Wer hat eigentlich den Computer erfunden? Alan Turing in den frühen Vierzigern, als Vorläufer der heutigen Maschinen? Oder Charles Babbages um 1830, dessen ‘Analytical Engine’ die streng genommen die wirklich erste Rechenmaschine war? Aus historischer Romantisierung vermutlich eher ersterer. Doch Babbages Maschine war wirklich nur genau das: Ein Rechenkasten, der kalkulieren konnte. Mehr wollte Charles auch gar nicht. Seine enge Freundin und Arbeitskollegin Ada Lovelace jedoch? Sie formulierte Visionen dessen, was solche Geräte in der Zukunft einmal im Stande zu tun sein mögen und wie Menschen mit Computern als Werkzeug umgehen könnten. Heute gilt Ada als erste Programmierin. Der Analytical Engine wird dennoch Babbages zugeordnet, und die Frage nach der Erfindung des ‘Computers’ würden die meisten Menschen, wenn nicht sogar mit Steve Jobs, dann doch eher mit Alan Turing beantworten.
So tut es zum Beispiel Sid Meier’s Civilization VI, das Spieler für besondere Leistungen auf einem Fachgebiet mit einer sogenannten Großen Persönlichkeit belohnt. Das durchzieht alle Subsysteme des Spiels: von Generälen und Admirälen für den Krieg über Propheten, Kaufmänner, Ingenieure und Wissenschaftler für unterschiedlichen Fokus auf die im Spiel verfügbaren Ressourcen bis hin zu Musikern, Malern und Autoren, deren Werke Paläste und Museen füllen. Solche Großen Peronen sind in der Regel reale Menschen, die einen wichtigen Beitrag zum Themenbereich geleistet haben, aus dem die Persönlichkeit rekrutiert wird. Für starke Kriegsleistung in der Klassik kann zum Beispiel Sun Tsu mit ins Feld ziehen. Und für herausragende wissenschaftliche Leistungen in der Moderne? Alan Turing eben, dessen besonderes Talent die Entwicklung der Computer-Technologie in Windeseile ermöglicht. Von Alan Turings maßgeblich an der Erfindung beteiligten Kollegen, allen voran der Kryptographin Joan Clarke etwa fehlt jede Spur. Ada Lovelace, die erste Programmiererin der Welt, hat es immerhin als Große Ingenieurin ins Spiel geschafft und auch sie verschafft einen Bonus auf Computerforschung. Allerdings, Turings Civilopedia-Eintrag im Spiel preist ihn als Vater des Computers:
Alan Mathison Turing is today considered the “father” of both theoretical computer science and of artificial intelligence.
Währenddessen konzentriert sich Adas Enzyklopädieseite vor allem auf zwei Dinge: Ihre Beziehung zu diversen Männern (ihrem Vater, Babbage und ihrem späteren Mann) und darauf, dass sie bis auf die Arbeit mit selbigem keinerlei Bedeutung hatte:
The only legitimate child of the poet Lord Byron (who abandoned his wife a month after the birth), Ada Lovelace began a lifelong friendship with Charles Babbage, a professor of mathematics at Cambridge, in 1833 AD, when she was but 17 years old. Their relationship seems to have been a platonic one, for they soon commenced a voluminous correspondence on mathematics, logic, and all manner of scholarly topics. In 1835 Ada married William King, ten years her senior and soon Earl of Lovelace. She would bear three children.
Her only other significant contribution to civilization resulted from her efforts as a translator for Babbage.
