Der Wecker klingelt. Ich kratze mich ein letztes Mal ungehindert am Kopf und ziehe meine Boxhandschuhe an. Nachdem ich die Küche bei dem Versuch, mir Frühstück zu machen, in ein mittleres Schlachtfeld verwandelt habe, schütte ich mir eine Tasse des viel zu starken Kaffees ins Gesicht und esse etwas unförmiges, das ursprünglich ein Marmeladentoast werden sollte. Gestärkt, aber von oben bis unten besudelt, geht es ins Badezimmer: Ich schreie mehrmals laut durchs Haus, weil ich die Mischbatterie der Dusche nur notdürftig regulieren kann. Der anschließende Gebrauch von Haarbürste, Fön und Haarlack führt zu einer durchaus interessanten, aber keinesfalls gewollten Frisur. Die Zahnbürste habe ich schon am Vortag zur Erhöhung des Schwierigkeitsgrades an einem Besenstiel befestigt. Die anschließende Entfernung der Zahnpasta von Gesicht, Haaren und Badezimmerdecke gebe ich nach einigen Minuten entnervt auf. Beim Anziehen zerreiße ich zwei meiner Hemden, komme dann aber doch irgendwie in meine Klamotten. Hose, Hemd und Schuhe müssen leider offen bleiben. Auf zur Arbeit! Ich wähle sicherheitshalber den Bus, da ich berechtigte Zweifel habe, eine Fahrt mit dem eigenen Wagen zu überleben…
Als ich gegen Abend wieder nach Hause komme, liegt ein recht unproduktiver, aber für meine Kollegen überaus amüsanter Arbeitstag hinter mir. Zur Entspannung spiele ich noch eine Runde R.U.S.E. auf der 360. Die Boxhandschuhe ziehe ich hierzu allerdings aus, denn das Gamepad übernimmt ihre Funktion auch alleine ganz famos…
Ich übertreibe natürlich, ihr kennt mich. Verglichen mit früheren Versuchen, Echtzeitstrategiespiele auf Konsolen zu bringen, schlägt sich R.U.S.E. eigentlich ganz wacker. Dem Spiel gelingt es darüber hinaus sogar, einen sehr eigenen Charakter zu entwickeln und sich vom RTS-Einerlei wohltuend abzuheben, was gerade in diesem Genre schon seit Jahren immer seltener wird. Die Idee, das Ganze als abstraktes Herumschieben von Einheiten auf dem Strategiesandkastentisch darzustellen, gibt dem Spiel zusammen mit den namensgebenden Ruses (= List, Täuschung, Finte) einen interessanten Brettspielanstrich, den man so in keinem anderen RTS der jüngeren Vergangenheit findet. Meine spontane Assoziation war dann auch „Cool, Command & Conquer trifft Risiko!“. Einen ähnlichen Eindruck vermittelte ja bereits der Vorabartikel von Nille und SpielerDrei.
Da sieht man dann auch großzügig darüber hinweg, dass den Entwicklern von Eugen Systems (, die schon das von mir sehr geschätzte Act Of War verbrochen haben,) kein ausgelutschteres Strategieszenario als der 2. Weltkrieg eingefallen ist, in welchem man, mehr oder weniger historisch korrekt, wichtige Schlachten und Feldzüge der Kriegsjahre 1939 bis 1945 nachspielen darf. Wenigstens hat man dem Ganzen in der Solokampagne noch einen Schuss „Mata Hari“ verpasst, so dass man dennoch eine halbwegs interessante Story geboten bekommt.
Zoomt man weiter in die Karte hinein, verändert sich die Wahrnehmung allerdings deutlich: Aus der Nähe betrachtet werden aus den Symbolen animierte Vehikel und Soldaten, die sich in Echtzeit bewegen und kämpfen, was dann doch wieder eher an klassische Genre-Vertreter erinnert. Trotzdem spielt sich R.U.S.E. gänzlich anders als ein C&C oder StarCraft. Auf Mikromanagement wurde fast gänzlich verzichtet. Zwar muss man Depots erobern um Geld zu bekommen, welches man wiederum in neue Fabriken und Stützpunkte steckt, um dort weitere Einheiten zu produzieren, aber primär geht es eher darum, auf den sehr großen Karten ganze Frontlinien zu verschieben als mit ein paar Einheiten gegen ein paar andere Einheiten in actionreiche Scharmützel zu ziehen. R.U.S.E. setzt einen deutlich weiteren Fokus auf die Schlachten als die meisten anderen RTS-Spiele.
