Ach Inscryption,
ich hab es wirklich versucht. Meine Vorfreude war groß. Alle schwärmten von dir und erzählten wie besonders du seist. Kein Detail dürfe man über dich verraten, jedes kleinste sei schon ein riesiger Spoiler und würde dich kaputtmachen, so wertvoll und zerbrechlich fanden sie dich! Also wollte ich natürlich wissen, was es mit dir auf sich hat und bin vollkommen unwissend, aber mit offenen Armen auf dich zugetaumelt, in der Hoffnung von dir genauso freudig aufgefangen zu werden. Oh my sweet summer child!
Was hab ich mir nur dabei gedacht? Ich hatte praktisch keine Erfahrungen mit Deckbuildern, also musstest du mir alles über dich beibringen. Das war sicher keine leichte Aufgabe, das gebe ich zu. Und deswegen hast du dich auch von Anfang an davor gedrückt und mich meinem Schicksal überlassen. Ich stolperte also durch dich durch, ohne auch nur die geringste Ahnung, was ich tun und lassen soll. Die Tipps behieltest du leider für dich. Nur der Hermelin kommentierte gelegentlich extrem enttäuscht meine Leistung.
So brauchte ich sehr lange, bis ich auch nur annähernd die Grundskills drauf hatte, die ich brauchte, um ganz kleine Schritte vorwärts zu kommen. Das Problem war nämlich: Du ließt mich ständig sterben. Keinen noch so kleinsten Fehler hast du mir verziehen! Denn natürlich sahen sie aus deiner Perspektive nicht winzig, sondern gigantisch aus. Was ich dir denn getan habe, hab ich dich gefragt, immer und immer wieder, dass du meinst, mich so zu behandeln zu müssen. Aber du hast es nicht für nötig erachtet, mir zu antworten oder auf mich einzugehen.
Lieber hast du mich alleine mit meinem Kidnapper in der Holzhütte sitzen lassen. Dort musste ich mysteriöse Raum-Rätsel lösen und meine Karten gegen seine kämpfen lassen, bis ich am Ende vom ersten Akt meinen eigenen Weg herausgefunden habe. Einige meiner Freunde meinten, das gehöre eben dazu. Ich müsse dir mehr Zeit geben, mich mehr auf deine Ansprüche einlassen, die ich online nachlesen und mir einprägen sollte. Das hab ich dann auch getan und unsere sehr einseitige Beziehung unterstützt und aufrechterhalten. Dabei habe ich nur nicht sehen wollen: Du wolltest mich einfach nicht! Wir waren nie geeignet füreinander. Du brauchtest keine Spielerin, sondern eine Meisterin. Das konnte ich dir nicht bieten. Du hast nie behauptet, du würdest dich um mich kümmern, das stimmt. Vielleicht war das nur mein eigener Wunsch, dem du nicht gerecht werden konntest. Allerdings hättest du mir zumindest deine Ansprüche an mich verraten können, statt mich nur anzuschweigen!
Ich hätte es sehen und mich von Anfang an anderem zuwenden müssen! Die vielen Stunden, in denen ich dich angeschrien habe, wieso ich denn nun schon wieder von dir an die Eingangstür gestellt wurde, um das Spiel neu zu beginnen, hätten mir ein Zeichen sein sollen, dass etwas zwischen uns ganz und gar nicht stimmt. Aber ich will nicht unfair sein: Nach einer Weile hast du mir einige starke Todeskarten gelassen, die ich mit etwas Glück in meinem nächsten Leben zurückbekommen konnte, um länger zu überleben. Im Vergleich zu dem, was ich bis dahin schon in unsere Beziehung gesteckt hatte, fühlte sich das aber nur nach einem viel zu kleinen Trostpflaster an.