Jene Doppelmoral zieht sich durch das System; Vom ausgedehnten Pool großer Persönlichkeiten ist leider nur ein Bruchteil weiblich. Die als neutrale Informationsquelle gedachte Civilopedia – ganz dem Namen nach eine Wikipedia im Spiel mit möglichst vielen Informationen zum praktischen Nutzen, aber auch zum historischen Hintergrund jeder Einheit – scheint sich nicht besonders viel Mühe damit zu geben, Frauen und Männer als ebenbürtig darzustellen. Frauen werden dann eben auf ihre Beziehung zu Männern reduziert, wohl damit sich die männlichen Spieler – mit Sicherheit nach Meinung der Marketingabteilung immer noch Hauptzielgruppe ‘trockener’, strategischer Spiele – auch mit ihren schwer erarbeiteten Belohnungseinheiten identifizieren können, wenn sie deren Geschlecht nicht teilen. Halb so wild, sagt der Eintrag, schau, über diesen oder jenen Mann könntest du sie vielleicht kennen. Ihr Charakterportrait ist ja sowieso männlich – alle Persönlichkeiten einer Gattung teilen sich das gleiche, und das ist eben ein Mann – also ist es bis auf den Namen doch eh gleich, welchen historischen Charakter man bekommt (Immerhin – das Einheitenmodell variiert und beinhaltet sogar teilweise farbige Personen. Da man gewöhnlicherweise aber auf maximal herausgezoomter Stufe spielt, bekommt man das kaum mit – das Porträt im User Interface dagegen schon).
Doch gerade da widerspricht sich Civilization VI selbst, denn in keinem Teil vorher wurde so viel Wert darauf gelegt, die einzelnen Großen Personen zu diversifizieren, jeder einzelnen Daseinsberechtigung sowohl im historischen Kontext als auch vom spielerischen Nutzen zu verschaffen.
Zurück geht das System ursprünglich auf Sid Meier’s Colonization, das Civilization-Spinoff von 1994. Die darin auftretenden Gründerväter waren noch mehrfach rekrutierbar, auch von unterschiedlichen Parteien gleichzeitig. Im 2008 erschienenen Standalone-Addon zu Civilization IV, ebenfalls mit Namen und Thema Colonization, wurde dieser Punkt korrigiert; Wer einen bestimmten Gründervater (unter diesen Namen fielen auch die wenigen Frauen, etwa Pocahontas) bekommen wollte, musste ihn sich vor den eigenen Rivalen verdienen.
Sid Meier’s Civilization V führte zum ersten Mal den Begriff Große Person ein, ging jedoch in Sachen Diversität einen riesigen Schritt zurück und machte alle Personen einer Gattung gleich. Es unterschieden sich zwar Namen, aber alle hatten den gleichen Effekt innerhalb ihrer Klasse. Das führte zu Vergessbarkeit; lediglich die Namen der Schriftsteller, Musiker und Maler merkte man sich vielleicht, da denen immerhin die korrekten Werke zugeordnet waren.
Civilization VI dagegen legt wie erwähnt großen Wert auf die unterschiedlichen Merkmale der historischen Persönlichkeiten. Die ihnen zugeordneten Fähigkeiten orientieren sich immerhin lose an ihrem realen Themenfeld. So sorgt Carl Sagan für Fortschritte in der Weltraumforschung und Levi Strauss versorgt die Bevölkerung mit einzigartigen Jeanshosen. Doch durch die Darstellung der weiblichen Großen Personen untergräbt Civilization VI dann wieder den inklusiven, weltoffenen Eindruck, den es durch den Einbau von Architektinnen wie Jane Drew oder Okönominnen wie Helena Rubinstein (der ‘Erfinderin’ kommerzieller Schönheitsprodukte) zu gewinnen versucht.
Dafür hat es dann immerhin Hildegard von Bingen irgendwie in die Riege der Großen Wissenschaftler gebracht. Hildegard, die für ihre mystischen Lehren und ihren klösterlichen Universalunterricht heilig gesprochen wurde und heute vor allem der Esoterik-Ecke als Rollenmodell gilt.
Es lässt sich natürlich argumentieren, dass Geschichte nicht aus heutiger Perspektive bewertet werden soll. Was zu einer anderen Zeit als wichtig erachtet wurde, kann heute völlig belanglos sein und das damalige Zeitgefühl dennoch nachhaltig geprägt haben. So auch etwa mit Hildegard; nur weil wir heute wissen, dass Mystik so gar nichts mit Wissenschaft zu tun hat, verleugnet das nicht, dass diese Begriffe damals teilweise sogar synonym zueinander stehen konnten.
