Vielleicht war World of Warcraft ein Fehler. Einer, der die Konventionen eines Genres bis ins Unverkennbare zerstückelt hat – ganz ohne Pointe. Mindestens ein halbes Dutzend anderer Online-Rollenspiele hat es getroffen wie ein Schlag an die Schläfe, und verdient sind sie gestorben, weil sie versucht haben, den Primus zu kopieren, ohne Aufwand, nur kopiert mit anderem Namen, mehr nicht, verdammt nochmal, warum denn nicht mehr?
Vielleicht war World of Warcraft ein Missverständnis. Eines, das selbst heute noch leise nach Verständnis wispert. Fast 20 Jahre nach Release hat sich das Spiel so grundlegend verändert, das gar nicht mehr auffällt, wie der Kern weiter rottet. Erweiterungen wie Shadowlands oder Battle Of Azeroth ballern dem Spielenden Mechaniken ins Gesicht, die oftmals nur durch Guides von externen Websites annähernd Sinn ergeben. Wer neu einsteigt, ob nach Jahren der Pause oder tatsächlich das erste Mal, wird Google auswendig lernen müssen.
Aber vielleicht ist World of Warcraft doch mehr als das. Noch schlimmer, ja, und doch gleichzeitig vor allem eines: das beste Rollenspiel aller Zeiten. Unironisch gemeint.
Vielleicht ist World of Warcraft jetzt, nach all den Jahren, ein Rausch, der Nostalgie in die Venen pumpt und die Atemluft mit fucking LSD vermischt. Durch die zwei Kontinente zu fliegen, die ich vor 17 Jahren kennen, aber nie auswendig gelernt habe, betütert alle Sinne. Einfach so kann ich das jetzt. Aufs Flugmount hopsen und eine Spielwelt erkunden, die in dieser Größe und Varianz schlicht nicht nochmal vorhanden ist.
Vielleicht ist World of Warcraft eine Erinnerung, die mehr als nur Nostalgie befriedigt, zeitgleich eben auch die Taten und Gespräche einer Zeit feste in den Arm nimmt, in der meine tatsächliche Sucht nach World of Warcraft ebenfalls die Zeit der Freundschaft und Liebe war, die ich ausschließlich in meiner Online-Gilde gefunden habe, während im „echten Leben“ nur Schläge und Mobbing auf mich wartete.
World of Warcraft war das Oberhaupt meiner digitalen Kontakte, hielt Wache wie ein rüsterner Pixel-Papa, der dutzende Menschen beisammenhielt. Aus Nürnberg kamen sie angefahren, für das Treffen (und das jugendliche Lieben) im echten Leben, und wer niemals persönlich erschien, war dennoch ein Freund, eine Helferin, ein Kummerkasten, eine Lebensretterin. Ja, ich verdanke einer Person aus jener MMO-Gilde mein Leben.
Vielleicht ist World of Warcraft die Geschichte eines Orks, der Zeit seines Lebens Drachen metzelte, nur um mit einem Drachen-Welpen auf dem Schoß suchend nach Vergebung zu sterben. World of Warcraft versteckt in einem kurios-wuchernden Wust aus Quests einige der besten Aufgaben und Geschichten, die das Genre der Rollenspiele je gesehen hat. Manchmal setzt man sich zu einem Zwerg, und die Quest besteht darin, einem Leben beizuwohnen, das durch Trauer und Verlust zu eben jenem Sitzen und Seufzen und Quälen führt – erzählt in kleinen Texten und Sprechblasen.
Plötzlich reist man in der Zeit und kämpft gegen turmhohe Murlocs in Ritterrüstung oder erhebt das Trinkhorn mit Odyn zur Feier der Jäger-Fähigkeiten. Einem sprechenden Baum hilft man bei der Erziehung von Entenküken, schmückt das Skelett eines toten Drachen mit Blumen und Leben, spielt die Schlüsselereignisse der Warcraft-Story als Theaterstück nach und, vielleicht mein Quest-Favorit, hilft dem Jagd-Hund Taivan, der nicht besonders gut jagen kann, eine neue, wundervolle Bestimmung als Trauma-Helfer zu finden.
Vielleicht ist World of Warcraft das schönste Rollenspiel, das je erschienen ist. In den funkelnden Feen- und Elfenländer von Suramar bis in die Schattenlanden oder der von „Moin!“ ausrufenden Menschen bevölkerten Hafenstadt Boralus blüht selbst nach fast 20 Jahren ein Spiel von gleißender Schönheit. Ja doch, seht hin:
Vielleicht ist World of Warcraft ein Mechanik-Monstrum. Aber lieb gemeint. Bei meinem (un)heiligen Nachnamen schwöre ich, dass WoW eine Art roguelike-Instanz bietet, die sich nach jedem Lauf ändert, Zwischenhändler mit Buffs bereithält und mit zufälligen Mechaniken den Spielverlauf ständig wechselt. In der Erweiterung Legion erkundet jede (!) Klasse ein eigenes kleines Gebiet samt toller Geschichte, die sogenannten Class-Halls; in Warlords of Draenor baut man eine eigene Siedlung auf; PvP-Schlachtfelder sind größer als manch ein RPG insgesamt; und im aktuellen Addon Dragonflight reite ich auf einem Drachen und färbe und frisiere und schmücke ihn und füge der Fortbewegung eines MMOs endlich neue Aspekte hinzu, bringe meinen virtuellen Kleiderschrank mit neuen Transmog-Optionen zum bersten und krönte meine ohnehin räudige Spielzeit mit einer beinahe zweistelligen Stundenzahl im Editor, als ich die neue Rasse der Dracthyr kennenlernte.
World of Warcraft ist das beste Rollenspiel aller Zeiten. Ohne einen Zweifel. Ja, ohne einen Zweifel vermüllt es Inhalte, die hunderte Stunden Spaß bieten können, in nutzlosen, überfrachteten Systemen, die ungelogen stundenlange Recherche benötigen, um überhaupt erst herauszufinden, wie man sie startet. Kaum ein Rollenspiel ist so feindlich gegenüber Neulingen und die vergangenen Addons enttäuschten zumindest Hardcore-Spielende, und doch droppe ich jetzt das größte „aber“ meines Lebens: aber nichts davon überstrahlt die schiere Exzellenz, Größe, Freiheit und endlosen Spaß, den ich mit World of Warcraft seit nunmehr 17 Jahren in verschiedenen Etappen meines Lebens genießen durfte.
In World of Warcraft kann ich sein und machen, was ich will. Wirklich. Es gibt kaum Grenzen. Nach fast zwei Jahrzehnten ist alles hier, was ein Rollenspiel braucht. Brillante Geschichten, wunderbare Herausforderungen, dutzende Klassenmöglichkeiten, ein Haufen Mechaniken, gehüllt in eine zeitlose Grafik – es ist alles hier.
Und vielleicht verkleide ich jetzt meine Druidin als Fischwesen und unterwandere die Murlocs. What a time to be alive.
Anmerkung: Sexismus, Machtmissbrauch, Diskriminierung – alle Infos zu den problematischen Arbeitsbedingungen bei Blizzard findet ihr hier.
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