Nach dreißig Spielstunden, in etwa zur Halbzeit meiner Spielerfahrung mit Ni No Kuni 2: Revenant Kingdom, hätte ich Stein und Bein geschworen, das Spiel ‘verstanden’ zu haben. Wie klar mir war, dass nicht Evan Pettiwhisker Tildrum, der vertriebene kleine König der Märchenwelt, der Protagonist und Fokuspunkt des Spielerblicks darstellt, sondern Roland! Roland Gable, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, der von der nuklearen Zerstörung New Yorks in Evans Schlafzimmer im Schloss von Ding Dong Dell katapultiert wird. Ich entnahm diese Vermutung nicht nur den Umständen, dass es Roland als Weltenwanderers aus unserer in die Sphäre der Märchen verschlägt oder er der erste steuerbare Charakter des Spiels ist, sondern auch auf der Tatsache, dass große Teile der Handlung erst durch ihn in Bewegung kommen. Roland ist der Erwachsene des Spiels, der besonnene Akteur, der seine Kinder (und, in diesem Fall vor allem, Untertanen) mit ruhiger Hand durch die Katastrophe leitet. Er hat den Blickwinkel eines Erwachsenen, und ich wundere mich daher nicht, dass ich mich sofort mit ihm identifiziert habe, als ich mir einen steuerbaren Charakter aussuchen konnte.
Nur, dass das Kind in Ni No Kuni 2 eben nicht aus dem Bälleparadies abgeholt werden muss, sondern seine ganz persönliche Reise aus eigener Kraft durchsteht. Auf der entwickelt sich der junge König zwar kaum weiter, seine zu Beginn gefassten Ideale erweisen sich jedoch als klug und besonnen genug, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Jetzt, nach sechzig Stunden Spielzeit sehe ich es klar wie Wunderwasser: Als Erwachsener kann Roland überhaupt nicht das Zentrum von Ni No Kuni 2 sein, denn das Spiel richtet sich an Kinder. Und Kinder werden die Welt von Revenant Kingdom durch Evans Augen sehen. Erwachsene wie Roland sind zwar Teil ihrer Wahrnehmung, aber wohl kaum deren Fokus.
“Ich will Unreal Tournament spielen!”
Wie die Kinder unserer Realität auch durchstreift Evan eine ihm unbekannte, faszinierende Welt, zu deren Mittelpunkt er sich auf Schritt und Tritt macht. Ganz kindgerecht bleibt er dabei jedoch der freundlichste Despot aller Zeiten, der das Wohl aller anderen Lebewesen konkret in seinen eigenen Wünschen verankert. Sein großes Ziel ist es zwar, die Welt zu regieren, aber nur, wenn das für alle Untertanen auch wirklich okay ist. Deswegen besteht die Hauptgeschichte von Ni No Kuni 2 zum größten Teil daraus, mit den Herrschern der großen Reiche des Spiels die Declaration of Interdependence, eine Abhängigkeitserklärung, zu unterzeichnen, um alle unter Evans Banner zu vereinen. Natürlich geschieht das im Angesicht einer globalen Gefahr, die sich zudem Evans Wunsch regelmäßig in den Weg stellt, doch eigentlich lassen sich die Ideale des Jungen nicht groß durch die bevorstehende Entvölkerung der Welt beeinflussen. Sein Weg ist egozentrisch, ausgelöst durch die traumatischen Erfahrungen einer gegen ihn gerichteten Intrige inklusive Mordversuchs. Die externe Bedrohung dient ihm lediglich als Rechtfertigung. Wäre nicht jeder in Ni No Kuni 2 so nett und zuckrig, Evan müsste das quengelige Äquivalent zum Angry German Kid sein, dass unter allen Umständen genau das bekommen will, was es sich in den Kopf gesetzt hat. Der kleine König ist der Prototyp von “Gut gemeint ist nicht gut gemacht”, nur, dass die naive Fabelwelt von Ni No Kuni 2 eben doch aus gut gemeint automatisch gut gemacht werden lässt. Und damit wird er eben automatisch zum Helden der Geschichte, nicht nur der Geschichte des Spiels, sondern der Historie der Spielwelt, wo ein echter König fast sicher zum Despoten geworden wäre. Wenn ich dem Spiel schon dreißig Stunden auf den ideologischen Leim ging, weil ich mich als Erwachsener instinktiv aus der Hauptrolle heraus und in die Beraterrolle hinein interpretierte, möchte ich nicht wissen, wie viele Kinder sich sofort in Evans Schuhen und absoluter Machtposition wohlgefühlt haben.
