Liebe Junkie-Gemeinde,
wir sind hier und heute aus einem mehr als ernsten Anlass zusammengekommen. In der heutigen Predigt soll es um eine neue Bedrohung unserer Spielergemeinschaft gehen. Ich sehe dunkle Wolken am Horizont heraufziehen! Wahrlich, ich sage Euch, liebe Brüder und Schwestern: Das Ende ist nahe!
Welche Wolken? Welches Ende? Und wovon überhaupt? Rede ich von gesetzlichen Produktionsverboten für Ego-Shooter oder Zensur im Allgemeinen? Eine weitere Gardinenpredigt über drohende Sequelitis oder erdrückende Beherrschung des Mainstreammarktes durch einige wenige Großpublisher? Oder gar eine weitere ermüdende Breitseite gegen den etablierten Spielejournalismus?
Nichts von alledem, liebe Gemeinde, denn es bahnt sich ein völlig neues Problem in der Welt der elektronischen Unterhaltung an! Und dieses mal kommt das Übel aus dem Lager der Independent-Entwickler und Art-Game-Designer. Ja, unser aller Lieblinge, die innovativen und mutigen Ausnahme-Gamedesigner, schicken sich an, über das eigentliche Ziel hinaus zu schießen!
Was vor einigen Jahren mit Spielen wie REZ begann und mit grandiosen Perlen wie Darwinia oder Shadow Of The Colossus erfolgreich fortgeführt wurde, droht nun in eine Richtung zu kippen, die ich ganz und gar nicht gutheißen kann:
Die löblichen Bestrebungen, elektronisches Spielzeug mit Kunst zu verquicken und dem Medium somit eine weitere Dimension hinzuzufügen, drohen zum Selbstzweck zu verkommen. Dass die Designer damit wieder einen Schritt zurück gehen, weil es Kunst, die sich des Videospiels als Werkzeug bedient, ohne aber selbst ein Spiel zu sein, schon vor langer Zeit gab (z.B. haben Künstler schon Anfang der 90er 3D-Shooter-Engines für Installationen verwendet), ist dabei noch das kleinste Problem. Zwar droht dieser Rückschritt die gerade errungene Akzeptanz des Mainstreams gegenüber den oben genannten „etwas anderen Spielen“ wieder zu verspielen, indem man den Bogen schlicht überspannt und jeden künstlerischen Anspruch in Spielen wieder ins Freaklager verbannt, aber damit könnte man ja noch leben. Ging früher ja auch.
Viel schlimmer ist ein parallel laufender Trend, den man in der Nerd-Szene beobachten kann: Spiele, die eigentlich keine (guten) Spiele sind, werden aufgrund von extravaganten Design-Ideen frenetisch gefeiert, obwohl sie nach spielerischen Aspekten keinen verschimmelten Blumentopf gewinnen können.
„Style Over Substance“ ist der Wunderslogan, der über die Jahrzehnte schon in den Unterhaltungsmedien Literatur, Film und Musik zum Himmel stinkenden Mist hervorgebracht hat, über den sich betrunkene Kunststudenten sicherlich gut in der Szenekneipe unterhalten können, aber Banausen wie mir nur ein Kopfschütteln entlockt. Elitäre Kunstkacke für elitäre Kunstspacken. Unterhaltungswert, Substanz und/oder Zugänglichkeit tendieren gegen Null. Kritisiert man solcherlei Treiben, wird man von den Art-Game-Nerds mit Totschlagargumenten bombardiert, die einen als dummen Proleten und Ignoranten dastehen lassen sollen: „Hey, wenn Du es nicht gut findest, ist das Dein persönliches Problem! Du verstehst das halt nicht, Du Dummbatz! Geh wieder Counterstrike zocken, Du Proll!“
Wem bis hierhin noch nicht ganz klar geworden ist, worauf ich eigentlich hinaus will, versuche ich an zwei aktuellen Beispielen einmal zu erläutern, wo der Schuh eigentlich drückt:
Electroplankton vom japanischen Künstler Toshio Iwai für Nintendos DS und DefCon von jedermanns Indie-Entwickler-Lieblingen Introversion für den PC und Mac sind, wenn auch auf unterschiedliche Weise, famose Vertreter der Fraktion „Style Over Substance“. Spiele, die wahrlich mit interessanten Konzepten und herausragendem Design daher kommen. Aber leider auch Spiele, von denen das eine die Bezeichnung „Spiel“ erst gar nicht verdient und das andere zwar noch als „Spiel“ gesehen werden darf, aber bezüglich der Substanz auf sehr, sehr dünnem Eis wandelt.
Fangen wir mal mit dem „Nicht-Spiel“ an: Electroplankton!
Als es zunächst nur auf dem japanischen Markt erschien, konnte man hierzulande schon lobpreisende Artikel über dieses… ähm… „Spiel“ lesen. Und ich wurde richtig heiß auf den Europarelease, weil sich das alles so toll anhörte! Spiele in denen Musik eine tragende Rolle spielt, machen mich schon mal grundsätzlich an.
