Ihre Flucht endet nicht mit dem Tod, sondern mit einem Bild. Vielleicht haben sie ja doch eine Geschichte, wie sie da über die Gleise humpeln? Huckepacken ihre Vergangenheit und verdorren bei dem Versuch, entdeckt zu werden. Mit ihren Gewehren und Silhouetten, ihren Revolvern und Pixeln starren sie auf die Taten all jener, die nicht der Zufall, sondern der Programmcode zusammenführte. Ein Leben als NPC in Red Dead Online verfällt in jeder Welt in seine Einzelteile, weil es nur nach Vorgaben existiert, nach den Entscheidungen anderer; aber ich möchte eine Rekonstruktion dessen versuchen, was ich nur nebenbei wahrnehme, weil ich fälschlicherweise glaubte, es wäre nicht echt: Das Leben der NPCs in einem Onlinespiel und der (Nicht)Glaube daran – dokumentiert, beobachtet und bewiesen durch die Augen eines Spielers.
Was ich dazu brauche: eine Kamera. Eine Kamera in einem Videospiel, die so funktioniert wie eine Kamera im echten Leben. Fotomodus? Nix da. Steuere nicht endlos die Kamera. Verbessere nicht den Kontrast, die Helligkeit, die Farben. Manövriere nicht in die hinterste Ecke mit der Wumme vor der Linse, die fliegen kann, photoshoppen und zoomen gleichzeitig. In Red Dead Online wuchtet mein Charakter eine Kamera, die nur und ausschließlich aus der Bewegung der Charakter-Hände, in der sie liegt, funktioniert.
Das ist verflixt spannend. Für das Spiel, für die Geschichte, für die Fotografie, die in den allermeisten Spielen der echten Fotografie nur insoweit entspricht, das, nun, Fotos entstehen. In Red Dead Online muss ich klettern, wenn ich von einem erhöhten Punkt auf etwas schießen will, mit der Kamera versteht sich, mit der Kamera in meiner Hand, die eine Sperre besitzt, um die Tiefenschärfe auf einen Punkt zu fokussieren und ein bisschen Zoom. Für das, was ich damit erreichen will, nämlich alles und nichts, reicht das.
Red Dead Online, der Online-Ableger von Red Dead Redemption 2, spielt in der gleichen Welt, nur ohne den Hauptcharakter Arthur, den ich tatsächlich in mein Herz geschlossen habe, weil er seiner wildwestlichen Männlichkeit eine beinahe melancholische Zärtlichkeit gegenüberstellt, natürlich viel zu selten, um eine echte Figurenzeichnung zu schaffen, die über Stereotype hinausgeht, immerhin muss sich das millionendollarschwere Spiel millionenfach verkaufen und das geht am besten mit Gewalt. Und doch: Eine seltsame Schönheit lässt sich in der Geschichte finden.
Eine Schönheit indes, die tatsächlich von der Geschichte ausgeht und die rundherum von ihr geprägt, erzählt und beendet wird. Ja, Red Dead Redemption 2 ist ein wunderschönes Spiel in beeindruckender Grafik. Maßstäbe werden gesetzt, Technologien erweitert, Niedagewesenes entdeckt. Und doch bietet die Grafik wenig, was nicht auch ein Assassin’s Creed oder Ghost Recon bieten würde: 22 Grafikeinstellungen, die mit „Ultra“ enden. Ein Fotomodus, der frei in dieser Welt schweben und leben kann, fängt die Schönheit passend ein, geht aber selten darüber hinaus. Es bleibt ein Modus im Modus, ein abgestecktes Bewegen, eine von Grenzen umgebene Freiheit. Das kann zum Beispiel so aussehen:
Für jede Nah- oder Fernaufnahme reicht dir der Fotomodus die Allmacht; verdunkle und erhelle, färbe und entkräfte, gleite und verrücke, bis der Winkel und das Licht ein Augenblick der Ewigkeit als JPEG darbietet.
Und obwohl die Handkamera in Red Dead Online nicht fliegt oder gleitet und somit weniger Möglichkeiten bietet als der Fotomodus, entdeckt man das Spiel erst durch sie wahrhaftig und frei. Denn sobald ich im Fotomodus die Zeit anhalte, streckt der Stopp der Welt die Freiheiten der gleitenden Kamera nieder. Ich muss im Fotomodus nur bedingt auf die Charaktere reagieren, wie sie ihre Arme bewegen, ihre Zigarette zum Mund führen, den Blick abwenden, höchstens warte ich es ab, um dann eine Künstlichkeit zu erzeugen, die ein perfektes Foto ermöglichen soll – und durch den Stopp der Zeit auch wird. Mit ein wenig Tiefenschärfe hier, bisschen Kontrast da gelingen auch Anfängern tolle Bilder in kuddelmuddeliger Kulisse.
