In dem Rückspiegel eines Ford Escorts im kleinen Städtchen Nüpli, Estland, habe ich Gott gesehen.
Öl und Dreck tanzen auf meiner Zunge, während die Tachonadel die Sphären der Unendlichkeit definiert. In meinen Händen singt das Lenkrad die Melodie der Schöpfung, und sie klingt wie ein Citroen C3, dem der Urknall aus dem Auspuff scheppert.
EA Sports WRC. Die einzig wahre Antwort auf alle Fragen. Ich fahre Rally, also bin ich.
Es kieselt. Der Kleinwagen poltert die Piste hinunter. Auf ihrem Weg der Rache zerfetzen Steine und Geröll die Karosserie. Nature is healing, aber mein Ford Fiesta stirbt. Ein Überschlag in ekstatische Zerstörung von Tür und Glas reibt meine Haut in den Controller. Unter der Motorhaube eines Subaru Impreza erhebt sich ein neues Universum über die Endlichkeit einer Strecke. Aus 10 Kilometer in Schweden transzediert das Zentrum allen Seins. Die Geburt von Leben und Adrenalin in 12 Minuten Schotterstrecke.
Über mir reißt der Himmel auf und trägt mich hinein in die Ödnis der Piste, wringt meine Lunge aus wie eine Supernova in meinen Eingeweiden. Jeder Millimeter zu viel auf den Knüppeln meines Controllers brechen den Rausch auf in Einzelteile, die bis in die Spitzen von Daumen, Herz und Verstand explodieren. Kein Spiel ist so schwer, kein Spiel so sehr Spiel wie WRC. Ich berichte von tausend Kilometer auf den Nervenenden aus Stock, Stein und Asphalt. Jede Kehre ein mögliches Ende, dabei immer auch Neuanfang, wie ich verschwinde in der U-Kurve des Lebens.
Den Bergen und Tälern offenen Mäulern drifte ich entgegen und tänzele um ihre Reißzähne aus Brücken, Bäumen und Büschen. Wächtern rahmen sie mein Ziel ein, immer auf der Suche nach dem kleinsten Stoß gegen Steuerknüppel und Gaspedal. Nichts in WRC vergibt. Am wenigsten ich mir selbst. In den Wahnsinn fahre ich mit 160 Kilometer pro Stunde, und Gott hält am siebten Tage nur inne, weil die Rücklichter meines Audi Sport quattro ihn aus Selbstzweifel in die Therapie dröhnen.
WRC ist kein Rallyspiel mehr, es ist der Zustand von Rausch, der sich seiner bewusst wird, reagiert, atmet, pulsiert bis eine Frequenz erreicht wird, in der ich als Fahrer das Handeln dem Puls, dem Schub, dem Instinkt überlasse. Der höheren Form entgegenblinzelnd, werde ich und er, der Rausch, eins. Zwei. Drei. Alles, was danach kommt. WRC ist Leben. Und mein Mitsubishi Lancer dröhnt durch die Venen meiner Formen und komplettiert mich. Ich bin. Bin nicht gut, aber bin. Was will ich mehr?
Jede Bestzeit nur ein Spiegel meines Versagens. Woran ich zweifle, kann ich nicht beschreiben, weil Wörter dafür erst gefunden werden müssen. In der Cockpit-Sicht klammere ich mich an das letzte bisschen Realität, das mir bleibt, wenn in Kenia die Unendlichkeit aus Schlamm und Staub mir Sicht und Sein vernebelt. Ich will es so. WRC ergreift von mir Besitz wie Dark Souls es nie konnte: im Ansporn auf das Erreichen eines Ziels über die Frustgrenze hinauswachsen. Was bleibt, ist nichts außer der kreischenden Ekstase aus dem Motorraum. Auf die Plätze, fertig, vrooooom.
In den Formen der Kurve lechzt der Antrieb vierfach nach den Reflexen meines Könnens. 32 Jahre habe ich hierauf hingearbeitet: Drift. Der Drift. Der Drift. Der, die, das Drift. Meinem Auto fehlt die Tür und mir nicht mehr der Sinn des Lebens. Am Straßenrand kauern die Objektive schlecht bepixelter Gestalten in dem Versuch, mich zu finden. Vergebens. Der Kamera entgleite ich wie meine Reifen der Physik: mit Gewalt. Mit 145 km/h.
Gänseblümchen am Straßenrand, kurz davor gepflückt zu werden von den Kieselgeschossen aus dem Profil meiner Reifen. Mein Ford Focus bittet um Verzeihung und ich um Vergebung. Dafür, dass ich hier bin. Und schreibe. Über das Unfassbare.
Die Rücklichter meines Autos enthüllen Gottes Werk: EA Sports WRC.
1 Kommentar
Schöner Artikel der Lust aufs Spiel macht. Auch die Screenshots finde ich besonders gelungen.