Dennoch ist es bemerkenswert, dass die meisten Wissenschaftler in Civilization einen ganz wesentlichen Beitrag oder Vorlauf zum heutigen Stand des Wissens lieferten. Die Auswirkungen von Galileos, Einsteins oder eben (trotz obiger Kritik) Turings Handeln auf die Welt von heute müssen wohl kaum einem explizit erklärt werden. Auffällig, dass es sich bei diesen ‘Selbstverständlichen’ immer um Männer handelt – warum etwa durfte nicht Marie Curie neben Einstein den Zeitstrahl voranbringen? Auch sie würde problemlos in die Riege der Großen Persönlichkeiten passen.
Dass Civilization VI nicht nur ein Problem bei der Darstellung von Frauen, sondern auch von ethnischen Gruppen und kolonisierten Staaten hat, habe ich schon in meiner Review zum Spiel festgestellt und kritisiert. Und dass die Einstellung, historische Erfolge stünden hauptsächlich Männern zu, tiefer verwurzelt ist als nur in Spielen, dazu hat der Astronom Florian Freistetter übrigens gerade erst einen Text über die Entdeckung der Plattentektonik geschrieben. Alfred Wegener ist uns fast allen ein Begriff, die darin behandelte Marie Tharp vermutlich allerdings nicht.
Um ein Spiel zu nennen, das es besser macht, sei The Curious Expedition (zu dem ich einen sehr begeisterten Text schrieb) erwähnt. Darin ziehen unterschiedliche Entdecker zur Erforschung der neuen Welt aus – wobei ‘Entdecker’ ein sehr weit aufgefasster Begriff bleibt. Nikola Tesla etwa darf ebenso an der Jagd auf die Städte aus Gold teilnehmen wie Amelia Earhart – oder eben auch Marie Curie. Dass hier die Geschlechterverteilung deutlich ausgeglichener ausfällt, zeugt nicht nur von der weltoffenen Vernunft des deutschen Entwicklers Maschinen-Mensch, es macht auch Spaß. Denn dem notorisch rassistischen Howard Phillips Lovecraft mit der Union Army-Spionin Harriet Tubman eins auszuwischen fühlt sich nicht nur auf einer Ebene ganz ausgezeichnet an.
9 Kommentare
Das Geschichtsbild von Civilization ist doch generell sehr fragwürdig und folgt im Grunde genommen immer noch dem “Große Männer/Herrscher, große Politik”-Diktum, dass schon vor 100 Jahren in der Kritik stand ((http://ingeb.org/Lieder/werbaute.html)) und heute geradezu lächerlich wirkt, gepaart mit diesem abstrusen Fortschrittsgeseier, dass Civ aus jeder Pore tropft, der unhaufhaltsame Fortschritt der Menschheit. Der Hegelsche Weltgeist herrscht noch uneingeschränkt bei Firaxis. Da habe ich die völlige Unterrepräsentation von Frauen, den Eurozentrismus und auch diesen Fortschrittsglauben immer nur als logische Konsequenz der grundlegenden historischen Perspektive betrachtet, welche Civ wählt, ohne damit zu meinen, dass eine Kritik daran überflüssig sei, ganz im Gegenteil, freue mich zb auch über deine Civ-Artikel.
