Warum sind meine Konkurrenten in Autospielen stets mit diesen unmenschlichen Fähigkeiten gesegnet? Wickle ich meine Karre mal wieder um eine Alleepalme, werden sie deutlich siegessicherer, fahren langsamer, schauen in ihre Rückspiegel und erlauben mir das Aufholen. Liege ich in Führung, erholen sie sich ihrerseits von übelsten Drehern in Sekundenbruchteilen und kleben mir sofort wieder am Auspuff. Warum entscheidet sich das Rennen häufig erst auf den letzten Metern, in den letzten Sekunden? Bin ich so gut oder sind die anderen so schlecht? Ist es nicht etwas unwahrscheinlich, dass gerade ich der beste Fahrer im Feld bin? Jedes Mal? In jedem Spiel, gleichgültig ob es über eine Rennstrecke geht, durch Hochhausschluchten oder in Warios Goldmine? Und warum habe ich meinen Controller trotzdem mit einem weiteren Gebissabdruck verziert?
Aktueller Anlass für diese Überlegungen ist meine Mitgliedschaft im Midnight Club: Los Angeles. Mein Bildschirm-Ich ist wieder mal ein ungemein cooler, gutaussehender, namenloser junger Mann, der aus dem Osten (der Vereinigten Staaten) kommt und im Westen (der Vereinigten Staaten) sein Glück machen will. Glück ist ja für jeden Menschen etwas anderes, für ihn und damit auch für mich ist es das Gewinnen von Straßenrennen im Stadtverkehr von Los Angeles. Das nachgebildete Straßengewirr übernimmt viele Sehenswürdigkeiten aus seinem kalifornischen Vorbild. Grauman’s Chinese Theatre, Walt Disney Concert Hall, Freeway 101 und Santa Monica Pier sind alle da, die virtuelle Stadt bleibt dennoch deutlich kompakter als der reale Moloch, ist aber immer noch gross genug, um sich in Sekundenschnelle hoffnungslos zu verfahren. Die gesamte Straßenkarte ist von Beginn an vollständig aufgedeckt und befahrbar. Die Straßen werden nicht von fahrerlosen Autos bevölkert, hinter jedem Steuer kann man eine Fahrersilhouette ausmachen. Die Bürgersteige sind nicht nur meine Auslaufzonen, sondern sie nehmen auch die autolosen Angelinos auf ihren beschwerlichen Fußwegen auf. Glücklicherweise sind sie alle mit katzengleichen Reflexen gesegnet und springen herannahenden Fahrzeugen stets rechtzeitig aus dem Weg. Trotz des Namens Rockstar auf der Packung bezieht man seinen Spielspaß dieses Mal also nicht durch den hundertfachen Passantenbeckenbruch.
Der süße Kern eines jeden RPGs, Gold und Erfahrungspunkte, wird hier innovativ mit Geld und Reputation nachgebildet. Mehr Reputation schaltet mögliche Verbesserungen am Fahrzeug frei, die dann mit Geld gekauft werden dürfen. Neben Verbesserungen, die das Sein, also die Leistung des Fahrzeugs beeinflussen, gibt es auch einen Zweig, der sich lediglich mit dem Schein beschäftigt. Die opulenten Möglichkeiten bei Farbwahl des Lacks oder der Tachobeleuchtung, bei Aufklebern oder Autounterbodenneonröhren dürften den Spielkindern unter uns genügend Raum zur Individualisierung des Wagens bieten. Der Gebrauchtwagenhändler unseres Vertrauens, übrigens auch ein Mann aus dem Osten, ein gewisser Karol aus Moskau, ist übrigens nicht die einzige Quelle neuer Zündschlüssel. Bereits am Anfang meiner Westküstenkarriere fahre ich Rennen, an deren siegreichen Ende das Verliererauto in meinen Besitz übergeht. Das funktioniert natürlich auch als eigenständiger Missionstyp mit etwas mehr Risiko. Verliere ich das Rennen, verliere ich auch mein Auto. Irgendwie gerecht. Aber dafür hat man ja den Spielstand auf den USB-Stick ausgelagert. Nach drei Minuten des Zurückkopierens und Neustartens kann ich das Rennen dann erneut angehen.