Ich habe dann auch gerne die 39-Euro-Schießmichtot für das NDS-Modul geblecht, weil ich im Glauben war, hier ein richtig cooles Musikspiel von einem preisgekrönten japanischen Künstler zu erstehen. Nach diversen Sitzungen, die mich alle nicht länger als 30 Minuten fesseln konnten (und selbst das ist wahrscheinlich schon maßlos übertrieben), überlege ich ernsthaft, wie viele Kinder-Nippes-Spielzeuge, die irgendwie Klänge erzeugen, ich für fast 40 Euro im nächstgelegenen 1-Euro-Laden oder aus dem Kaugummiautomaten um die Ecke hätte erstehen können.
Ja, ich weiß: Tolles Design, tolles Handbuch, tolle Idee, toller Medienkünstler. Aber eigentlich kann dieses „Teil“ wesentlich weniger als mein erstes Kinder-Keyboard von Casio, welches mir meine Eltern ca. 1980 zum Geburtstag geschenkt haben, ohne damals zu ahnen, was sie sich selbst damit antun würden. Ja, jeder beliebige Freeware-Sequenzer aus dem Internet kann tausendmal mehr als Electroplankton. Ok, es ist ja auch kein Tool für Musiker, aber es bedient sich deren Grundmechanismen: Sequenzer, Sampler und so weiter.
Damit wir uns richtig verstehen: Ich bemängele hier nicht, dass man mit dem Teil nicht richtig Musik machen kann. Das habe ich gar nicht erwartet. Im Grunde kann man das ja mit Amplitude, REZ oder Guitar Hero auch nicht wirklich. Man erhält immer nur die Illusion, wirklich Musik zu machen. Aber immerhin punkten diese Spiele als Spiel.
Wirklich enttäuschend finde ich den wirklich mehr als sparsamen Umfang von Electroplankton. Die 10 Planktonarten können fast nichts. Jede verkörpert ein Minispiel, welches simpler nicht sein könnte. Die Variationen innerhalb der Spiele sind so gering, dass man nach einer halben Stunde mit dem „Spiel“ alles, aber auch wirklich ALLES gesehen bzw. gehört hat. Der eigenen Kreativität sind hierbei so enge Grenzen gesetzt, dass ein klimperndes Windspiel auf dem Balkon wesentlich mehr Klangfarben erzeugt als die Electroplanktons.
Tatsächlich krankt das Ganze an der Substanz, denn die Möglichkeiten, der eigenen Kreativität mit diesem „Spiel“ freien Lauf zu lassen, sind ja prinzipiell alle vorhanden. Nur hat man sie alle in so sparsamer Form umgesetzt, so dass man sich als experimentierfreudiger Mensch nach wenigen Minuten verarscht vorkommt. Und warum ist das so? Hmm, da kann ich natürlich nur vermuten, aber meiner Meinung nach liegt die Sache recht klar auf der Hand:
Der gute Herr Toshio Iwai hat sich nur auf die Kreation eines Medienkunstwerkes konzentriert. Electroplankton ist ein stylisches, interaktives Stück kreative Kunst, das aber weder ein Spiel ist (das will es aber vermutlich auch gar nicht sein), noch seine „User“ wirklich fordert oder gar für längere Zeit faszinieren kann. So etwas mag in einer Kunstgalerie als audio-visuelle Installation sicherlich seine Berechtigung haben, aber als Vollpreis-Modul für eine Handheld-Konsole ist es eine Unverschämtheit! Und selbst wenn es für den DS eine schicke Wandhalterung gäbe, würde das ganze als „Kunstwerk für daheim“ aufgrund des mickrigen Formats trotzdem nicht wirklich funktionieren. Style Over Substance at it´s best!
Und das traurigste an der ganzen Geschichte: Mit etwas mehr Tiefe bzw. Möglichkeiten hier und da hätte es tatsächlich das sein können, was ich mir zunächst versprochen hatte! Nur leider hat Toshio Iwai den typischen Künstlerfehler gemacht und den User bei der ganzen Sache entweder falsch eingeschätzt oder gleich ganz aus dem Fokus verloren.
Interessanterweise wird Electroplankton aber fast überall von den Rezensenten gut gefunden. Entweder wollen sich die entsprechenden Herrschaften nicht die Blöße geben, vermeintliche Kunst nicht verstanden zu haben (dieses Phänomen kann man in jeder Kunstausstellung beobachten, wenn Tante Frieda aus Wanne-Eikel ehrfurchtsvoll vor Bildern stehen bleibt und anerkennend nickt, obwohl ihr dies eigentlich nichts gibt), oder man lässt sich einfach von der allgemeinen Kunst-Spiel-Euphorie treiben und legt beim Rezensieren einen unsichtbaren Schalter im Gehirn um, den ich gerne „Kleiner-Josef-Beuys-Schalter“ oder auch „Jeder-Bullshit-Den-Ich-Nicht-Verstehe-Ist-Kunst-Schalter“ nenne.
