In Jahresrückblicken werden viele Superlative gezückt. Es lässt sich vorzüglich darüber streiten, welches wohl das beste Spiel des Jahres war, welcher Titel die tollste Grafik, die spannendste Story, den packendsten Multiplayer oder die perfekteste Steuerung hatte. Das möchte ich gar nicht kritisieren, ich bin ja auch leicht zu begeistern. Wenn mir etwas gefällt, dann ist das auch meist recht schnell mein absolutes Lieblingsspiel. Bis eben das nächste Lieblingsspiel kommt. Mir ist das zu anstrengend und zeitraubend, mir über Schwachstellen an Spielen den Kopf zu zerbrechen, gar noch extra viel Zeit damit zu verbringen, darüber zu schreiben. Das überlasse ich den selbsternannten “Spieletestern”, den armen Wichten, die auch miese Spiele bis zum Ende durchspielen müssen, so ganz ohne Spaß an der Sache. Ich möchte über die Spiele schreiben, die mir Spaß machen und ich möchte euch davon berichten, warum Sie mir Spaß machen. Soviel zur Einleitung, doch was hat das jetzt mir meinem Jahresrückblick zu tun? Nun, was meine Highlights des Jahres betrifft, die könnt ihr im Rahmen meiner Nominierungen für den Polygon-Award in meinem Blog nachlesen. Da ich aber auch vor diesen Lieblingsspielen temporär stets andere Lieblingsspiele hatte, möchte ich euch heute über eben diese Spiele erzählen, die sich dieses Jahr zwar einen besonderen Platz in meinem großen Spieleherz sichern konnten, aber es nicht auf die auf drei Plätze je Kategorie begrenzte Liste der Nominierungen geschafft haben. Die vergessenen Sieger sozusagen. Winning silver is losing Gold, war mal ein Werbespruch von Nike. Diesen Spielen widme ich diesen Rückblick.
Bayonetta
Das „Sarah Palin“-Double mit Kassengestell läutete nicht nur mein Spielejahr 2010 ein, sondern auch eine neue Ära in der Darstellung von Frauen und Sexualität in Spielen. Lara Croft hatte ihrer Zeit damals ein paar zu große Vektoren auf Brusthöhe, die man mit gutem Willen als Rundung bezeichnen konnte. Die große, böse Schwester Bayonetta dagegen räkelt sich in aufreizender wie eindeutiger Pose halbnackt vor uns, während im Hintergrund eine dämonische Krähe, geformt aus ihren Haaren, den Kopf eines ebenso dämonischen Wurmes ausreißt und verschlingt. Das ist anders, verstörend und klar, auch ein wenig sexy, denn ihr eng anliegender, tief ausgeschnittener Anzug besteht ausschließlich aus (magischen) Hexen-Haaren, mit denen Sie dämonische Über-Kreaturen formen kann. Ja, Haare werden zu Dämonen, richtig gelesen. Drücken wir die richtigen Knöpfe, löst sich Bayonetta Ihren Zopf auf, formt daraus mal eine Riesenkrake, eine dämonische Spinne oder einfach nur einen überdimensionalen Haar-Stiefel und zerquetscht damit eindrucksvoll ihre Feinde. Das ist alles so extrem übertrieben, dass man es mit Worten gar nicht wirklich beschreiben kann. Aber es sieht in beiden Bedeutungen des Wortes einfach nur „fantastisch“ aus. Und es spielt sich zum Glück auch so.
Die sexuellen Referenzen, die sich durch das gesamte Spiel ziehen, sind, gelinde gesagt, das Gegenteil von subtil. Man hat stellenweise das Gefühl, in einem feuchten Teenagertraum zu sitzen, der sich in einer Mischung aus zuviel Fastfood nach Mitternacht und einem übertriebenem Anime-Konsum zu dem Wildwuchs entspinnt, der Bayonetta optisch geworden ist. Die Kameraführung lässt so gut wie keine Chance aus, möglichst nahe zwischen den gespreizten Oberschenkeln dieser Dame zu landen. Wirkliche Tatsachen gibt es allerdings nie zu sehen, eine Locke des schwarzen Haarschopfes weht stets galant um Bayonetta herum, so dass Nippel und Co sehr gewissenhaft vor gaffenden Blicken geschützt bleiben. Wäre das sonstige Spiel nicht so atemberaubend inszeniert, ich hätte dieses pubertierende Gehabe wohl nicht all zu lange aushalten.