Wenn man aber einen Geschichtsablauf präsentiert, der vom “Ringen der Völker” erzählt, von großen Herrschern und genialen Erfindern und Denkern schwärmt, also eine völlig konservative, überholte Geschichtsschreibung aufgreift, dann kann es nicht verwundern, dass Frauen oder generell Indigene da nur einen Platz an der Seite haben und nur selten die Bühne betreten und wenn, dann in Begleitung eines Mannes (Ada Lovelace) oder Europäers (Pocahontas). Aber woher sollen sie auch die Frauen nehmen, sie sind ja auch nicht vorhanden (real ja, aber nicht in dieser Art von historischem Narrativ), weil sie schon immer verschwiegen, vergessen und klein gemacht wurden. Das hat die Geschichtsschreibung durchaus versucht zu korrigieren, wo möglich, muss aber vielfach auch einfach vor fehlenden Quellen kapitulieren, eben das schon zu Lebzeiten stattfindende Verschweigen und Verdrängen, auch wenn man sicherlich bei Civ nicht gerade die neuestens Forschungsergebnisse präsentiert bekommt.
Ein weiterer Punkt ist aber auch, dass es ja nun auch einfach tatsächlich mehr männliche “Große Persönlichkeiten” gab im Verlauf der Jahrtausende. Denn das Frauen der Zugang zu Bildung und Institutionen verhindert und erschwert wurde, ist ja kein Geheimnis. Das Resultat sind dann eben mehr “Große Männerpersönlichkeiten”, nicht als Abbild ihrer natürlichen Überlegenheit, sondern als Abbild einer grundlegenden, strukturellen Diskriminierung. Für die Frage der Unterrepräsentation von Indigenen usw gilt ähnliches. Wollte Civ das ändern, müsste es das ganze Spiel vom Kopf auf die Füße stellen, aber dann wäre es nicht mehr Civ, denn dann würde Geschichte auf einmal von allen Menschen gemacht, bewusst und unbewusst, und nicht mehr von Völkern und Herrschern, seltener Herrscherinnen.
Dass es mehr männliche als weibliche “Große Persönlichkeiten” gab, ist definitiv richtig. Worüber ich mich in der Hinsicht ja hauptsächlich beschwere, ist die Abwesenheit von solchen weiblichen Persönlichkeiten, die es schlichtweg gegeben hat (Lieblingsbeispiel Marie Curie) und die selbst historisch unbeleckten Personen schnell in den Sinn kämen, wenn man sie nach “großen Wissenschaftlern” oder ähnlichem der entsprechenden Epoche fragt (wieder, Curie).
Wenn die Sicht von Civ auf das Ringen der Völker und den Fortschritt durch einzelne Personen konservativ ist, wie sieht denn dann deiner Meinung nach ein progressives Geschichtsbild aus? Das würde mich interessieren, da ich bis auf den Geschichtsunterricht und ein paar angelesene Interessengebiete wenig Ahnung von Geschichtswissenschaften habe. Dass Civ nicht repräsentiv ist ist selbst mir klar, aber dass es so destruktiv zu sein scheint, wurde mir erst mit stärkerer Betrachtung (seit meiner Kolonialismus-Kritik in der Review) bewusst.
Also erstens ist “father” of theoretical computer science
nicht Erfinder oder Vater des Computers sondern eher Begründer der theoretischen Computerwissenschaft / Informatik.
Zweitens würde ich gerne mal wissen, welche (großen) Errungenschaften Ada Lovelace zugesprochen werden, abgesehen davon, dass sie (auch) ein Programm geschrieben hat.
Drittens entschuldigt das natürlich nicht das Fehlen einer Marie Curie oder ähnlichen Persönlichkeiten.
Neben dem ersten Computerprogramm (was ich als Grund, in die Geschichte einzugehen, schon für ausreichend genug halte) war sie die erste, die Visionen für Rechenmaschinen formulierte, die über das bloße Lösen von Rechenaufgaben hinaus gingen. Alan Turings Aufsatz über künstliche Intelligenz etwa bezieht sich auf Lovelaces Erklärungen, warum Babbages Maschine ungeeignet für KIs sei. So gesehen halte ich sie in mehr als einer Hinsicht für eine Vorläuferin des Informatikbereichs. (Wikipedia, weil einfach)
Das ist ja aber gar nicht meine eigentliche Kritik. Turing war groß und wichtig und gut, ob er nun den Computer oder die Informatik erfunden hat. Der Punkt ist, dass Civ Turing als groß und wichtig und gut darstellt, und zwar in einem prägnanten Satz; während Lovelace (stellvertretend für einige andere Persönlichkeiten, von denen ich vor Civilization zugegebenermaßen auch noch nie gehört hatte) sehr ausführlich auf ihre Beziehungen zu irgendwelchen männlichen Zeitgenossen heruntergebrochen wird.