Zum Glück ist jedoch alles in Ni No Kuni 2 besser als die Realität. Niemand ist böse. Niemand ist freiwillig egoistisch. Ein Königskind, das mit Waffengewalt aus seiner Heimat verscheucht wurde, beschließt, den Aggressoren besagte Heimat zu überlassen und sich selbst ein neues Reich zu bauen. Menschen, die die Zerstörung ihrer Heimat miterlebt haben und gegen ihren Willen verschleppt wurden, schließen sich aus purem Altruismus diesem Unterfangen an. Weltreisende, die mit eigenen Augen mitansehen mussten, wie ihre eigenen Kinder in einer atomaren Explosion pulverisiert wurden, verschreiben sich der Befriedung der Welt, anstatt zu trauern oder auf Rachefeldzug zu gehen. Wer bereits einen Blick in Ni No Kuni 2 geworfen hat, der mag sich wundern, warum ich diese Beschreibungen so allgemein halte und nicht einfach sage, dass ich von Evan und Roland, den beiden bereits erwähnten und am stärksten charakterisierten Hauptfiguren des Spiels, rede. Evan ist jedoch nicht das einzige Kind im Spiel und auch Roland steht stellvertretend für gut und gerne die Hälfte aller auftretenden, mit Namen versehenen Charaktere. Politik in der Welt von Ni No Kuni wird von Kindergartenkindern gemacht – Wesen, die keine Vorstellung von größeren Ganzen haben und die jeden, den sie gerade erst kennen gelernt haben, auch sofort gerne mögen. Ni No Kuni 2 findet, dass alles doch eigentlich ganz einfach wäre, wenn wir uns nur alle lieb haben würden. Und es geht dabei sogar so weit, die atomare Vernichtung der echten Welt dadurch verhindern zu wollen, dass man dem großen Antagonisten in der Märchenwelt hilft, seinen Masterplan zu erfüllen. Denn auch der meint es schließlich nicht böse, er will nur seine Heimat wieder.
“I‘m ever so grateful”
Und was soll ich sagen – es funktioniert, trotz meiner oben geäußerten Angst, Evan wäre in einem realeren Kontext einfach nur ein verzogener Bengel. In die Welt von Ni No Kuni 2 einzutreten fühlt sich wahrhaftig an wie ein Märchenbuch der Grimms zu öffnen. Bekannte Geschichten, entschärft von allem, was anstößig sein oder brutal aussehen könnte, heißen mich hier willkommen. Alles geht gut aus, niemand ist am Ende verletzt, der Fiesling hat seine Lektion gelernt und wird dem Helden ein guter Freund. Heimat heißt Gemütlichkeit, Wohlsein, und wenn ich Ni No Kuni 2 spiele, bekomme ich regelmäßig das warme Gefühl, das ich auch beim nach Hause kommen nach einer längeren Reise habe. Mit kleinen Ritualen begrüßt mich das Spiel immer wieder an denselben Punkten – spielerisch wie narrativ. Alle paar Dungeons etwa reise ich zurück in Evans neu gegründetes Königreich, Evermore, das ich von der Pike auf mitgestaltet habe. Während ich mich zu Beginn noch mit den langsamen Produktionsraten der Holzhütten und Zeltlager herumärgerte und mich fragte, warum ich dieses blöde Management-Minispiel durchziehen sollte, freue ich mich jetzt auf jeden Besuch. Nach Evermore reisen ist ein bisschen wie daheim zur Türe hereinkommen. Tasche abstellen, Smartphone und Haustürschlüssel ins Körbchen neben der Tür, Hose aus und Jogginghose an. Ab in den Palast, Steuern eintreiben, die frischen Marktprodukte einsammeln und mit den Bürgern plaudern. Jeder davon hat genug Persönlichkeit und vor allen genug konkreten Nutzen, um mich