“Get Innocuous” von LCD Soundsystem schallt durch die Boxen, langsam laufen die Credits über den Bildschirm und zäh schwenkt die Kamera über die Skyline von Liberty City. 61 Tage habe ich in dieser sündigen Stadt verbracht. 28 Stunden in meinem realen unkriminellen Leben.
Ich habe gemordet, geraubt und unschöne Entscheidungen getroffen und immer war ich es, der den Abzug betätigt hat. Für mich war es ein leichtes Tippen auf die Schultertaste des Controllers, für Niko Bellic eine weitere Kerbe in seiner Seele. Grand Theft Auto hatte schon immer zwei Seiten, die chaotische und die vorgegeben erzählerische. Die unglaubliche Popularität der Serie ist hauptsächlich auf den Aspekt Chaos und Freiheit zurückzuführen. Tu was du willst: Mit einem Auto Passanten überfahren, Prostituierte aufsammeln, Menschen zusammenschlagen und der Polizei entkommen. GTA setzt keine moralischen Grenzen, es lässt den Spieler in einer riesigen Welt machen, was er möchte. Darauf springt die Presse an, darauf springen viele Spieler an. Neben all diesem herumcruisen, Radio hören, Klamotten kaufen und Pixel ermorden gab es immer noch die Story, die Missionen, die gesamte verrückte Erzählung auf die Rockstar ihre Spiele aufbaute. Genau darauf habe ich mich bei diesem ersten Spielen von GTA IV wieder am meisten gefreut und konzentriert.
Nach der Ankunft in Liberty City kommt alles sehr langsam in Gang. Niko, Immigrant aus Serbien, landet bei seinem Cousin Roman in einer Bruchbude. Von den großen Erzählungen des amerikanischen Traums ist nichts vorhanden. Roman führt ein schäbiges Taxiunternehmen und hat Schulden bei allerlei Gangstern. Gerade dem Krieg in Bosnien entkommen stürzt Niko erneut in einen Strudel aus Gewalt und Verrat. Soweit finde ich bekanntes Terrain vor. So fingen doch fast alle Anti-Helden der GTA-Reihe an. Zuerst werden ein paar Geldeintreiber verprügelt, das erste Auto geklaut, die obligatorische Pistole landet in meinen Händen, der erste Schuss fällt und das Spiel kippt. Blutend humpelt der Getroffene vor mir davon. Laut hat der Schuss durch die verregnete Nacht geschallt und beinah genauso laut schreit mein Gegenüber jetzt auf. Über die Dächer der Stadt verfolge ich ihn, verliere ihn aus den Augen und finde ihn dann an einem Geländer hängen. Unter ihm die Straßenschlucht und über ihm stehe ich. Entscheide dich, ob du ihm das Geld abnimmst und ihn laufen lässt, oder ob er stirbt. Für diese Wahl blendet das Spiel zwei Tasten ein. Tod oder Leben. Nur kurz verharrt mein Finger ruhig, dann drücke ich und Niko tritt zu. Dank der Euphoria-Engine fällt sein Körper unangenehm realistisch hinab, schlägt an einem Geländer auf, dreht noch zwei Pirouetten und kracht auf den Asphalt. Ich zucke zusammen und schlucke.
Im weiteren Verlauf komme ich immer wieder an diesen Punkt. Vielleicht ist es mein Weg der Katharsis, denn immer wieder entscheide ich mich für das Schlechte. Nikos Weg ist der der Rache. Nicht nur die Freiheit Amerikas hat ihn angezogen, sondern auch der Wunsch nach Rache. Im Krieg wurde er hintergangen und nun will er die Verräter ausfindig machen. Bis dahin lasse ich mich mit allerhand Gesindel ein und sehe jedes Gangsterklischee der Welt bestätigt. Rockstar hat den Rastas, Russen, Triaden, Italo-Mafiosos, Iren, Schlägern, Junkies und Dieben allerhand derbe Dialoge auf den Leib geschrieben und Sprecher engagiert, die ihre Zeilen perfekt übertrieben aufsagen, schreien und brüllen. Der Humor ist noch etwas bissiger und sarkastischer, was hauptsächlich an Niko selbst liegt. Angepisst von seiner eigenen Lage und mit dem Blick eines Ausländers lässt er einen trockenen Kommentar nach dem anderen fallen. Für mich einer der besten und glaubwürdigsten Charaktere seit langem.