Die grobe Navigation erfolgt mit einem eigenständigen Kartenbildschirm. Dort kann ich mir den nächsten Renngegner anhand von Renntyp und Schwierigkeitsgrad aussuchen und als Ziel markieren. Zum eigentlichen Rennen muss ich dann aber doch selbst fahren. Ich kann meine Gegner aber auch unmittelbar zum Rennen herausfordern, falls sie mir zufällig auf der Strasse begegnen. Ein farbiges Icon über ihrem Autodach zeigt mir, wie auf der Übersichtskarte, Art und Schwierigkeitsgrad des anstehenden Rennens an. Kurzes Aufblenden der Scheinwerfer, wir hetzen für die Ehre zum Startpunkt und fahren dann unser Rennen. Die Rennen selbst bestehen entweder im erfolgreichen Abfahren von Wegpunkten oder dem selbstgewählten Weg zwischen Start und Ziel. Die Wegpunktrennerei kann ihrerseits auch die Form kürzerer Rundkurse annehmen, die dann mehrfach abgefahren werden. Die einzelnen Rennen können ihrerseits wieder zu Turnieren gebündelt werden, bei denen dann eine Punktzahl oder die Zahl der gewonnenen Rennen den Ausschlag über den endgültigen Sieg gibt.
Während der Fahrt wandert der Blick dann immer wieder zur eingeblendeten Ausschnittskarte, die die unmittelbare Nachbarschaft und meist die nächsten zwei Wegpunkte anzeigt. Eine Overlaykarte des vollständigen Stadtgebiets mit der Anzeige der verbleibenden Rennstrecke vervollständigt das Angebot. Unsichtbare Streckenplaner fahren der Meute voraus und plazieren Rauchfackeln an entscheidenden Kreuzungen oder Abzweigungen, die somit schon aus weiter Entfernung sichtbar sind. In den Rauch wird zudem noch ein Richtungspfeil eingeblendet, der auf die nächste Rauchsäule verweist. Die Mitfahrer werden durch über ihnen schwebende Dreiecke hervorgehoben, durch die sie auch noch aus einiger Entfernung sichtbar bleiben. Das funktioniert in 95 Prozent der Fälle sehr gut. Unglücklicherweise bleibt aber unklar, ob die Fackel jetzt einfach eine Spurmarkierung auf einer langen Gerade ist oder doch eine Abzweigmarkierung darstellt. Endgültige Klarheit verschafft da nur der kurze Blick auf die Minikarte, der dann aber meist doch lang genug ist, um mir einen unschönen Frontalzusammenstoß mit einem entgegenkommenden SUV zu bescheren. Das sind dann die Momente, in denen der Controller als Beißholz herhalten muss.
Wie komme ich nach solch einer Verzögerung auf 0 mph jetzt wieder an die Führenden heran? Zum einen wäre da der gewohnte Beschleunigungsverstärker in Form der allseits beliebten Lachgasbeimischung. Wem das nicht reicht, kann sich eine von vier Superkräften ins Auto packen, die ihrerseits im Laufe des Spiels hochgelevelt werden dürfen. Zum einen wäre da die früher Zeitlupe, heute Bullet-Time genannte Möglichkeit, den Zeitfluss ein wenig zu dehnen und in dieser Zeit durch ansonsten unmöglich enge Autogassen zu flitzen oder 120-Grad-Kurven ohne Bremsmanöver zu nehmen. Dann gibt es noch einen EMP, der allen Autos im Umkreis von 50 Metern für kurze Zeit die Zündung abdreht, eine Superhupe, die den gesamten Verkehr für einen Schockmoment aus dem Weg schreckt und zum Abschluss eine Nashornhaut, mit der wir jeden zugeparkten Freeway ohne Reue durchpflügen können. Eine letzte Fähigkeit läuft zwar nicht unter der Rubrik Superkräfte, ist aber ähnlich unverzichtbar. Man kann den Wagen jederzeit wie ein Stuntfahrer auf zwei Räder stellen, was das Durchfahren von engen Kurven seltsamerweise sehr erleichtert. Angeblich verlagere ich dabei das Gewicht, die dahinterstehende Physik scheint mir aber eher dem Cobra-11-Lehrstuhl für spezielle Fahrzeugdynamik in Extremsituationen zu entstammen.
