Ich sitze auf einem Stuhl, in einem Zimmer mit weißen, kahlen Wänden. Auf dem Teppich sind überall Kekskrümel verstreut und in einer Ecke des Raumes liegen alte Kuscheltiere. In der anderen liegen verstaubte Spielkonsolen und auf einer kleinen Anrichte steht mein alter PC. Auf der Kommode zu meiner Rechten stehen Bilder meines Vaters, meiner Großmutter und meines Bruders. Neben ihnen liegt ein Album, vollgestopft mit Fotos von mir und meiner ersten Liebe, vom Urlaub in England und meiner Freunde. Im Kleiderschrank hinter mir hängt ein weißes Ballkleid, zerrissene Jeans und darunter stehen alte, abgewetzte Sportschuhe.
In diesem Raum befinden sich viele Gegenstände meiner Vergangenheit, das, was mich prägte und beeinflusste. Kleine und große Sünden, kleine und große Schicksale, kleine und große Besitztümer. Alles was ich erlebte, das bin ich. Oft wünsche ich mir, ich hätte einiges nicht erfahren müssen. Aber wer wäre ich dann? Könnte ich alle Fehler, alles Schlimme in meinem Leben auslöschen, wäre ich sicher kein besserer Mensch. Ich hätte nichts gelernt, ich würde heute nicht einmal wissen, was ein Fehler genau ist. Meine Persönlichkeit wäre eine ganz andere und sie ist wohl alles, was mir am Ende bleibt, sollte ich einmal alles verlieren. Verschwindet die Erinnerung an mich, an uns und an all das, was bisher war, bleibt ein einziges Nichts. Wie sich das anfühlt, habe ich vor vielen Jahren bei einem von mir geliebten Menschen mit ansehen müssen. Und dann kommt man zu der Erkenntnis: Wenn man all seine Erinnerungen verliert, sogar daran, wer man eigentlich ist, erst dann hat man wirklich alles verloren.
Ich erinnere mich an ein Videospiel, das genau davon erzählte. Es spielte im futuristischen Paris 2084 – einst als Stadt der Liebe bezeichnet, doch dort war davon kaum noch etwas zu spüren. Roboter gingen für ihre Besitzer einkaufen, alles wurde durch Drohnen überwacht und Schlüssel wurden durch Handscanner ersetzt. Das Leben ist schön für die Menschen, kaum jemand ist unglücklich. Der Grund dafür ist der Handel mit Erinnerungen. 2084 ist es möglich, sich schöne Erlebnisse bzw. Erinnerungen in digitaler Form zu kaufen und sie in das eigene Gedächtnis zu implantieren. Ein regelrechter Handel ist mit dieser Ware entstanden, Persönlichkeiten bestehen nur noch aus zusammengesetzten Bausteinen. Schlechtes wird einfach ausgelöscht und mit Neuem ersetzt, der Kampf gegen Depressionen scheint gewonnen – doch klar ist, dass eine Gesellschaft ohne das Wissen um ihre Fehler nicht überleben kann.
Ich erinnere mich an ein Videospiel und an Nilin. Sie war eine Art Jägerin, die das Talent besaß, Erinnerungen zu stehlen und zu manipulieren. Nilin war schön, sie bewegte sich geschmeidig, sportlich und erschien im Gegensatz zu den meisten Nebencharakteren, sympathisch. Die großen Drahtzieher hielten sie gefangen und die meisten ihrer Erinnerungen wurden ausgelöscht, da man fürchtete, ihre Talente könnten die Überwachungspläne der Mächtigen kreuzen oder stören. Nach ihrer Flucht machten wir uns auf durch weite Teile von Neo-Paris, durch die Slums, die Innenstadt und Industrieviertel. Aus der Ferne sahen wir auch den Eifelturm, doch von nostalgischer Romantik keine Spur. In der Stadt brodelte es nicht, das meiste wirkte zwar schön, doch trotzdem steril und seelenlos – passend zur vorherrschenden Gefühlskälte jener Zeit. Mir hat es gefallen, wobei es ähnliches schon viele Male zu sehen gab, beispielsweise im cyberpunk’schen Deus Ex – Human Revolution.