Die verbesserte Grafik, die Animationen der Figuren und der neue düstere Touch heben die Brutalität des Gezeigten auf ein neues Level. Konnte die kantige und comichafte Grafik der Vorgänger abgeschlagene Köpfe noch als überzogen und grotesk darstellen, kommt ein Kopfschuss mit anschließendem Blutfleck auf der Windschutzscheibe im neuen Gewand schon sehr deftig daher.
Die Stadt mit ihren drei Inseln ist nicht mehr so groß, der allgemeine Ton realistischer und damit auch die Missionen leider etwas eingeschränkt. Nur selten wird die Struktur der Jagd und Ermordung durchbrochen. Im Gedächtnis bleiben mir ein Banküberfall und die folgende halsbrecherische Flucht erst durch Häuserschluchten, dann Hinterhöfe und schließlich über das Schienennetz der U-Bahn. Diese Mission ist eine ebenso deutliche Hommage an HEAT wie die Verfolgungsjagd einer Oberschienenbahn an French Connection. Hubschrauber und Boot werden in den Missionen nur spärlich eingesetzt und hin und wieder kam bei mir der Gedanke auf, dass Rockstar, nach so vielen GTA Teilen, plötzlich die guten Ideen ausgegangen sind und sie die verrückten in dieser Welt nicht umsetzen konnten. Die Vielfalt der Aufgaben hat ganz eindeutig abgenommen und die Missionsstrukturen haben sich kaum bis gar nicht verändert. Das Handy lockert die alten Abläufe etwas auf, verändert aber nicht viel. Es verkürzt die Wege zu den Auftraggebern und lässt einen nicht so isoliert von der Aussenwelt, wird aber nur in wenigen Missionen effektiv genutzt. Per Fotofunktion werden die Opfer ausgesucht, Erpresser verlieren ihre Tarnung, weil sie selbst im falschen Moment an ihr Telefon gehen und ich schon mit gezückter Scharfschützengewehr auf dem nächsten Hausdach warte.
Neben der Neuerung, Mission direkt nach ihrem Scheitern erneut zu starten, hat sich sonst wenig geändert. Noch immer gibt es keine Speicherpunkte während der Missionen und noch immer spielt der Zufall eine große Rolle. Vielleicht fährt dich auf der Flucht ein Auto an und du wirst geschnappt, oder vielleicht auch nicht. Schusswechsel zu Fuß sind dank Deckungssystem und Auto-Aim beinah zu einfach geworden. Trotzdem darf über die Steuerung gerne geflucht werden. Irgendwer muss den Leuten von Rockstar unbedingt erklären, dass sie nicht alle Tasten des Controllers mit unterschiedlichen Aktionen belegen müssen. Viele Manöver ließen sich auch, je nach Umgebung, auf nur eine Taste reduzieren. Warum ich zum Rennen einen Taste halten und zum Sprinten auch noch ständig antippen muss, bleibt wohl auch ein Rätsel und sollte schon lange ein Relikt aus vergangenen Videospielezeiten sein.
Aber ich lasse mich schon zu sehr über die Kleinigkeiten der Spielmechanik aus. Darüber will ich erst in ein paar Tagen etwas schreiben. Dann habe ich die Stadt mehr erkundet und die Welt hinter den Missionen untersucht. Jetzt also der letzte Absatz für diesen Artikel.
Zum Schluss, nach vielen Toten und vielen verschossenen Kugeln, stehe ich wieder vor einer Entscheidung. Geld oder Rache. Inwiefern meine vorherigen Entscheidungen diese Auswahl beeinflusst haben, kann ich nicht einschätzen, ich denke aber kaum. Egal wie man vorher spielt, am Ende gibt es immer die gleiche Wahl zu treffen. Geld habe ich genug und wegen meiner Rache bin ich doch erst hierher gekommen. Meine Entscheidung ist klar, die Folgen sind schwer und doch stehe ich am Ende unter der Freiheitsstatue, die Sonne geht gerade auf und es fühlt sich an wie ein Happy End. Für ein solches Spiel irgendwie komisch..
Vielleicht hätte ich mich doch für das Geld entscheiden sollen.
7 Kommentare
Vielleicht hättest Du dich von Anfang an für das Geld und gegen das Spiel entscheiden sollen ?
Den längsten Wheelie auf einem Vespa-Roller, den weitesten Fallschirmsprung, die schnellste Karre in der Garage haben, versteckte Waffen, Gegenstände und Bilder finden, Gebäude erkunden und die Szenerie mit dem schönsten Sonnenuntergang entdecken, Bahn fahren, versuchen Grenzen zu durchbrechen – Dafür bin ich ja in GTA stundenlang zu haben..