Wochenlang habe ich dich wütend gespielt. So oft war ich kurz davor, dich zu verlassen, aber ich wollte es dir zeigen und kam immer wieder zurück! Nur noch für diesen einen Durchgang. Ich konnte es schaffen und ich würde dich nicht gewinnen lassen! Was für ein Triumph, als ich den ersten Akt endlich verließ und auf einen komplett neuen Spielteil mit neuen Figuren, neuer Grafik und neuem Storyrahmen stieß! Und was für ein umso tieferer Fall, als ich merkte, dass du mich getäuscht hattest und mich wieder getötet hast, weil ich dein Geheimnis nicht gefunden und im exakt richtigen Moment angewendet hatte.
Mein tatsächlicher Sieg über dich war mehr laute Genugtuung als ehrliche Freude. Du konntest mich nicht halten! Ich war dir entkommen! Ich beschimpfte dich, während ich die Hütte verließ. Doch selbst an dem Punkt hast du den Ausgang vor mir versteckt. Warum, frage ich dich! Warum hasst du mich als Spielerin so sehr? Ein bisschen zugänglicher hättest du dich ja schon verhalten können!
Aber es ist, wie es ist. Danach sollte ich mich also durch Kapitel 2 von 3 kämpfen, wie ich hörte. Die Grafik hat sich ins pixelige verändert, ein neuer Charakter und eine neue Storyebene wurden von dir eingeführt, die mich in unsere Welt und Realität zurückzerrt. Du lässt mich nach verlorenen Kämpfen nicht mehr sterben und es fühlte sich endlich an, als hättest du mich akzeptiert. Nur inzwischen weiß ich nicht mehr, wie ich mit dir umgehen soll, ohne dich zu bekämpfen. Unser neuer Waffenstillstand wirkt gefühllos und uninteressiert. Er hat mir den Hass und die Wut genommen, die mich so lange vorangetrieben haben. Eine Weile hatte ich noch Gefallen daran gefunden, zu lernen, wie ich für alle Gegner*innen ein speziell abgestimmtes Kartendeck zusammenstelle. Aber die neuen Karten kamen so schnell, die Gegner*innen waren so stark und es wuchs mir über den Kopf. Du bliebst natürlich wortkarg wie immer. Wenige Hinweise, was mir bei meinem Weg helfen könnte, das ist einfach nicht dein Ding, I get it! Deswegen musste ich nun für uns beide eine Entscheidung treffen:
Liebes Inscryption, ich werde dich verlassen. Es hat keinen Sinn mit uns. Wir sollten uns beide anderem zuwenden, das uns Freude macht. Du könntest dir eventuell Gedanken darüber machen, ob du nicht auch mal kooperativer sein könntest, immerhin suchst du ja Spielpartner*innen. Aber ich weiß, Leute unterstützen dich in deinem Verhalten und nennen dich “konsequent” und “genial”. Warum solltest du dich also grundlegend überdenken? Es ist okay, ich hoffe ganz ehrlich, dass du und dein Freundeskreis damit glücklich werdet. Vielleicht erzählst du mir irgendwann bei einer kurzen Runde und einem Kaffee davon und lässt mich endlich in deinen 3. Akt hineinblicken, den du so lange vor mir versteckt hast. Ich glaube, in kurzen und zwanglosen Dates könnten wir uns gut verstehen, vielleicht siehst du das ja auch so! Bis dahin gehe ich aber wieder zurück zu meinen Freund*innen, den netten und wholesome Games zurück, die für mich da sind und meine Zeit und Nerven respektieren. Sie freuen sich und haben mich genauso vermisst, wie ich sie.
Bis dann liebes Inscryption,
Deine Karten habe ich auf dem Nachttisch gelassen
2 Kommentare
Ein sehr unterhaltsamer Te(s/x)t, vielen Dank dafür.
Wirklich gut geschrieben und den Stil bis zum Ende konsequent beibehalten.
Lob, Lob!
Fantastischer Text!
New Games Journalism@its finest.
So verdammt viel besser als der gesamte Einheitsbrei mit allgemingültigem Anspuch und Zahl drunter.
Chapeux!