Ich erinnere mich an ein Videospiel, an Nilin und ihre Art zu klettern. Wir bewegten uns streng geradeaus, durch enge Gassen und wenig ausufernde Gebäudestrukturen zum nächsten Missionsziel. Langweilig und vollkommen ohne Herausforderung lief das Hangeln an Häuserwänden und Werbeschildern ab. Kleine Hologramm-Pfeile an begehbaren Sims oder Vorsprüngen setzten dem Ganzen noch die Krone auf, da es an der eh schon mangelhaften Freiheit beim Klettern keine zusätzliche Hilfestellung benötigte, um das Dach des Gebäudes zu erreichen. Hier fühlte ich mich absolut verdummt, nicht zum ersten Mal in der heutigen Spiele-Welt, aber trotzdem ein ungeheures Ärgernis, da mehr fordernde Kletterpassagen das schlauchige Leveldesign vielleicht etwas aufgelockert hätten. Auch Abseits des Kletterns, während wir durch Flure vorbei an Überwachungdrohnen schlichen, wollte keine richtige Bewegung ins Spiel kommen. Zu einfach und belanglos war das Umgehen von Hindernissen und Türsperren.
Ich erinnere mich an ein Videospiel, an Nilin und ihre Art zu kämpfen. Das Kampfsystem war zwar auf den ersten Blick nichts besonderes, gewann aber nach genauerer Betrachtung und Ausführung an Fahrt. Neben Nilins normalen Moves im Martial-Arts-Stil, erhielt sie nach und nach ihre verloren geglaubten Megaspezialkiller-Features, das sogenannte Sensen-Rip, zurück. Das waren beispielsweise Haftminen, Raserei oder das Hacken von Kampfrobotern. Jedes dieser Features brauchte nach Benutzung eine Abkühl- bzw. Aufladephase, die unter Umständen sehr lange andauerte und die Kämpfe somit verlängerte. Ich sollte sie also mit Bedacht einsetzen. Die Möglichkeit zu blocken oder kontern habe ich bis zum Ende jedoch vergeblich gesucht, hier musste dann das stinknormale Beiseitespringen herhalten und das machte Dank Kameraschwäche etwas weniger Spaß.
Neben den Spezial-Features gab es auch eine Handvoll unterschiedlicher Kombo-Reihen. Wie erfolgreich (oder auch nicht) eine Kombo verlief, wurde mir mit Echtzeit-Feedback während des Kämpfens angezeigt. Im Laufe des Spiels wurden Eigenschaften freigeschaltet, mit denen ich die einzelnen Moves einer Kombo mit “Zuständen” belegen konnte. Auszuwählen gab es Regeneration, Kraftvolumen, Beschleunigung der Wiederaufladezeit des Sensen-Rips und die Vervielfachung der Wirkung einer Eigenschaft. Belegte ich also eine Dreier-Kombo mit 3 Regeneration-Impressions, gaben mir die Schläge bzw. Tritte verlorene Gesundheit zurück. Belegte ich sie mit Kraft-Impressions, teilten Nilins Moves höheren Schaden aus. Richtig interessant wurde der Spaß, als ich versuchte, eine Kombo so zu belegen, dass der Cooldown des Sensen-Rips möglichst gering war und ich die Spezial-Features sehr schnell infolge nutzen konnte. Gelang mir das, konnte ich mich vermehrt unsichtbar machen, schneller Minen an die Soldaten heften oder Roboter hacken, die für mich die Soldaten angriffen. Vor allem im höheren Schwierigkeitsgrad ist das fast unumgänglich und das Erlernen der Kombos eine Notwendigkeit, andernfalls bleibt man an einigen Stellen im Spiel recht chancenlos. Nilin war auch in der Lage, ihren Mech-Arm als Schusswaffe einzusetzen, was teilweise bei großen Kampfrobotern und den Schutzschilden der Soldaten nötig war. Das Kämpfen konnte ich also doch relativ dynamisch gestalten – schimpft mich blöde, ich fands geil und es hat Spaß gemacht!
Ich erinnere mich an ein Videospiel, an Nilin, an ihre Kampf- und Kletterkunst und an ihre Art zu Remixen. Man stelle sich vor, man könnte vergangene Ereignisse gedanklich manipulieren und wir würden uns danach einbilden, die verdrehte Erinnerung sei tatsächlich echt. Komplette Leben könnte man so auf den Kopf stellen, im Guten und im Schlechten. Auf der Suche nach Nilins Vergangenheit und ihrem Gedächtnis, wurde ich ein paar Mal Zeugin davon, wie sie die Erinnerungen von Menschen verdrehte. Das Ganze geschah in einer geschlossenen Szene, zuerst sah ich sie komplett und später spulte ich vor und zurück oder pausierte sie. Wie in einer Art Videoschnitt-Tutorial konnte ich Nuancen verändern und den Ablauf der Ereignisse beeinflussen. Ob ich so mein Ziel erreichen konnte, musste ich ausprobieren, indem ich immer wieder zurückspulte und etwas anderes versuchte. Die Möglichkeiten waren überschaubar – jeder Remix war nach wenigen Versuchen gemeistert. Die Herausforderung war somit gering, aber hatte ich soetwas schon einmal in einem Videospiel gesehen oder getan? Nein, es war mein erstes Mal.