Große Endbosse und tolle Finishing-Moves gab es auch in anderen Spielen schon eindrucksvoll zu sehen, aber Bayonetta fährt diese großen Momente gefühlt bei jedem zweiten Gegner auf. Die meisten der Kreaturen, könnten abgelehnte Levelbosse aus anderen Spielen sein, was das Kaliber für die tatsächlichen Bosse bei Bayonetta noch mal um einiges steigert. Ähnlich wie bei Shadow of the Collossus befinden wir uns oft AUF den Endbossen und kämpfen uns an Ihnen empor, schlagen nacheinander mutierte Gliedmaßen mit sabbernden Gebissen ab, nachdem wir ihnen die Zungen heraus geschnitten haben, um uns schließlich zum eigentlichen Kopf der abnormalen Kreatur empor zu kämpfen, wo uns erneut die irrwitzigsten Mutationen stets aufs Neue überraschen. Überraschung ist sowieso das Hauptmotto des Spiels. Dieses Spiel gönnt mir zu keiner Sekunde eine Ruhepause. Durch das Setting mit vier unterschiedlichen Dimensionen und die undurchdringliche Story brauchen sich die Entwickler nicht um so Nebensächlichkeiten wie Physik, Realismus oder Bezug zu kümmern und schufen sich damit die ultimative Spielwiese um wirklich alles, was Ihnen in den Sinn kam, auch so verwirklichen zu können. Das Spiel, und das macht es auch so erfrischend, schert sich einen Dreck um Mainstream und wie ein antiautoritär erzogenes Kind macht es einfach immer genau das, wozu es am meisten Lust hat. Ein Kampf mit Motorrad auf der Tragfläche eines abstürzenden Flugzeuges? Check! Ein Schusswechsel mit Sprungeinlangen auf den abstürzenden Teilen des Big Ben Turmes? Klar! Eine Verfolgungsjagd auf einer hinter uns abbrechenden Autobahn? Kein Problem.
Die Krönung des ganzen Spektakels ist dann aber die Musikuntermalung. Zuckersüßer, boxenverklebender J-Pop tropft aus den Lautsprechern und setzt das blutige, dämonenmetzelnde, sadistische Treiben auf dem Bildschirm in einem so verschrobenen Kontext, das es ein Fest ist. Die abwechslungsreichen Stages, die unfassbaren Endbosse, ein Füllhorn an abgedrehten Ideen und Locations und eine große Portion Selbstironie setzen Bayonetta die Action-Krone auf. Ein „Höhepunkt“ (hihi) meines Spielejahres 2010!
BioShock 2
Hach, BioShock. Ken Levines Meisterwerk in der dystopischen Unterwasserstadt Rapture ist eines der Spiele, die einem nach dem Spielen für eine Weile nicht mehr loslassen. Die beklemmende Atmosphäre der im Chaos zusammengebrochenen Gesellschaft, die durch den Missbrauch eines Stoffes namens “Adam” zu genetisch verkommenen Geschöpfen wurden, die faszinierende Architektur, die in ihrer Mischung aus Steampunk und Art Déco begeisterte und ein Storytwist, der wohl zu den besten Momenten der Videospielgeschichte gehört. Aufgrund des kommerziellen Erfolges war es nur eine Frage der Zeit, bis der obligatorische zweite Teil angekündigt wurde. Jedoch: Selten war eine Story in sich so abgeschlossen und rund erzählt wie in BioShock. Wo würde der zweite Teil ansetzen? Meine Skepsis war groß, doch mein “Heimweh” war größer, so dass für mich klar war, dass ich BioShock 2 eine Chance geben werde. Auch wenn man den zweiten Teil als Big Daddy beginnt: Die ersten Momente zurück in Rapture fühlten sich dann trotz des Perspektiven-Wechsels etwas zu heimisch an. Spätestens jedoch, als ich meine erste Little Sister mit jeder Menge Fallen vor den bösen Splicern beschützt hatte und sie mir ihre Stoff-Big-Daddy Puppe liebevoll entgegenstreckte, war es um mich geschehen. Als dann noch die Story richtig an Fahrt aufnahm, war klar: Rapture hatte mich wieder mit Haut und Haaren gefangen genommen. BioShock 2 ist in meinen Augen ein würdiger Nachfolger, der trotz anfänglicher Ähnlichkeiten seinen ganz eigenen und eigenständigen Charakter entfaltet.