Nein, das ist unfair. Auch ich räume Electroplankton sehr wohl die Möglichkeit ein, eventuell wirklich Kunst zu sein. Allerdings keine, die man mit ruhigem Gewissen für 40 Euro an jedermann als Spiel verkauft…
Und nun das neue Spiel der Indie-Heroen Introversion: DefCon!
Immerhin ist DefCon wirklich ein Spiel. Und es ist vom Standpunkt des Designs und Konzeptes wirklich bemerkenswert, wenn auch nicht so bemerkenswert, wie viele vielleicht denken, denn die Idee ist nicht wirklich neu. Aber immerhin führen einem die Entwickler in sehr stilsicherer Form die deprimierende Wahrheit über den Sinn eines nuklearen Krieges vor Augen. Gut, das wurde Leuten meiner Generation eigentlich schon immer vor Augen geführt. Zumindest in den 70ern und 80ern hatten eine Menge Leute tatsächlich gar kein anderes Thema auf Lager als jungen Menschen wie mir immer wieder die Gefahren und die Unsinnigkeit eines solchen Krieges vor Augen zu führen… gähn…! Aber wenn ich es einmal wohlwollend als zeitgemäßes Update für die Generation nach mir sehe, die nicht „The Day After“, „When The Wind Blows“ oder „Wargames“ im Kino gesehen hat, dann kann ich es durchaus akzeptieren, dass dieser Zeigefinger mit den Spinnweben wieder einmal erhoben wird.
Schade an DefCon ist nur, dass das eigentliche Spiel totaler Mist ist. Immerhin wird es nicht als Vollpreistitel verkauft und ist mit 14 Euro wirklich günstig, aber für ein Kaffeepausen-Strategiespiel, dass so wenig Substanz und Tiefe besitzt, wäre alles andere auch eine Frechheit am Kunden. Das ganze Spiel kommt mir eher wie eine Pädagogen-Demo vor, deren einziger Zweck es ist, die erwähnte Message herüberzubringen. So gesehen erfüllt DefCon auch wunderbar seinen Zweck. Und nebenbei kann man auch noch eine anspruchslose Partie Strategiespiel im Büro spielen, wenn man mag.
Das erstaunliche ist aber auch hier wieder, dass kaum jemand es wagt, das Spiel einmal als Spiel zu bewerten, wobei es natürlich nicht besondern gut wegkommen kann. Stattdessen wird es auf einen Sockel gestellt, weil die Entwickler mit Darwinia zuvor bewiesen haben, dass sie es wirklich drauf haben, einem interessanten Spiel eine Portion Kunst und Anspruch mitzugeben, ohne dass dies zum ärgerlichen Selbstzweck wird. Darwinia war wirklich ganz großes Kino! DefCon ist hingegen ein ganz großer Pausenclown, weil hier das Design und die Message darüber hinwegtäuschen, dass es für ein ordentliches Strategiespiel nicht gereicht hat! Style Over Substance.
Hey, ich mag Introversion! Die Jungs sind mir immer noch sehr sympathisch und ich rege mich auch nicht darüber auf, dass sie die Brillanz von Darwinia mit ihrem dritten Spiel nicht annähernd wiederholen konnten. Die machen bestimmt auch wieder mal ein wirklich gutes Spiel! Und dann kann ich mich auch wieder richtig über das besondere Design freuen.
Nein, aufregen kann ich mich nur über die Unreflektiertheit, mit der viele Nerd-Schreiberlinge nur das Design und das Konzept hinter DefCon sehen und das eigentliche Spiel gleich mit hochjubeln, obwohl es alles andere als bejubelnswert ist! Es ist schon interessant, wie sich manche Autoren auch gleich das eigentliche Gameplay von DefCon schön schreiben, nur weil sie das Design beeindruckt und Introversion bei ihnen ohnehin einen Stein im Brett haben. Mensch, Leute! Überlegt Euch doch mal, wie Ihr ein neues AOE oder C&C bewerten würdet, wenn es mit derartig flachem und unausgegorenem Gameplay wie DefCon daher kommen würde…!
Kunst und Anspruch in Spielen kann ich prinzipiell nur gutheißen. Aber wir reden hier doch immer noch von Spielen, oder? Und als solche müssen sie auch immer noch bestehen bzw. überzeugen können, nicht wahr? Wenn die Kunst aber das Medium Spiel nur zu ihren eigenen Zwecken benutzt, um halt… ähm… Kunst zu sein, dann sollte man sie auch als solche betrachten. Unter diesem Aspekt bin ich auch ganz schnell raus aus der Diskussion, denn von Kunst verstehe ich dann doch zu wenig, um ernsthaft argumentieren zu können. Ich kann Electroplankton, DefCon und Konsorten hier in erster Linie nur als Spiele betrachten. Und als eben solche sind sie leider echter Käse!
Und nun gehet hin in Frieden.
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