@Pascal
Aus Civ tropft die standard-bürgerliche Geschichtsschreibung aus dem 20. Jahrhundert aus jeder Pore. Da hat man die verschiedene Völker mit ihren jeweiligen Führern und die ringen dann um die Weltherrschaft. Die Nationen sind bei Civ zwar gleichberechtigt, aber bei so einer Perspektive schwingt auch immer ein gewisser Rassismus mit. Naja zumindest hat jede gute Ideologie ihre Geschichtsauffassung. Bei Civ ist es die bürgerliche, daneben gibt es z.B. noch die anarchistische. Das wäre die Perspektive von Machtprozessen.
Bei so einem Civ würde man eine Machtelite spielen, deren Hauptgegner die eigene Bevölkerung ist (http://www.alternet.org/chomsky-nsa) und man muss halt immer mehr Technologie erfinden um immer mehr Arbeitskraft aus der Bevölkerung auf die eigenen Mühlen zu lenken, den Ausbeutungsgrad quasi immer weiter erhöhen. Das fande ich schon cool (abgesehen davon, dass ich die Civ-Reihe liebe), wenn Erfindungen nicht so weichgespült gut wären wie jetzt, sondern ambivalent bis zu offen bösartig.
Z.B. Grosser Mann Edward Bernay der Erfinder PR sorgt dafür, dass der Unrest runtergeht und der Kommerz durch Werbung steigt. Das gibt es jetzt vielleicht schon.
Oder “Welt-(Gegenteil-von-)Wunder” Archipel Gulag gibt einen Produktivitätsboost auf Kosten der Bevölkerung.
Oder man kann ein Arbeitshaus (https://de.wikipedia.org/wiki/Arbeitshaus) in der Stadt bauen um beim Übergang zum Kapitalismus, die Bevölkerung bzw. die Armen zum Industriearbeiter zu erziehen und ähnliche Massnahmen für die Erziehung der indigene Bevölkerung in etwaigen Kolonien.
Oder auch schön “Weltwunder” Ursprüngliche Akkumulation (https://de.wikipedia.org/wiki/Urspr%C3%BCngliche_Akkumulation).
Warum gibt es nur Grosse Männer und nicht Grosse Schrucken, wie Jack The Ripper oder John Dillinger. Um den Unrest/die Unzufriedenheit zu bekämpfen, muss man die Bevölkerung unter Angst halten, dabei helfen die Grossen Schurken. (Und später muss man seine eigene Bevölkerung versuchen möglichst durch Roboter zu ersetzen, die machen kein Unrest.)
Oder Nationales Feindbild : bekämpft Unrest der Bevölkerung durch Progrome gegen Angehörigen der ausgewählten Religion auf dem eigenen Territorium und das dauert umso länger je mehr Angehörige man hat. Nachteil ist die Bevölkerung sinkt dann um den Anteil der Vertriebenen.
Oder die Erde kippt immer ökologisch um, egal wie man spielt, ausser man bleibt im Mittelalter, aber dann wird man von den anderen vernichtet und man kann nur gewinnen, wenn man rechtzeitig das Raumschiff fertig bekommt.
Für eine alternative Geschichtsauffassung kann man sich ja mal die Prof. Rainer Mausfeld Vorträge auf Youtube ankucken. Ansonsten würde ich die Bücher von Howard Zinn und David Graeber empfehlen in der Richtung oder auch sehr cool “The Art of Not Being Governed” von James C. Scott.