Was macht jetzt aber ein gutes Rennspiel aus? Eine möglichst realistische Fahrzeugsimulation, solange das Fahrzeug dabei unbeschädigt bleibt, quasi die Gran-Turismo-Schule des Rennspiels? Perfekte Fahrzeugbeherrschung mit manuellem Getriebe und wildem Handbremsen-Driften? Min-Maxing bei der Fahrzeug/Fahrerwahl eines Mario Kart? Auswendiglernen der Strecke, um sich um Sekundenbruchteile bei der Rundenzeit zu verbessern, eigene Strecken und Abkürzungen finden wie bei Burnout Paradise? Wie oft darf ich einen totalen Crash haben, um noch gewinnen zu können? Muss ich 5 Minuten voll konzentriert fahren oder sind die Runden kürzer, die Gegner nachsichtiger? Sollte ich während des Rennens führen und die Konkurrenten per Gummiband-KI folgen? Sollte ich bis zur Schlussgerade Letzter sein und die Gegner auf den letzten Metern plötzlich schwächeln oder in schreckliche Unfälle verwickelt werden? Bleiben wir bei grundsätzlicheren Betrachtungen. Sehe ich die Strecke? MC:LA hat ein dynamisches Tageslichtmodell, die Beleuchtung der Stadt wechselt also von Morgengrauen über Tageslicht, Dämmerung bis zum nächtlichen Dunkel. Ab und an regnet es auch. Im teilweise rechtwinkligen Strassengitter müssen die Kurven recht genau angefahren werden, sonst steht man plötzlich vor einer Haustür des begrenzenden Blocks. Die Auf- und Abfahrten des Freeways sind bei 140 mph in der dunklen Nacht auch nicht immer sofort zu sehen. Letzlich läuft es dann doch auf ein mehrmaliges Abfahren der Strecke hinaus, um die entsprechenden Irreführungen im Streckenplan zu erkennen.
Soll das Spiel mein Freund oder mein Gegner sein? Oder emotionaler formuliert: Ein Sieg sollte sich automatisch aus meinen überragenden Fähigkeiten ergeben, bei einer Niederlage kann ich stets den programmierten Betrug der Anderen erkennen. Andere Rezensenten bemängeln den Schwierigkeitsgrad dieses Midnight Clubs. Ich halte es nicht für schwer, ich halte es schlicht für unfair. Ich muss mich durch ein Straßengewirr wuseln, das zu umfangreich ist, um es mir sicher einzuprägen. Die Variante mit den Rundkursen ist schon einfacher, da ich die plötzlichen Richtungswechsel in der Kursführung dann vor drei Minuten beim ersten Durchgang schon einmal gesehen habe. Deutlich schlimmer sind die Strecken ohne Wegpunkte, bei denen es nur um Start und Ziel geht. Man kann natürlich versuchen, einfach dem Gegner zu folgen. Unfairerweise kennt er aber eine gute Strecke schon im Voraus und es ist schwierig, ihn nach drei 90°-Grad-Kurven nicht aus den Augen zu verlieren. Ausserdem läuft diese Vorgehensweise auf einen Schlusssprint mit Boost und Superkräften hinaus. Lustig sind auch Strecken über den Freeway, bei denen man nie weiß, ob man die Abfahrt jetzt nehmen soll oder nicht, ob man einen Teilabschnitt als Geisterfahrer zurücklegen sollte, weil man am Ende die Auffahrt der Gegenspur als Abfahrt benutzen darf. Über die übermenschlichen Fähigkeiten der Fahrer und ihrer Fahrzeuge schweige ich mich lieber aus. Fahre ich also ein Rennen, so sind die fünf Minuten für den ersten Versuch meist vergeudete Zeit, die lediglich für das Kennenlernen der Strecke geopfert werden. Auch nach einem schweren Patzer muss man ohne Siegchance die ganze Strecke abfahren, um von versteckten Späßen wie einer Zielplatzierung auf dem Bahnhof statt auf der unmittelbar danebenliegenden Straße zu erfahren. Das klingt zwar nicht nach einem Problem, wird aber zu einem, wenn Straße und Bahnhof durch hohe Mauern getrennt sind und ich die eigentliche Abzweigung vor 10 Sekunden übersehen habe.
