send the dialog exchange to a number of trans activists and ask what they thought. He agreed, and their feedback was eye opening. It helped us shape the scene to what’s in the game now.
In meinen Augen ist das ein gutes Beispiel dafür, wie Gruppen in ein Werk mit einbezogen werden sollten, in dem ihr Thema angesprochen wird. Leider ist das keine Selbstverständlichkeit. Zumindest werben die wenigstens Entwickler damit, sich tatsächlich für Inklusion einzusetzen. Allerdings hat Wadjet Eye das ja auch nicht getan, sondern nur auf Anfrage veröffentlicht. Ob es also so eine ‘positive’ Dunkelziffer gibt, bleibt abzuwarten.
Eine solche Zusammenarbeit scheint immerhin abzufärben und das eigene Verständnis zu verbessern. Dave zumindest behauptet, dass er mit der Zeit einfach gelernt hat, beim Schreiben achtsam zu bleiben.
Dave: In all honesty, I don’t think about it much. I just write what I feel like. I don’t make a point of making a game more inclusive or more tolerant. It just… ends up that way? I wish I had a better answer for you.
Hier gibt der Commentary Mode einen großartigen Einblick. Wie die meisten Wadjet Eye-Spiele – und mittlerweile die meisten Point & Click Adventures allgemein – verfügt Shardlight über einen separat zuschaltbaren Kommentarmodus, der einige zusätzliche Buttons einblendet. Über diese kann ich mir nach Belieben Kommentare der Entwickler zum Spieldesign, zur Musik, zur Grafik und zur Technik einspielen lassen. Das ist natürlich höchst spoilerlastig und sollte erst im zweiten Spieldurchlauf passieren, wodurch es für viele Spieler direkt uninteressant werden dürfte. Davon abgesehen, dass ich mich sehr für die Geschichte hinter den Spielen interessiere, gibt es aber noch einen weiteren Grund, warum ich diesen zweiten Spieldurchlauf nur allzu gerne in Kauf nehme:
Die eigentlichen Rätsel in Shardlight sind Meisterwerke.
Kein artistisches Meisterwerk der Hirnverknotung, wie es manch ein Double Fine Adventure anstrebt, und auch kein humorgeladenes Popkulturfeuerwerk eines Deponia. Sondern etwas, das viel wichtiger ist: Sie fügen sich ein. Ich habe nicht einmal das Gefühl, ein Rätsel wird mir nur zur Spielzeitstreckung vorgeworfen, weil jedes einzelne so viel Sinn macht. Natürlich muss Amy herausfinden, wie sich ein behelfsmäßiger Gasmaskenfilter herstellen lässt. Natürlich verhungern die Schafe auf der Weide von Amys bestem Freund, und sie ist darum bemüht, eine Lösung zu finden. Dazu sind die Rätsel auch noch in sich sinnvoll aufgebaut. Woher bekommt Amy die Information, die sie für die Gasmasken braucht? Natürlich aus einem Chemiebuch. Shardlight fühlt sich logisch an. Es ist gut in sich abgeschlossen. Dass es dabei nur ungefähr sechs Stunden lang ist, macht es nur um so wiederspielbarer.
Dass Shardlight drei verschiedene Enden besitzt, könnte man an dieser Stelle ebenso aufführen, diese Entscheidung fällt jedoch erst ganz am Ende des Spiels. Sie lassen sich also bequem durch Neuladen erfahren, da sich sonst nichts ändert. Trotzdem, hier noch einmal der Aufruf: Probiert den Commentary Mode aus. In jedem Spiel, dass ihn anbietet. Entweder in einem zusätzlichen Durchlauf oder wenn ihr schon herausgefunden habt, wie das Rätsel zu lösen ist, vor dem ihr steht. Wenn wir besser verstehen würden, wie Spiele entwickelt werden, würden wir uns das Spielerleben definitiv einfacher machen. Wenn wir kritischer sind, welche Projekte wir unterstützen und weniger hasserfüllt gegenüber Crowdfundingprojekten, die scheitern, obwohl die Entwickler ihr Bestes gegeben haben, weil es eine Menge verantwortungsvolle Arbeit ist, ein Spiel zu entwickeln. Wenn wir weniger fixiert sind auf den billigsten Preis, weil wir wertschätzen lernen, wie viel Aufwand darinsteckt, und die Entwickler unterstützen anstatt Schnäppchen über Reseller-Seiten zu schießen. Ich hätte gerne einen Commentary Mode im nächsten Call of Duty. Aber der wäre vermutlich auch nur mit hohlen PR-Phrasen befüllt.
1 Kommentar