War ziemlich beschäftigt die letzten Tage, komme erst jetzt wieder dazu und int hat ja auch schon ein paar Anmerkungen gemacht, wie sehr Civ einer altbackenen, bürgerlichen Geschichtsschreibung folgt.
Was das Geschichtsbild von Civ problematisch macht? Das sind so viele Punkte, ich versuche es knapp zu halten.
Civ folgt als Aufbauspiel natürlich gerne der Vorstellung, die menschliche Geschichte wäre ein beständiges Voranschreiten zu immer neuem Fortschritt. Nur ist die Geschichte eben auch voll von Brüchen, Wissensverlusten, Zivilisationsuntergängen, es ist keine immer weiter nach oben strebende Linie, sondern eher eine gebrochene, verworfene Kurve (unstrittig mit klarer Aufwärtstendenz, dass es ganz realen immensen Fortschritt in der Menschheitsgeschichte gegeben hat, ist völlig klar), in der Errungenschaften (in allen Dimensionen von Technik bis Philosophie) verloren oder vergessen, manchmal später wieder erinnert werden.
Jede Epoche ist meist davon überzeugt, in der bestmöglich eingerichteten Welt zu leben und etwas wie das allgemeine Wahlrecht (plus Frauenwahlrecht!) ist sicherlich etwas, was bisher die beste Möglichkeit ist von denen, die es in der Menschheitsgeschichte gegeben hat. Nur gilt dieses Prinzip eben bei Civ für eigentlich alle Bereiche, es geht immer voran und wir, unsere Epoche, sind quasi der glückselige Höhepunkt, den es zu erreichen gilt, um die Welt dominieren zu können. Dem Spiel fehlt jegliche dialektische Betrachtungsweise von Geschichte, in der vielschichtige Prozesse auch in sich gegensätzliche Bewegungen ausbilden können, die aber inhärenter Teil dieses Gesamtprozesses sind. Was Civ nur schafft, ist mal die zwei Seiten der Medaille abzubilden. Industrialisierung bringt Umweltverschmutzung, die Atombombe logischerweise ein paar unfeine Begleiterscheinungen, die Versklavung zur Fertigstellung von Gebäuden (du merkst, ich springe durch die verschiedenen Civ Teile) ein wenig schlechte Stimmung in der Bevölkerung.
Das aber die Aufklärung sowohl die Gleichheit aller Menschen formulierte (Fortschritt!) als auch den pseudowissenschaftlich legitimierten Rassismus begründete (Fortschritt?) – ein eigentlich in sich widersprüchliche Sache, die aber untrennbar zusammenhängt und sich bedingt (Dialektik) – kommt bei Civ nie vor. Das dies kompliziert darzustellen und umzusetzen wäre, keine Frage, Geschichte ist halt vielschichtig und im Rahmen eines solchen Spiels natürlich vereinfachend, was auch legitim ist, niemand will ein Uniseminar spielen…
Trotzdem hat diese eindimensionale Sichtweise, die immer nur den Fortschritt sehen will, auch ganz konkrete Auswirkungen auf die geschichtlichen Ereignisse und Persönlichkeiten, die im Spiel auftauchen und die auch vielfach den Eurozentrismus (auch wenn mit fortschreitenden Teilen die asiatische Geschichte immer mehr Raum bekommen hat, Afrika und Lateinamerika sind weiterhin, gerade was künstlerische und philosophische Aspekte angeht, im Spiel quasi nicht existent) erklären.