Vermutlich existieren diese Schweinereien aber auch nur in meinem Kopf. Schliesslich mache ich in meiner Karriere weiterhin kleine aber merkliche Fortschritte. So abstoßend kann das Spiel also nicht sein. Trotzdem habe ich selten so sehr das Gefühl vorgeführt und manipuliert zu werden, wie es in Rennspielen der Fall ist. Vielleicht liegt es an der mehrminütigen Anspannung, während des Rennens keine Fehler zu machen. Vielleicht sind es die Schockwellen des Aufeinanderprallens von realistischer Umgebung und unrealistischem Verhalten. Vielleicht brauche ich aber auch nur einen besseren Wagen. Oder den Jungs und Mädels in meiner Konsole wird irgendwann klar, daß sie den Wookie gewinnen lassen sollten … bitte.
3 Kommentare
Dieses Phänomen habe ich auch schon Anfang der 90er festgestellt: Was als DYNAMISCHE AI gespriesen wird, ist einfach nur frustrierende Scheiße.
Es gibt nur einen Ausweg: Spiele nur gegen menschliche Gegner! Trackmania ist eine gute Lösung…
Vielleicht wäre F-Zero GX ein Blick wert. Ist zwar schon für die letzte Konsolengeneration erschienen ist danke Wii ja immer noch aktuell spielbar.
Hier werden die Computergegner auf den höheren Schwierigkeitsgraden derart gut, das man zwarläufig nur noch unter den ersten 5 landet, was aber auch kein großes Problem darstellt, da von den 30 Gegnern nicht immer der selbe gewinnt
(Ein Phänomen, was mich am meisten an vielen Rennspielen nervt)
Einige Anmerkungen zum Multiplayeraspekt: Midnight Club: Los Angeles hat natürlich auch einen Online Modus. Neben einer Sandkastenvariation gibt es auch normale Rennen von A nach B. Ein Rennen unter Schmuddelkindern wollte sich aber nicht finden. Ein Rennen ohne das normale Matchmaking fand sich dann aber schnell. Es war dann auch sehr schnell vorbei. Die Jungs waren mir mit ihren Lamborghinis und ihrer Ortskenntnis mehr als deutlich überlegen. An meinem treuen Golf GTI hat es bestimmt nicht gelegen. Kurzfazit: das Raserleben ist hart, falls du keinen richtigen Wagen hast.
Mario Kart Wii macht Spass, mir gefällt besonders die Fahrervorstellung anhand ihrer Miis im Rennoverall. Von meinem Startkapital von 5000 Punkten, die ich als Mitgift in meine Karriere bekommen habe und die als Indikator für meine Onlinefortschritte dienen, habe ich mich aber noch nicht sehr weit absetzen können. Meine Punktzahl schwankt mit einer Breite von +/- 300 um diese 5000 Punkte und ich frage mich immer, wie einige Leute auf 7500 Punkte kommen können. Kurzfazit: meine Fähigkeiten reichen für eine sichere Platzierung in der vorderen Hälfte, die Schlussplatzierung wird aber ausgewürfelt. Das ist aber auch in Ordnung, da es einerseits transparent ist und jeden der Fahrer mit gleicher Härte trifft.
MotorStorm bietet mir mit seiner Mischung aus individuellen Pfaden innnerhalb der Rundkurse und der Wahl des Fahrzeugs eigentlich die beste Mischung. Die Länge der Boostphasen ergibt sich aus der aktuellen Position im Fahrerfeld, so dass man selbst in der letzten Runde auch von hinteren Positionen noch eine Chance für den Sprung auf das Siegertreppchen hat.
Gran Turismo 5 Prologue habe ich unmittelbar nach der Veröffentlichung online gespielt. Ein Spiel, welches so sehr auf den perfekten Fahrer setzt wie Gran Turismo, bevölkert von rüden Rowdies aus Rempelshagen. Ich hatte es als Co-Op Racer verstanden und vermutet, falls einige Leute nicht mitspielen, geht es in die Hose. Es war entsprechend die Hölle, die Wagen prallten bei Tempo 150 wie Autoscooter gegeneinander, verwandelten sich unvermittelt in Geisterschemen und materialisierten ebenso unvermutet wieder inmitten meines Weges. Damit war ich jetzt der böse Rempler und wurde mit zeitweiliger Tempodrosselung bestraft. Vermutlich ist es inzwischen die beste Simulation der Welt, ich habe es nie wieder versucht.