ein wenig an ihn zu binden, um mich zu freuen, ihn zu sehen. Ich weiß eben immer, wo ich Tiller, den grantigen Schiffszimmermann suchen muss, denn er arbeitet entweder in der Werft oder feiert im Gasthaus. Und oft genug kommen die Bewohner Evermores auch direkt auf mich zu und bitten mich um Hilfe, denn wie jeder andere Charakter dieser Welt ist Evan vor allem eins: altruistisch. Glück gehabt, müssen sich die Bewohner der Welt von Ni No Kuni 2 und insbesondere die von Evermore wohl denken, und Glück gehabt, denke ich auch. Denn ich kann an dieser Stelle eben doch einfach aufhören, mir Gedanken um die politischen Wirren von Evans Weltreich zu machen. Ich brauche mich nicht um die virtuelle Zukunft des fiktiven Evermore’schen Imperiums zu machen, weil mir die Märchenstruktur verrät, dass alles gut ausgehen wird. Ni No Kuni 2: Revenant Kingdom ist keine Parabel auf die globalpolitische Situation unserer Welt und kein Appell an die Politiker der Weltmächte, ihre Probleme auf die Reihe zu bekommen und den Weltfrieden über ihr eigenes Wohl zu stellen. Ni No Kuni 2 ist eine Geschichte für Kinder, die nicht gut schlafen können, wenn sie kein Happy End hat, ein absolutes Wohlfühlmärchen. Eben kein fragiles House of Cards, sondern ein kunterbunt bemaltes Puppenhaus.
“Farewell, for ever more”
Das Spiel hinter mir zu lassen fühlt sich daher an wie aus einer tollen Wohnung mit netter Nachbarschaft auszuziehen. Obwohl ich normalerweise wenig Skrupel habe, ein Spiel nach der Komplettierung zu deinstallieren, musste ich mir fast schon ein kleines Tränchen verkneifen, nachdem auf meiner PlayStation die Platin-Trophäe für Ni No Kuni 2 aufleuchtete. Nach über sechzig Stunden hatte ich alles erledigt, was das Spiel zu bieten hatte. Alle Nebenquests, alle Minispiele, jeden Einwohner und jedes Forschungsprojekt in Evermore. Das actionlastige Kampfsystem, dass mich freudig an Spiele aus der Tales of-Reihe erinnert, kann mich ob seines niedrigen Schwierigkeitsgrades nicht auf Dauer begeistern. Das ärgert mich ein wenig, denn die zahlreichen überlappenden Systeme wie die putzigen elementgeladenen Higgledy-Unterstützungseinheiten und aufwertbare Zauber versprechen so viel mehr Komplexität, die sich in mächtigen Bosskämpfen hätte ausreizen lassen. Aber sei’s drum, ich kann akzeptieren und wertschätzen, dass sich die Ni No Kuni-Erfahrung nicht aus ihren anspruchsvollen Herausforderungen speist. Ich weiß nun, dass ich das Spiel nie mehr starten werde. Produktiv zu sein, selbst beim Spielen, ist zu tief in mir verankert, als ein Spiel weiterzuspielen, in dem ich nichts mehr erreichen kann. Comfort Food-Gefühle hole ich mir eher von matchbasierten Spielen wie Civilization VI oder Farming-Simulatoren, in denen ich auf besondere Effizienz hinarbeiten oder einen neuen Spielstil ausprobieren kann. Mir bleibt also nur, Ni No Kuni 2: Revenant Kingdom in schöner Erinnerung zu behalten und es am Ende des Jahres 2018 ganz weit nach oben auf meiner Topliste zu platzieren. Ich hoffe, wenn ich beim Jahresrückblick diesen Text noch einmal lese, ruft mir das meine Liebe zu diesem wunderschönen Videospiel wieder so richtig eindringlich ins Gedächtnis. Bis dahin: Farewell Evan, for ever more.
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