Aber die Story hat mich noch nie im Geringsten interessiert, eben so wenig wie die, angeblich ironisch überzeichneten, stereotypen Charaktere.
Aber einen hübschen Text hast du da geschrieben. ;)
Nille, mit diesem Teil des Spiels bin ich jetzt beschäftigt. Erst dachte ich ja, es gäbe nicht soviel zu entdecken, wie in den alten Teilen, aber bisher habe ich noch genug zu tun mit Sprungschanzen suchen, Rennen fahren und Helikopter unter Brücken durchmanövrieren.
Und die Sonnenuntergänge sind diesmal, dank glitzerndem Wasser, besonders schön.
Hab mir GTA IV am Releasetag geholt und bin wirklich absolut begeistert.
Es gibt viel zu entdecken, Amokläufe machen bei verbesserter Grafik und Physikengine doppelt soviel Spaß und ganz “nebenbei” finde ich die Story äußerst gelungen und wirklich spannend erzählt. Sicher, es werden mal wieder alle typischen Gangsterklischees durchgekaut, zumindest aber nicht in dieser lächerlichen Ghetto-Kacke wie es noch in San Andreas der Fall war.
Und Niko Bellic mit seinem furztrockenen, Sarkastischen Kommentaren ist meiner Meinung nach einer der am besten geschriebenen Hauptprotagonisten der Videospielgeschichte. Scheissen wir doch endlich mal auf diese gelackten Helden (ein Grund warum ich Dark Sector von Digital Extremes nie anfassen werde, der mutierte Hauptprotagonist sieht aus wie der Pixelgewordene Traum aller weiblichen Boygroupfans), der Herr Bellic mit seinem unrasierten, eckigen und dicknasigem Gesicht gefällt mir da schon viel besser.
Als Kritikpunkte könnte man noch die Missionen an sich aufführen, es ist wirklich alles beim alten geblieben, auch der Sammelwahn (200 Tauben erschiesen, 50 Monsterstunts finden) ist wiedermal unnütz, trotzdem noch lange nicht so überfrachtet wie einst San Andreas. Zudem nerven auch die eintönigen Aktivitäten die man mit seinen Freunden und Freundinnen unternehmen muss, hierbei wäre einiges an Abwechslung doch sehr angebracht.
Trotzdem, im großen und ganzen ist es ein feines Stück Software das jeden Cent wert ist und nach lange im Laufwerk meiner PS3 rotieren wird.
Gefallen hat mir das Ende auch nicht, aber auf mich wirkte es nicht wie ein Happy End. Geld oder Rache testet, was einem wichtiger ist, um es dem Spieler zu nehmen.
Das neue eigene Technikgerüst ist gut und lässt auf Steigerungen wie damals von gta3 nach San Andreas hoffen.
Missionsstrukturen sind wirklich enttäuschend, was mir im Text aber fehlt, sind die zahlreichen satirischen Anspielungen an die Geselschaft. Und so was bei einen Computerspiel zwischen Halo und Gears of War im Regal. Dafür Respekt!
Gute Ideen ausgegangen? Wenig Neuerungen?
GTA erfand eine Spielegattung und ist das Topspiel in dieser Gattung. Wen die Struktur stimmt, sind da Änderungen und Neuerungen übehaupt nötig?
Ja. Kleinigkeiten haben in früheren Versionen genervt: dass man diese Bestechungssterne finden musste, um Fahndungslevel loszuwerden, dass das zielen mit dem Controller zu schwer war, dass man sich in der offenen Welt verfahren hat…
Das – und das sind ernorme Verbesserungen – wurde abgestellt: passables Autoaim und Deckungsfunktion, Fahndungslevel und Navigationshelfe per Radar.
Die Missionen wechseln sich durch die filmreif gespielten Cutszenen ab, auch wenn sie sich im Handlungsablauf ähneln (so wie sich auch die meisten Mafiafilme ähneln).
Dagegen finde ich kann man an der Grafik kritisieren: schlimme Kantenbildung. Mal einen Blick auf die Hochspannungsleitungen geworfen? Und die Framerate scheint auch niedriger als normal, was zu leichtem Ruckeln beim Autofahren führt.
Das mit der Framerate lese ich auch ständig und kann es nicht ganz nachvollziehen. Auf meiner Xbox 360 läuft alles ganz solide. Da sind die Pop-Ins eindeutig schlimmer. Teilweise laden die Texturen erst, wenn man schon an ihnen vorbeigefahren ist. Bei einer solch riesigen Spielwelt stören mich die kleinen technischen Fehler aber kaum. Nichts was den Spielspaß trüben könnte.