In der Welt von Red Dead Online kann ich das nicht. Nachdem ich hunderte Stunden mit den Mechaniken verbrachte, also pflückte, schoss, jagte, ritt, schnaufte und aß, fotografierte ich andere, die pflückten, schossen, jagten, ritten, schnauften und aßen. Wobei sie nur eines wirklich liebten: rauchen. Immer war ich auf der Lauer, in einer Spielwelt, die ich auswendig kannte, zumindest in der groben Ausrichtung, wissend um die Städte und Häuser und Missionen. Die Bewohner in ihnen oder um sie herum waren mir aber weitestgehend fremd. Also wartete ich. Legte den Revolver und die Schrotflinte weg und lauerte ihnen auf mit der Kamera.
Niemals war ich angespannt. Nichts hatte ich zu verlieren. Jede Währung besaß ich im Überfluss, jedes Kleidungsstück, jedes Pferd, jedes Zelt. Für mich war Red Dead Online durchgespielt, so wie ein Online-Spiel vollständig und niemals durchgespielt sein kann. Jedes Dorf durchquerte ich erneut. Diesmal schlendernd. Langsam. Aufmerksam. Mit der Kamera in der Hand auf der Suche nach Geschichten, die mir noch niemand erzählte. Weil es sie nicht gab. Weil ich sie übersah. Vielleicht beides.
Sie blieben aus. Red Dead Redemption 2 ist kein Spiel der Zufälle, denn obwohl viele vermeintliche Zufallsbegegnungen das Spiel „authentisch“ machen sollen, skurril vielleicht, häufen sie sich nach kurzer Zeit. Der besoffene Kutscher oder der jammernde Hund am Straßenrand beschäftigen mich einmal, zweimal, dann juckt mich das nicht mehr. Ein Zufall kann zwangsläufig nur Wiederholung werden, wenn er dazu gedacht ist, eine Spielzeit von 50, 60 Stunden aufzulockern. Ähnliches bietet auch Red Dead Online. Kaum etwas überrascht, wenn man, so wie ich, das Oberflächliche – und dazu gehören diese Mini-Quests – an jedem möglichen Ort vermeintlich zufällig auf die Augen gedrückt bekam.
Was ich stattdessen sah, war viel einfacher. Unspektakulärer, ja beinahe langweilig: das Leben der NPCs. Wie sie saßen und aßen, angelehnt an den Holzbalken, rauchend vor der Bar, flüchtend auf den Schienen. Viel sagten sie nicht. Dazu hatte man sie nicht programmiert. Kulisse sollten sie sein, nicht der Hauptteil der Erzählung, aber die Ausschmückung, die Verzierung davon.
In meiner fotografischen Reise war das Beiwerk von Red Dead Online das alleinige Motiv. Eine Intimität entstand, die natürlich nicht echt war, sich aber aufregend, zumindest neu anfühlte. Da lungerte eine Welt abseits der Missionen, die sich erst jetzt für mich aufbaute und türmte und jede bisherige Erfahrung so nichtig erschienen ließ wie bei dem Blick in jene Augen, in denen die Unendlichkeit der Schönheit Form und Farbe schenkte und alles andere beinahe nimmermehr entglitt.
In Red Dead Redemption 2 polterte ich als Herrscher über Zeit und Raum durch die Kulisse der Pixel im Fotomodus; in Red Dead Online hingegen lehrte mich der digitale Alltag die Demut vor dem Innehalten.
Ja, es sind nur Fotos. Vielleicht sind sie nicht mal gut. Momentaufnahmen, wie sie in ihrer eigentlichen Abfolge millionenfach gesehen, aber manchmal nicht erlebt und vielleicht nur selten gefühlt werden. Sie haben mir ein anderes Spiel offenbart, ausgerechnet dort, wo ich nach 150 Stunden in allen verfügbaren Modi glaubte, das Spiel und damit die Formalitäten der Städte, Charaktere, Waffen und Missionen zu kennen. Ich irrte mich – und das fühlt sich gut an.
Dafür gesorgt hat eine schnöde Kamera, die den mittlerweile typischen Fotomodi keck zublinzelt. Vergesst alles, was ihr über Red Dead Redemption zu wissen glaubtet und schnappt euch eine Kamera.
1 Kommentar
Guter Blickwinkel in die Welt von Red Dead Redemption. Da bekomme ich direkt wieder Lust in das Spiel einzusteigen.