Ich erinnere mich an ein Videospiel, an Nilin, an ihre Kampf- und Kletterkunst, an ihre Art zu Remixen und coolen Sound. So ganz ohne Musik geht es ja meistens nicht und auch wenn dieses Spiel etwas arm an so manchen Highlights war, so war es aber ausgerechnet wieder der Sound, der bei mir einschlug wie ein Bömbchen. Der französische Komponist Oliver Deriviere ließ sich eigenen Aussagen nach vom irischen Musiker Aphex Twin inspirieren, welchen ich selbst auch sehr schätze. Ich wurde aus einer Mischung von elektronischen und orchestralen Klängen beschallt, die immer mal wieder verzerrt stoppten und dann in satten Beats weiterliefen. Sanfte, kleine Melodien brannten sich kurz ein, bis sie dann wieder verschwanden und als ich sie ein Stündchen später wieder hörte, wurde mir ganz warm ums Herz. Musik und Spiel wurden hier wunderbar zusammengeführt – das ist etwas, das habe ich in den letzten Jahren häufiger beobachtet. Der Einsatz von Musik in Videospielen ist meinem Gefühl nach experimenteller und vielseitiger geworden und Totalausfälle gab es diesbezüglich eher selten.
Ich erinnere mich an Remember Me und ich befürchte, es wird den meisten nur wenig in Erinnerung bleiben. Es bediente sich einiger unschönen Eigenschaften aus Videospielen und auch erzählerisch verliert es sich oft in triefender Theatralik, weshalb ich in manchen Momenten kurz die Luft anhalten musste. Die wenigen Bosskämpfe ließen das Geschehen auch stellenweise etwas belustigend erscheinen und wirkten vereinzelt komplett deplatziert. Die Einleitung zum abschließenden Finale hat mir sehr gefallen, bis jener Auftritt des Endbosses kam, der die Euphorie dann auch gleich wieder zunichte machte. Aber so verrückt das auch klingt, ich denke insgesamt mit wohligen Erinnerungen an dieses Spiel zurück.
Es sind die Kämpfe, die mir Spaß machten – sowie Nilin, die Musik und Neo-Paris. Ich mochte das Mixen der Erinnerungen und ich mochte die Geschichte und den Gedanken dahinter, wenn man ihn einfach weiterspinnt. Ich mag die Aussage von Remember Me und wie es mich dazu brachte, über mich und meine Vergangenheit nachzudenken. Und wie wir uns auf die Zukunft freuen können und sie zeitgleich auch fürchten müssen. Ich hoffe, das französische Studio Dontnod wird sich entwickeln und sich an seine Fehler erinnern, um uns irgendwann ein weiteres, ausgereifteres Spiel präsentieren zu können. Ihr Erstling hat mir jedenfalls kurzweilige Freude bereitet, trotz diverser Patzer.
Und eine Frage geht mir seit dem Durchspielen nicht mehr wirklich aus dem Kopf: Wenn ich mich heute nicht mehr daran erinnern könnte, wie mein Vater mir damals das Fahrradfahren beigebracht hat, könnte ich es denn jetzt überhaupt?
9 Kommentare
Gutes Spiel. Gefällt mir im Großen und Ganzen durchaus besser als [i]BioShock Infinite[/i]. Sicherlich wenig vergleichbar, aber es sind beides diesjährige “AAA”-Titel, auf die ich mich im Vorfeld ziemlich gefreut hatte.
Das Remixing fand ich wirklich gut, wenn auch die Möglichkeiten im Endeffekt natürlich etwas gering sein mögen. Ein RPG à la [i]Deus Ex: HR[/i], in welchem das Remixing auch verschiedene gültige Auswirkungen bietet, ist seit ein paar Tagen mein neuer Traum. Hoffentlich wird er eines Tages erfüllt.
Über die Schwächen im Schlauchleveldesign und das wirklich eher anspruchslose Springen/Hangeln, sowie das für mich kaputte Kampfsystem – ich mein’, mal ernsthaft, absolut keine Blockmöglichkeit und ein Unterbrechen der Kombos, wenn man beim Ausweichen auch die Richtungstasten verwendet, hallo?! Und dann kommen die bei der kaputten Kamera auch noch mit Fernkampfgegnern an, ey. – kann ich grad’ noch so hinwegsehen, dazu fand ich die Welt, die Ideen und Nilin als Hauptcharakter doch zu gut. Aber es ist in der Tat eine Gratwanderung zwischen “gut” und “gut gemeint”.