Alpha Protocol
Ein Mass Effect in der Neuzeit im Jack-Bauer-Agentensetting? Ein Spionage-RPG und noch dazu von Obsidian Entertainment? Hell yeah! Zugegeben, Alpha Protocol ist nicht für jeden Spielertypus gemacht. Das Rollenspiel und vor allem die Dialoge stehen klar im Vordergrund. Eine toll erzählte Geschichte, die sich, abhängig davon entwickelt, wann ich wo und wie mit meinem Charakter agiere, mit wem ich rede und wen ich dabei am Leben lasse. Dabei stellte mich das Spiel oft vor schwierige Entscheidungen, die ich innerhalb von Sekunden aus dem Bauch heraus treffen muss. Es gibt kein richtig oder falsch, aber jede Aktion erzeugt eine Gegenreaktion und diese bekomme ich das komplette Spiel hindurch zu spüren. Mal stärker, mal weniger, aber immer konsequent. Feinde werden zu Verbündeten und umgekehrt. Ich fühlte mich nicht nur wie in einer Folge der Serie 24, ich war mittendrin und das fühlte sich verdammt gut an. Wunderschöne und sehr abwechslungsreiche Locations, packend und humorvoll geschriebene Dialoge und ein sehr variantenreiches Skill-System, welches mich genau so spielen lässt, wie ich das möchte. Da verzeihe ich dem Spiel auch, dass die Grafik-Engine nicht auf dem aktuellsten Stand des technisch Machbaren ist. Auch, dass die Action manchmal unter dem statistischen Unterbau des Rollenspiel-Regelwerks krankt, wenn ein sicher geglaubter Schleichversuch scheitert oder ein Schuss nicht sitzt. Alpha Protocol ist nun mal in erster Linie ein Rollenspiel. Wenn ich den Charakter entsprechend seiner Fähigkeiten einsetze, dann klappt das größtenteils auch sehr gut. Es erinnert stark an ein Mass Effect in einem modernen Agentensetting, aber mit genügend eigenständigen Ideen und Errungenschaften, um mehr zu sein, als nur eine einfache Kopie. Mir hat Alpha Protocol sehr viel Spaß gemacht und ich freue mich auf weitere, dann gerne auch etwas technisch reifere Abenteuer mit Michael Thorton.
DeathSpank
Es gibt ein paar Dinge, über die sich die meisten Spieler eigentlich einig sind: Monkey Island ist lustig und Diablo hat ein verdammt gutes und süchtigmachendes Spielprinzip. Wenn nun der Erfinder, Autor und einzig lebender Mensch auf Erden, der das Geheimnis von Monkey Island kennt, beschließt, diese beiden Spieleperlen zu vermischen, dann darf man in der Tat aufgeregt und gespannt sein. DeathSpank nennt sich das Kind dieser Liaison und hat mich dieses Jahr mehr als ein Mal zum Lachen gebracht. Die repetiven Quests werden durch die irrwitzigen Missionsbeschreibungen, die großartig geschriebenen und eingesprochenen Dialoge, der eingängigen Musik und nicht zuletzt Dank des wunderbaren Grafikstils so aufgewertet, dass man dennoch wirklich jede Nebenquest machen möchte, um keinen Gag zu verpassen. Danach war ich aber auch froh, dass es fertig war. Der zweite Teil hatte dann, nicht nur wegen Ron Gilberts Weggang von Hothead, so gar keinen Reiz mehr auf mich. Nochmal 10 Stunden lang das gleiche machen klang dann doch eher wie Fleißarbeit. Dennoch: Der erste Teil ist ein Kleinod unter den Hack’n’Slays und wirklich empfehlenswert.
