Oh, Valkyria Chronicles 4. 10 Jahre habe ich auf dich gewartet. So lange, seit ich deinen ersten Teil 2008 zufällig im Elektronikfachgeschäft sah, für 60 Euro frisch veröffentlicht, und mich vom Cover ansprechen ließ. Du bist für mich die Verkörperung einer einfacheren Epoche meines Lebens, in der ich zu viel Geld hatte und sorglos war, in der ich problemlos meine Hausaufgaben, meine Freunde und meine Freude am Spielen ausbalancieren konnte. Du bist auch ein Symbol für eine andere Art des Spielens für mich geworden, eine, in der ich Games noch für ihre Mechanik genießen konnte, selbst wenn sie anderweitig problematisch waren, denn das habe ich damals einfach noch nicht erkannt. Liebe ich diese Serie so sehr, weil ich mir diese Zeit zurück wünsche, oder ist Valkyria Chronicles tatsächlich so gut? Die Diskrepanz zwischen der Erfahrung, an die ich mich erinnere, und der, die ich mit dem vierten Teil der Serie gemacht habe, ist tatsächlich ziemlich groß. Doch trotz aller Probleme, die ich mit Valkyria Chronicles 4 habe, wird es wohl auf meiner Spiel des Jahres-Liste ganz weit oben landen.
Rein strukturell ist Valkyria Chronicles 4 eine ausgesprochen kluge Fortsetzung: Da es zeitgleich mit dem ersten Teil spielt, wird kein Vorwissen aus Valkyria Chronicles 2 und 3, den PSP-Spielen, benötigt. Das Setting der Reihe wird in Teil 4 genauso gut erklärt wie in Teil 1. Auf einer fiktiven Version Europas tobt der Second Europan War, bei dem das faschistische, die Lage von Russland einnehmende Imperium die westeuropäische Föderation und das neutrale Gallia zu erobern versucht. Obwohl das geografisch wie Kalter Krieg oder eine Version von Putins Russland gegen die EU klingt, sind die Parallelen zum zweiten Weltkrieg mehr als deutlich. Nur, dass Hitler eben im Osten sitzt und nicht im Zentrum.
Die Truppe im Fokus des Spiels ist nun Squad E, eine Eliteeinheit der Föderation unter dem Kommando von Panzerkommandant Claude Wallace. Als Vorhut der Befreiuungsarmee befindet sich Squad E auf dem Marsch von Mitteleuropa in die Hauptstadt des Imperiums, Schwartzgrad, das im echten Leben den Namen St. Petersburg tragen würde. Die Dringlichkeit des Unternehmens wird mit diversen Echtwelt-Vergleichen relativ schnell klar gemacht: Die Faschisten gewinnen den Krieg, und wenn Squad E und der Rest der Armee den Kopf der Schlange nicht vor Wintereinbruch abschlagen, ist Schicht im Schacht. Wie das Cover des Spiels bereits verrät, ist bis Weihnachten aber leider nicht alles vorbei und der Winter wird zum schlimmsten Feind der Operation. Die Ironie, in Valkyria Chronicles 4 Hitlers Operation Barbarossa nachzuspielen, nur gegen die Nazis, ist nicht von der Hand zu weisen.
Alle Einheiten des Spiels sind klassenbasiert: Es gibt Scouts, die weit laufen und gut Kopfschüsse verteilen können, Sturmtruppen, die ordentlich aufräumen, Scharfschützen, Panzer und reichlich Spezialeinheiten. Zusätzlich kann ich zwischen den Missionen mit dem darin verdienten Geld Waffen aufwerten, neue Sub-Klassen an Waffen erforschen und meine Klassen im Rang aufsteigen lassen, damit sie neue Fähigkeiten erlernen.
Während alle Mechaniken, die den ersten Teil ausmachten, auch hier wieder zurückkehren, wartet das Spiel aber mit einigen Neuerungen auf. Zumindest, wenn man die PSP-Titel nicht kennt, denn fast alles, was Valkyria Chronicles 4 im Vergleich zu Valkyria Chronicles 1 einführt, basiert auf Verbesserungen, die schon der zweite Teil brachte. Aber gerade weil den kaum einer kennt und weil die Portierung auf den großen Bildschirm und die stärkere Hardware der Inszenierung dieser Mechaniken so guttut, funktioniert Valkyria Chronicles 4 so hervorragend. Allein die Möglichkeit, mehrere Fahrzeuge, darunter einen gepanzerten Personentransporter für jede Mission individuell auszuwählen, statt nur einen Allround-Panzer aufzurüsten, bis er zum unbesiegbaren Bollwerk wird, tut dem Spiel enorm gut. Und die tatsächlich brandneue Einheitenklasse, der Grenadier, verändert die Dynamik des Schlachtfeldes von Grund auf: als einzige Infanterieeinheit, die wie ein Panzermörser parabelförmig statt linear zu schießen vermag, können Grenadiere sogar Fahrzeuge abfangen und Bunker im Alleingang ausräuchern. Da man im vierten Teil nicht wie im ersten die Miliz des kleinen unabhängigen Staates Gallia kontrolliert, sondern eine Armee der im Westen Europas geformten Föderation, löst sich SEGA auch clever von den im ersten Teil festgelegten Technologien. Die aus Edinburgh aufgebrochene Militärmaschine verfügt eben über diverse Prototypen, die sich im beschaulichen Gallia, das ohnehin mehr Schäfer als Panzerfahrer vorweisen konnte, noch überhaupt niemand vorstellen kann.
Dem Spiel fehlt es in manchen Situationen einfach an Fingerspitzengefühl. Das ist seltsam, denn an anderer Stelle beweist es dann doch wieder, dass SEGA durchaus in der Lage ist, heikle Themen aufzuarbeiten. So ist etwa eine der ersten Einheiten des Squads Rosetta, eine Transfrau, die eine wirklich spannende Vorgeschichte aufzuweisen hat, in der sie nicht auf ihr “Merkmal” der Transsexualität reduziert wird. Gleichzeitig gaukelt Valkyria Chronicles mir jedoch ungefähr die Hälfte der Geschichte vor, eine weitere Trans-Figur unter den Hauptcharakteren zu haben. Diese wird immer wieder mit ihrem Deadname angesprochen und das ein oder andere Mal sexuell belästigt. Nach ungefähr fünfzehn Stunden Spielzeit folgt dann der große Reveal, dass alles eigentlich doch ganz anders ist – auf die sexuelle Belästigung wird aber nur dahingehend eingegangen, dass sich die besagte Figur in ihren Belästiger verliebt. Das ist im übrigen die gleiche Figur, die den Hauptcharakter Claude seit seiner Kindheit gemobbt hat, bei der sich Claude aber irgendwann für das Mobbing bedankt – weil es ihn zu dem erfolgreichen Soldaten gemacht hat, der er heute ist. Zwischen all den großartigen Nebenfiguren, deren Hintergrundgeschichte ich Stück für Stück erfahre und deren Freundschaften miteinander ich in speziellen gemeinsamen Missionen nachspielen kann, wirken solche Patzer noch stärker negativ.
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