Vielleicht war’s aber auch einfach der Hauch [i]Beyond Good & Evil[/i], den das Spiel von sich gegeben hat. (Letzteres hatte ja auch so seine Kameraprobleme, die mich beim ersten Mal fast in den Wahnsinn getrieben haben…)
Story, Atmo und Ideen finde ich wirklich klasse, aber spielerisch ist das Teil, pardon my french, die letzte Kacke. Ich bin wahrscheinlich noch nicht einmal in der Mitte des Spiels, aber habe inzwischen überhaupt keine Lust mehr, mich noch weiter mit dem beschissenen Kampfsystem und der nervigen Kamera herumzuärgern. Insgesamt bin ich sehr enttäuscht. Da hätte deutlich mehr drin gesteckt…
Hm, ja also wie schon geschrieben, es kippt in beide Richtungen. Wenn ich mich vorher mit dem Spiel heiss gemacht hätte, wäre ich wahrscheinlich sehr enttäuscht gewesen, aber ich wusste ja fast gar nichts. Ist doch ganz gut, wenn man sich vom ganzen Marketing-Trailer-Scheiss fern hält. Ändert aber trotzdem nichts, dass das Spiel in mancherlei Hinsicht schon kränkelt. Übel waren auch die nicht skipbaren Cutscenes, macht viel Spaß, wenn man einzelne Kapitel wiederholt. -.-
Trotzdem, hatte ich 10h echt Freude daran, auch wenn ich ganz oft dabei geschimpft habe – dit war jaaaanz komisch. ^^
@Jello: Besser als BioShock Infinite? Wow, das ist ja mal ‘ne Ansage. =)
Ich hätte mir ehrlich gesagt das Spiel auch fast nicht gekauft – zumindest nicht zum Release. Aber ich hatte mir dann doch noch einen Ruck gegenen, weil es eben von einem frischen, neuen Team kommt und die die Verkäufe auch nötig haben werden. Ich denke mit einem 2. Teil und einem größeren Budget werden sie die Maken, die Doreen gut zusammengefasst hat, ausmerzen können.
Ich wünschte, ich könnte die Erinnerung daran, dass ich diesen Artikel gelesen habe, vergessen machen. Nicht wegen Dir, Doreen, sondern, weil es mich an andere Sachen erinnert. Z.B wie Kacke eigentlich Bioshock ist oder auch dieses Spiel. Ja die Grundideen sind vielleicht ganz “toll”, aber ihre Umsetzung so inkonsequent wie nur möglich. Parallele Universen, Gedankenmanipulation. Hört sich alles schön und gut an, wird aber eh nicht zu Ende gedacht. Und genau daran scheitert die Immersion. Soviele Widersprüche und Logikfehler ist man heutzutage wohl gewohnt. Ein hoch auf unseren Zeitgeist…
Interessanter Gedanke, Anon. Teilweise sehe ich das eigentlich ganz ähnlich, obwohl ich manchmal abstrusen Storys durchaus etwas abgewinnen kann (BS:I fand ich klasse!). Aber “einfache” Geschichten sind heutzutage tatsächlich selten geworden, obwohl sie – richtig und gut erzählt – das viel bessere Potenzial hätten imho. Gut geschriebene Figuren, einen kleinen, knackigen Plot, stelle mir das gar nicht mal so schwer vor, aber dennoch haben die Autoren da scheinbar ihre Probleme mit. Vielleicht wäre das zu erwachsen und für jüngere Spieler einfach zu langweilig, ich habe wirklich keine Ahnung.
Ich hab’s jetzt durch und komme am Ende doch zu einem ähnlichen Fazit wie Doreen. Ich finde das Kampfsystem und die Kamera immer noch blöd, aber habe mich im Laufe des Spiels damit arrangiert. Im Grunde habe ich folgendes gemacht: Je nach Gegner die Kombos on-the-fly modifizieren. So habe ich das Spiel letztendlich fast komplett mit der einfachsten Kombo (X-X-X) und dem Ausweichen durchgespielt. Ob das jetzt Bug oder Feature ist, sei mal dahingestellt. Ich tendiere aber zu Letzterem… ^^
Trotzdem ist Remeber Me eigentlich ein schönes Spiel. Aber eben eines mit erheblichen Gameplay-Macken und einem mega-linearen Levelaufbau, so dass der Gesamteindruck doch eher durchwachsen ausfällt…