Sonstige Perlen
Meine Liebe für das diesjährige Professor Layton und das beste Rennspiel von allen, Need for Speed: Hot Pursuit, könnt ihr hier auf Polyneux in den dazugehörigen Artikeln erfahren, die sind beide noch so frisch, ich würde mich nur unnötig wiederholen. Die beiden Titel sind wirklich nur SEHR knapp an den Top-Plätzen vorbeigerutscht. Layton hatte mit Abstand die beste Story aller Laytons und hat mich fast zu Tränen gerührt, die Rätsel und Spielmechanik fühlten sich dann aber doch etwas altbacken an und der Serie wird der 3DS gut tun. An Need for Speed hatte ich im Prinzip nichts auszusetzen. Das fand nur auf Grund der starken Konkurrenz kein Platz auf dem Treppchen. Enslaved geht es ähnlich wie Layton: Eine gute Story, tolle, lebendige Charaktere und ein grandioses Setting. Nur die viel zu simple Spielmechanik auf Autopilot brachte es um einen Spitzenplatz, vor allem im direkten Vergleich zum rundum gelungenen Castlevania: Lords of Shadow, meinem Überraschungshit des Jahres.
Fazit
Besonders gut gefallen hat mir dieses Jahr das friedliche Nebeneinander von Indie- und Triple-A Titeln. Dass Meisterwerke wie Super Meat Boy und Limbo nicht untergegangen sind, sondern sich in den Blogs und bei den Spielern trotz Millionenbudget-Titel wie Call of Duty und Co trotzdem einen festen Platz sichern konnten. Qualität findet seinen Weg, der Überzeugung möchte ich gerne sein (auch wenn das leider nicht der Realität entspricht). Ich bin froh, dass es dank XBLA, Steam, PSN und auch dem Apple AppStore für diese Entwickler und ihren Spieleperlen einen Weg gibt, ohne all zu großes Risiko Spiele zu veröffentlichen. Da wird sich noch einiges bewegen in den nächsten Jahren und ich freue mich darauf.
Ein tolles Jahr für Spiele und ein tolles Jahr für mich im ersten Jahr als aktiver Blogger. Es hat mir verdammt viel Spaß und Freude bereitet. Danke auch an euch, für das Lesen und kommentieren, danke für die überwältigende Teilnahme am Polygon, den fachsimpelnden Austausch in den Kommentaren und auf Twitter, die wohltuende, nötige Kritik und das eine oder andere Lob.
Auf ein großartiges Spielejahr 2011!
3 Kommentare
Alpha Protocol hat mich sehr überrascht. Starke Schwächen im Gameplay, aber wohl die dynamischste Story, die ich bisher spielen durfte.
BioShock 2 hab ich wiederum links liegen gelassen, gerade weil der erste in sich abgeschlossen war (und spielerisch mMn. nicht bahnbrechend).
Auch kein GOTY-Kandidat, hat mich aber zuletzt begeistert: Vanquish. Allein weil mir das Spiel so gut gefallen hat, spiele ich momentan Bayonetta. Platinum Games als Gütesiegel, sozusagen. :)
Mein größter Geheimtip 2010: Nier! ^^
Ja, ich mochte und mag Alpha Protocol wirklich sehr. Schade, dass die Obsidian-Jungs wohl leider nie eine zweite Chance bekommen werden, in einem Nachfolger die Schwächen auszubügeln. War wirklich ein tolles Setting.
Obsidian hat sich da wohl auch zu viel vorgenommen bzw. es gab wohl auch Probleme im Team. Aber selbst abgesehen davon gehören bei denen die Bugs und Glitches schon ins Inventar – siehe Fallout New Vegas.
Schade ist es vor allem deshalb, weil es ihre eigene IP war und wahrscheinlich auch eine Reihe hätte werden können. So werden sie wohl weiter Spin-Offs und Nachfolger zu Franchises anderer Entwickler machen. :/