Oft sprechen mich Kinder und andere Nervensägen an: „Du-uuuh, SpielerZwei? Warum schreibst du immer so ellenlange Reviews? Das ist immer total anstrengend zu lesen; besonders im Unterricht. Mach doch lieber eine Prozentwertung, die auch geistig Beschränkte wie ich sofort verstehen!“
Nun, die Antwort ist recht einfach: Ich neige zum Schwafeln. Und ich finde Prozentwertungen doof. Geistig Beschränkte sowieso. Aber heute soll dieser häufig angebrachten Kritik einmal Rechnung getragen werden:
Psychonauts ist super toll; ja schier unglaublich mega-geil. Eines der besten Jump’n’Runs aller Zeiten. 99,9 % Spielspaß. Unbedingt kaufen!
Ende.
So, nachdem wir dies erledigt haben, kommen wir einmal zu etwas (fast) völlig anderem…
Es gibt Spiele, die von Kritikern und Spielern gleichermaßen geliebt werden. Nicht weil sie von der Mainstream-Presse einen Award nach dem anderen bekommen, sondern weil sie innovativ, spektakulär oder einfach nur extrem witzig sind. Wirklich gute Spiele halt. Sie werden in gewissen Kreisen von Spieler zu Spieler weiterempfohlen. Sie werden oft als „kultig“ gehandelt. Irgendwann werden sie vielleicht sogar retrospektiv als Meilenstein angesehen und müssen als Referenz für kommende Spielegenerationen herhalten. Nur gekauft werden sie von kaum jemandem…
The Dig, Amplitude, Deus Ex, Beyond Good & Evil, Tron 2.0, Dune 2, Ico, REZ, No One Lives Forever, Z, Another World, Flashback, Little Big Adventure, Full Throttle, System Shock, Project: Snowblind, und, und, und…
Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Alles großartige Spiele, teilweise Klassiker und sogar Genre-Ur-Väter, die sich nicht wirklich verkauft haben.
Der neuste Streich von Entwicklerlegende Tim Schafer (Grim Fandango/Day Of The Tentacle/Full Throttle) ist auch so ein Spiel. Psychonauts wurde letztes Jahr kurz vor der Veröffentlichung (nach über 4 Jahren Entwicklungszeit) vom Publisher Microsoft einfach fallengelassen. Mit Majesco fand man einen neuen Publisher, der zwar eine Veröffentlichung möglich machte, aber irgendwie nicht so recht aus der Hüfte kommt. Ein Release in Europa steht immer noch nicht fest und selbst in Amiland läuft der Verkauf nur schleppend, da sich die PR-Bemühungen in Grenzen halten und auch in den USA lange nicht jeder Händler das Spiel anbietet.
Gut, das merkwürdige Verhalten von Majesco (man sollte eigentlich annehmen, dass ein Publisher reges Interesse am Verkaufen hat…) ist eine Erklärung für den geringen Absatz dieser Perle, aber nicht DIE Erklärung, denn immerhin erhielt das Spiel regen Zuspruch der Fachpresse und wird auch an anderen Orten wärmstens als Hit bzw. Pflichtkauf empfohlen.
Es muss also noch andere Erklärungen geben. Vielleicht kommt man der Sache näher, wenn man sich fragt, warum Microsoft den Titel gestrichen hat. Ich habe die persönliche Theorie, dass Microsoft einfach daran zweifelte, eine ausreichende Anzahl von Exemplaren an den Mann/die Frau zu bringen, weil Psychonauts an einigen Stellen so gar nicht mainstreamgerecht ist.
Da wäre zunächst die Genrezuordnung, die nicht so ganz gelingen will. Psychonauts ist zwar ein klassischen Jump´N´Run, fühlt sich aber an, als wäre es ein waschechtes (LucasArts-) Adventure. Dies ist durchaus ein Problem, wenn man sich anschaut, wie es um dieses Genre derzeit bestellt ist. Nicht ohne Grund hat Tim Schafer seine sieben Sachen gepackt und Double Fine gegründet, als sein ehemaliger Arbeitgeber LucasArts intern das Genre, mit dem sie einst berühmt wurden, ad acta legte…
Dann ist da dieser merkwürdige Grafikstil mit seinen comichaft anmutenden Charakteren und Landschaften. Alles sieht auf den ersten Blick sehr skurril und manchmal sogar surreal aus. Wer soll sich denn tatsächlich mit Figuren identifizieren, die teilweise so aussehen, als hätte sie Pablo Picasso persönlich entworfen?