Hinzu kommen die bereits erwähnten Kriegslisten, die man in regelmäßigen Abständen für bestimmte Zeit auf Sektoren der Karte anwenden kann. Da das Spiel stark auf Täuschen und Tarnen setzt, spielen Aufklärung und Spionage eine ebenso wichtige Rolle. Man sieht zwar generell alle (nicht getarnten) Feindbewegungen des Feindes, aber hat zunächst keine Informationen zu der eigentlichen Stärke und Zusammensetzung der Feindverbände. So kann es sich bei dem herannahenden Trupp um einen einzelnen Panzer oder eine ganze Division handeln. Vielleicht ist es sogar ein kompletter Haufen veralteter Schrott, der sich da auf einen zu bewegt, denn eine der Listen ermöglicht es, Attrappen auf den Gegner loszulassen. Dies ist ein besonders fieses Manöver, wenn man gleichzeitig seine echten Angriffstruppen mit der List „Funkstille“ komplett unsichtbar macht, um sie ganz woanders zuschlagen zu lassen. Es stellt sich permanent die Frage, was der Gegner gerade vor hat und was man selbst dagegen tun kann. Handelt es sich bei der gerade entdeckten Offensive auf der linken Flanke um einen echten Angriff des Gegners oder ist es nur ein Ablenkungsmanöver, um mir an anderer Stelle einen schweren Schlag zu versetzen? Will er vielleicht nur Zeit gewinnen, um seine angeschlagene Verteidigung zu sanieren? Ziehe ich meine Truppen vorsichtshalber dorthin oder pokere ich mit, weil ich es für einen Bluff halte? Sollte ich gar einen simultanen Gegenangriff auf sein Hauptquartier wagen? Um also nicht vom Gegner komplett an der Nase herumgeführt zu werden, hilft nur der fleißige Einsatz der entsprechenden Aufklärungs- und Spionagelisten.
Im Grunde ist Ubisoft mit R.U.S.E. eine wirklich schöne Genre-Variation gelungen, die man besonders Strategen ans Herz legen sollte, die auch gerne mal klassische Brettspielstrategie spielen, anstatt einen Tank-Rush nach dem anderen gegen den Gegner zu schmeißen. Mehr Schach und Risiko als C&C und StarCraft. Außerdem versteht es sich bei einem solchen Spielprinzip von ganz allein, dass es am meisten Spaß macht, wenn man gegen menschliche Gegner spielt. Am besten welche, die man persönlich kennt. Die KI schlägt sich zwar ganz gut und erweckt auch nicht den Anschein, zu betrügen, aber wer möchte schon ernsthaft gegen ein paar Programmroutinen bluffen? R.U.S.E. ist ganz klar ein Spiel, das von menschlichen Kontrahenten gespielt werden will, um sein ganzes (Gesellschaftsspiel-)Potenzial zu entfalten.
Dennoch habe ich nach ca. 8 bis 10 Stunden schon keine Lust mehr gehabt, R.U.S.E. weiterzuspielen. Der Grund war, dass ich leider die 360-Version gespielt habe und mich der einleitende „Boxhandschuh-Effekt“ irgendwann zu sehr genervt hat. Das Spiel legt zwar keine sehr große Priorität auf das Mikromanagement, aber trotzdem ist es oft erforderlich, vorher zusammengezogene Truppenverbände wieder neu zu gruppieren. Hierzu ist es erforderlich, ständig extrem rein und raus zu zoomen, denn nur so kann man beispielsweise 10 Panzer eines Verbandes in zwei gleich große Gruppen aufteilen. Will man dann noch mehrere effektive Mischverbände für größere Offensiven zusammenstellen oder eine längere Verteidigungslinie optimieren, kommt man sich schnell so vor, als wäre man Teilnehmer bei einem Reiskornsortierwettbewerb mit Baggerschaufelhänden und gleichzeitigem Zeitdruck im Nacken. Das Interface gibt einem keinerlei sinnvolle Komfortfunktionen an die Hand, um ein effektives Truppenmanagement durchzuführen. Hierdurch wird das Spiel im späteren Verlauf der Kampagne, wenn der Schwierigkeitsgrad entsprechend ansteigt, trotz der eher gemächlichen Spielgeschwindigkeit extrem hektisch und heftig. Hinzu kommt der Frust, der entsteht, wenn man sich aufgrund der umständlichen Steuerung regelmäßig am Pad verdrückt und dadurch ganze Verbände in entscheidenden Spielphasen aus Versehen in den Tod schickt.