Denn mit der Ausrufung der Gleichheit aller Menschen, der französischen Revolution, dachten sich 1791 in der Kolonie Saint-Domingue die versklavten Schwarzen, dass sie damit ja wohl auch gemeint sein müssten und nahmen es selbst in die Hand, die Sklaverei abzuschaffen und eine freie Republik nach französischen Vorbild auszurufen. Was die Franzosen per militärischer Intervention unterbinden wollten und ihre Ablehnung rassistisch begründeten. Das war damals ein welterschütterndes Ereignis, die “Sklavenrepublik”, die “erste schwarze Republik”, ein weltgeschichtlich bedeutendes Ereignis, was heute weitestgehend im Geschichtskanon ein Schattendasein pflegt und bei Civ natürlich nicht vorkommt. Ich behaupte, eben weil man immer nur die strahlende Seite der Geschichte darstellt, die Aufklärung als tolle Sache, dabei ausblenden was mit ihr einherging (Gleichheitspostulat vs Sklaverei, Rationales Denken vs Rassismus usw). Man könnte das an zahlreichen Beispielen durchgehen, in vielen Fällen würde dann wohl auch klar, warum manche Ereignisse bei Civ schlicht fehlen und das man meist einer europäisch-nordamerikanischen Sichtweise (eben die bürgerliche Geschichtsschreibung ab der Aufklärung, die sich dort herausbildete und sich selbst als entscheidende Triebfeder der Menschheitsgeschichte begriff) folgt und noch nicht einmal die direkten Konsequenzen (Saint-Domingue) berücksichtigt.
Dies wird auch deutlich, wenn man sich anschaut, wie zb der Feudalismus im Spiel auftaucht, nämlich allein in seiner europäischen Version, auch wenn es da diverse Ausprägungen gab. Andere Beispiele gibts wieder zuhauf, ich will aber nicht zu ausufernd werden.
Ebenso vom bürgerlich, kapitalistischen Weltbild ausgehend, werden auch Vorstellungen wie Nation und Volk rückwirkend auf die gesamte Geschichte projiziert. Dabei ist das totaler Quatsch, “Nationen” (naciones) des Mittelalters sind etwas völlig anderes als moderne Nationen, die auf harte Grenzen, territoriale Kontrolle und Geschlossenheit, sowie eine Vorstellung einer Nation (geeint durch Sprache (und/oder), Religion, Kultur, moderner auch Verfassung) beruhen. Schon die letzten Imperien (Russland, Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich) vor der endgültigen Durchsetzung der bürgerlich-republikanischen Nationalstaaten (auch dies schon eine sehr eurozentrisch eingeengter Blick) waren noch völlig anders begründet, von sowas wie dem Römischen Reich oder gar dem Mexicas/Azteken-Reich ganz zu schweigen. Im Endeffekt müsste Civ mit seinen wechselnden Epochen jedes mal elementar ins Spielprinzip eingreifen und nicht nur Boni und Nachteile anders verteilen. Von sowas wie völlig veränderter Kriegsführung muss man da erst gar nicht anfangen, auch die folgt weitestgehend nur unserem modernen Verständnis.
Und klar, große Männer machen große Geschichte, von internen, meist sozialen Auseinandersetzungen, von langsamen ideologische Verschiebungen schweigt Civ auch völlig, als ob die Politikerkaste losgelöst vom Rest die Geschicke der Welt lenken würde. Ich mag das Spiel trotzdem sehr, man sollte nur nicht meinen, man könnte Weltgeschichte nachspielen oder eine alternative Version von ihr entwickeln.
Schade das nach einigen spannenden Beiträgen hier nichts mehr passiert. Mich stört bei Civ schon immer das die heutige Organisierung der Welt in Staaten und “Völker” der Normalfall ist. Aber wenn man nur etwas abseits von Jahreszahlen und Herrscherdynastien an der Oberfläche kratzt begreift man das dies nicht immer so war. Nur bei Civ eben.
Tolles Buch das den europäischen Blick durchbricht:
http://www.campus.de/buecher-campus-verlag/wissenschaft/geschichte/die_geburt_der_modernen_welt-3321.html
Suche noch ähnliche Bücher für frühere Jahrhunderte.
Vielen Dank für diesen tollen Beitrag, ich finde ihn sehr interessant und sehr gut durchdacht und zusammengestellt. Ich freue mich darauf, Ihre Arbeit in Zukunft zu lesen NFC