An jeder Ecke gibt es tonnenweise großartigen Humor. Aber leider nicht von der Sorte, die Millionen von Menschen in Hugh Grant- und Julia Roberts-Filme strömen lässt, sondern der von der kranken Sorte… Und schließlich haben wir da auch noch das eigentliche Thema des Spiels: Die meiste Zeit bewegt sich der Protagonist Razputin (kurz: „Raz“) durch die Psyche anderer Figuren. Und als wäre das nicht schon schräg genug, sind die wenigsten dieser Figuren geistig gesund. Man hat es oft mit schweren Psychosen und Neurosen zu tun, die als quasi-reale Manifestation zu bändigen sind. Massenkompatibel und damit absatzträchtig ist all dies sicherlich nicht…
…zumindest nicht auf den ersten Blick, denn spielt man Psychonauts dann mal eigenhändig an, dann dauert es nicht lange und man ist süchtig. Und das gilt nicht nur für Freaks, sondern eigentlich für jeden, der gute Spiele zu schätzen weiß. Sicherlich sind der Humor und der Grafikstil Geschmackssache, aber selbst wenn man dem Andersartigen als solches nicht viel abgewinnen kann, dann tritt doch all dies schon nach wenigen Spielminuten in den Hintergrund, denn Psychonauts kann vor allem spielerisch aufs höchste überzeugen.
Wenn man sich anschaut, was Psychonauts alles auf der Habenseite zu verbuchen hat, kann man sich schon ein wenig darüber aufregen, dass das Spiel nicht verdienterweise in den Verkaufs-Top-Ten auftaucht und somit die Zukunft von Double Fine in den Sternen steht:
Kein Level, aber auch wirklich keiner, ähnelt dem anderen. Jeder Geist ist individuell designed und trägt sehr gut zur Charakterzeichnung seines Besitzers bei. Insbesondere die Hirne der „geistig ungesunden“ Figuren sind spielerisch eine wahre Freude. Ich selbst wäre vermutlich auch ein lustiger Level… Psychoanalyse als buntes Videospiel. Auf so eine Idee muss man erst einmal kommen. Von der gescheiten Ausführung mal ganz zu schweigen.
Das Spiel kann man eigentlich in zwei Bereiche teilen: Die eigentlichen Level in den Gehirnen der Protagonisten und das Sommercamp, in welchem man sich frei bewegen kann. Die Ausflüge in die Gehirne sind relativ linear (sehr relativ, denn folgt man dem offensichtlichen Pfad, so sieht man vielleicht die Hälfte des Levels und der zu ergatternden Items). Das Camp hingegen ist völlig frei begehbar und bietet viel Raum zum Enddecken, wodurch das Spiel diesen netten „Action-Adventure-Touch“ bekommt, der doch sehr an ältere Titel von Schafers früheren Brötchengebern erinnert. Die Steuerung kann in hektischen Momenten bisweilen zu ungewollten Fehlern führen, aber dies resultiert lediglich aus den vielen Spezialfähigkeiten, die Raz im Laufe des Spiels hinzugewinnt. So ein Gamepad hat eben nur eine bestimmte Anzahl von Knöpfen und ein angehender Psychonaut ungleich mehr Fähigkeiten…
Grafisch wie visuell macht Psychonauts eine tolle Figur, wobei die PC-Version mit ihren höher aufgelösten Texturen noch am schönsten aussieht. Der zunächst skurril wirkende Grafikstil macht im Kontext des Spiels mehr Sinn, als man anfangs denkt.
Die englischen Sprecher liefern eine exzellente Arbeit ab und versauen nicht eine Figur. Nicht ein Gag der kruden Story geht baden. Und schließlich… wie soll ich es am besten ausdrücken… macht Psychonauts einfach extrem viel Spaß!
Warum passieren solche Sachen also? Warum verkaufen sich die Spiele, nach denen wir alle immer schreien, oft nur leidlich? Nun, wer jetzt wieder an den bösen Mainstream und dessen Hypes denkt, der sollte sich einmal fragen, wer wirklich Schuld hat: Das Huhn oder das Ei? – Dieter Bohlen oder die Leute, die den Scheiß kaufen?
Ich würde Dieter Bohlen niemals die Schuld daran geben, dass Modern Talking so viele Platten verkauft haben (das würde nämlich voraussetzen, dass er mit Absicht beschränkt wäre…). Angebot und Nachfrage. Dumme Musik für dumme Leute. Langweilige Spiele für langweilige Leute.
Es ist doch ein bisschen wie mit der BILD-Zeitung. Viele Leute sind sich der Qualität des Gelesenen durchaus bewusst und geben einem auch gerne Recht, wenn man über das Blatt schimpft. Aber sie kaufen es doch, weil eben genau diese Art der „Information“ aus den verschiedensten Gründen gewünscht wird.
Ich bin ja auch so einer: Ich feiere hier Independent-Spiele und frische Ideen bis zum Abwinken, um danach eine Runde UT zu zocken, wie ich es seit meiner ersten Online-Partie Quake vor vielen, vielen Jahren tue…
Der einzige Unterschied zwischen uns Junkies und dem Rest (Neudeutsch: „Casual Gamers“) ist die Tatsache, dass wir noch in der Lage sind, über den Tellerrand zu schauen. Aber leider oft nur in der Theorie…
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