Beim Spielen ging es mir ständig wie ein Mantra durch den Kopf: „Auf dem PC ist das Spiel bestimmt toll! Hätte ich es doch bloß am PC gespielt…“
Nun, ich habe es zwar leider nicht selbst am PC gespielt, aber einige Reviews zur PC-Version gelesen. Und aus denen ging mehrheitlich hervor, dass R.U.S.E. auf dem PC nicht unter den beschriebenen Eingabeproblemen der Konsolenversionen zu leiden hat. Dies liegt wohl nicht nur am naturgemäß besseren Handling mit Maus und Tastatur, sondern auch daran, dass man auf dem PC auch zusätzliche Gruppierungsfunktionen hat, die den anderen Versionen schlicht fehlen. Zudem sieht die PC-Version natürlich auch deutlich besser aus und verzichtet auf das eine oder andere Ruckeln im Spielfluss, welches man auf der PS3 und Xbox leider aufgrund von Speicherarmut in Kauf nehmen muss. Hiermit will ich aber nicht schmälern, dass die 360-Version, trotz relativ grober Texturen in der höchsten Zoomstufe, durchaus schick ist. Allein der große Spielraum beim stufenlosen Zoomen macht schon richtig was her. Lediglich die zappeligen Charakteranimationen in den Zwischensequenzen stören etwas. Es nimmt den Generälen dann doch etwas ihrer Würde, wenn sie sich bewegen wie Goofy, der sein morgendliches Ritalin vergessen hat…
Aber warum spielt ein erklärter PC-Spieler wie ich überhaupt ein RTS auf einer Konsole? Einfach nur, um wieder einmal über die Defizite, die diese Plattformen in bestimmten Genres bekanntermaßen haben, ablästern zu können? Hier muss ich die Verschwörungstheoretiker unter den Konsolenfanboys leider enttäuschen, denn der Grund ist ganz banaler Natur: Da Ubisoft das Hauptaugenmerk bei der Vermarktung des Spiels fast ausschließlich auf die Konsolenversionen legt und die PC-Version PR-technisch eher nur als Anhängsel mitläuft, erschien es ganz plausibel, sich R.U.S.E. auch eher auf einer Konsole anzuschauen. Und ich kann Ubisofts Marketing auch durchaus nachvollziehen, denn zum Einen gibt es auf dem PC viel mehr Konkurrenz im RTS-Bereich, so dass es hier deutlich schwieriger sein dürfte, die unbestreitbar vorhandenen Alleinstellungsmerkmale des Spiels herauszustellen, um gegen beispielsweise einen Hit wie StarCraft II anstinken zu können. Zum Anderen muss man R.U.S.E. auch ganz klar zugestehen, dass es für ein Konsolen-RTS erstaunlich gut geworden ist. Wenn ich an all die halbgare bis unspielbare Grütze denke, die über die Jahre als Echtzeitstrategiespiel für diverse Konsolen veröffentlicht wurde, ist R.U.S.E. ein echtes Highlight! Noch dazu ein sehr eigenständiges!
Dass das Spiel als Konsolenversion jetzt ausgerechnet in meine gichtigen PC-RTS-Spieler-Hände gefallen ist, ist da eher Pech für Ubisoft. Aber immerhin bin ich durchaus in der Lage zu differenzieren und R.U.S.E. trotz meiner persönlichen Probleme mit dem Titel mit Einschränkungen weiterzuempfehlen:
Reine Konsolenspieler, die immer schon mal ein ordentliches RTS spielen wollten, diesbezüglich aber bisher immer ins Klo greifen mussten, weil es nichts Gescheites gab, werden mit R.U.S.E. wirklich gut bedient. Getreu dem Motto „Wir hatten ja nichts Besseres“ werden sie sich nicht so sehr an der Bedienung stoßen wie ich und wahrscheinlich ihre helle Freude mit diesem sehr umfangreichen Strategietitel haben.
Aber auch gestandene PC-Strategen, denen die strenge Genrestandardisierung der letzten Jahre langsam auf den Senkel geht, sollten sich R.U.S.E. unbedingt einmal anschauen, denn von den erwähnten Bedienungsdefiziten befreit, ist das Spiel auch auf dem PC eine gelungene Abwechslung und bietet mit dem ganzen Bluffen und Pokern zudem einen Multiplayer-Teil, der sich wohltuend von der Konkurrenz abhebt.
Nur eines geht überhaupt nicht: Wenn man es gewohnt ist, Echtzeitstrategie am PC mit Maus und Tastatur zu spielen, kann einen auch R.U.S.E. nicht zum Konsolen-RTS bekehren. Dazu sind die plattformbedingten Boxhandschuhe dann doch einfach immer noch zu dick…
4 Kommentare
Ich kann trotz des Erläuterungsabsatzes nicht nachvollziehen, wieso du es dir nicht für den PC geholt hast. Was kommt als nächstes, du spielst Egoshooter auf der Konsole?
Oh Moment!
http://www.polyneux.de/archiv/192-im-rollstuhl-durch-die-militaerbasis-.html
:D
Wobei man zugeben muss, dass sich “Stop and Pop”-Shooter wie Gears of War sehr gut mit einem Gamepad steuern lassen. Mein Serious Sam 2 HD wird aber für den PC bestellt. ;)
@SpielerDrei:
Wo liegt das Problem? Ich bin nicht halb so konservativ, wie Du vielleicht denkst… :P ;D
Sehe ich das richtig, dass in der PC-Version mal wieder Steam Pflicht ist? Wieso wollen die (mir) keine Spiele mehr verkaufen?
@SenorKaffee
Gears of War “sehr gut” steuerbar? In Deckung hocken, fünf bis zehn Mal hervorschauen und das Zielkreuz auf einen Punkt zu bewegen, wo die doofen Gegner immer hervorschauen, um beim nächsten Mal zu treffen ist also “sehr gut” steuerbar? Und bei den Gegnern, die auf einen zu rennen, wild nach vorne schießend rückwärts laufen? Und an der Stelle im Gang als die Tür geöffnet werden muss fluchend panisch umher rennen und schießen, weil man nicht schnell genug zwischen Viecher am Boden anvisieren und Viecher an der Decke anvisieren wechseln kann? Der Rollstuhl-Strohhalm-Vergleich passt prima.