Damit wir das gleich aus dem Weg haben: Ich mag L.A. Noire. Wirklich. Die Welt ist toll, das 40er-Jahre Gefühl kommt wunderbar rüber und die Örtlichkeiten strotzen nur so vor Details. Die Gesichtsanimationen sind größtenteils bahnbrechend, die Musikuntermalung perfekt und die Sprecher geben alles, obwohl es nur für so ein räudiges Videospiel ist. Von außen betrachtet ist alles gut und ich hatte mit dem Spiel auch in vielen Momenten wirklich Spaß. Wie im titelgebenden Genre des Film noir gibt es aber auch sehr viel Schatten. Harte, kantige Schatten. Und in diesen Schatten lauern die vielen kleinen Fehler und schlummert das große Potenzial. Doreen hat in ihrem Artikel schon viele Kritikpunkte aufgegriffen, an denen auch ich mich störe, weswegen die Lektüre von The Simple Art of Murder sehr zu empfehlen ist. Ich habe mir deswegen nur ein paar Schwerpunktthemen herausgepickt, die mir persönlich auf dem Herzen liegen. Darunter sind auch einige inhaltliche Aspekte, also Achtung: Spoiler ahead!
Die Figuren sind einem (zu lange) egal
Hauptfigur scheint zunächst Cole Phelps zu sein, was wir aber nur durch die Tatsache erfahren, dass man ihn als Spieler steuert. Abgesehen davon bleibt der angebliche Kriegsheld und Familienvater blass wie das Papier seines Notizblocks. In einigen Rückblenden in die Pazifikoffensive der USA 1945 sehen wir Phelps als Lieutenant mit Stock im Arsch, der wohl einen tragischen Moment vor sich hat. Zurück in den Staaten trägt er diese Seelenwunde mit sich herum, aber sie trifft den Spieler nicht, weil sie bis ins letzte Drittel der Gesamtlaufzeit dieses Filmspiels nicht thematisiert wird. Phelps ist kein gebrochener Noir-Held, weil er nicht bricht. Wir sehen nicht, wie er quälenden Fragen seiner Kinder aus dem Weg geht. Er sitzt in keiner Bar und betrinkt sich hemmungslos, um die Bilder in seinem Kopf loszuwerden. Stattdessen arbeitet er störrisch und wie beim Militär mit demselben Stock im Popo immer weiter und klettert die Polizeiränge nach oben.
Phelps hätte der Donald Draper der Videospiele werden können. Ein smarter Typ mit dunkler Vergangenheit, der mit einem Fehler leben muss, und in seinem neuen Leben nach dem Militär noch mehr Fehler macht, um die alten Laster zu vergessen. Der seine Frau betrügt und trinkt und raucht und trotzdem noch einen unverschämt guten Job macht, bis er zusammenbricht. Aber Phelps scheint nur ein investigativer Polizeiroboter zu sein, der das große Gute anstrebt. Nur in zwei, drei kurzen Momenten blitzt etwas anderes in ihm auf und er sitzt in einer Jazz-Bar und lauscht der deutschstämmigen Sängerin Elsa. Das ist sein Entwicklungsprozess. Er sitzt in einer Jazz-Bar. In zwei, drei Zwischensequenzen. Für wenige Sekunden.
In diesen Sekunden kommt ihm die Idee, doch einfach mal eine Affäre zu starten, und zugegeben, als er bei seiner femme fatale an die Tür klopft, zögert er zumindest kurz. Das nenne ich Gefühle. Ein Noir-Krimi ist kein Melodrama, aber wenn ich als Beobachter keine Anhaltspunkte bekomme, was für Phelps alles auf dem Spiel steht, dann kommt auch keine Spannung auf.
Gekrönt wird das Desinteresse an der Hauptfigur Phelps nur noch durch das letzte Drittel von L.A. Noire, in dem er nicht mehr der Spielcharakter ist, sondern sein ehemaliger Armeekumpane Kelso das Ruder übernimmt. Phelps zieht sich nicht selbst aus dem Dreck, sondern nutzt seine neue Freundin Elsa und den smarten Kelso. Dieser trat auch schon in einem vorherigen Fall als Verdächtiger auf und wurde uns in einigen Rückblenden näher gebracht. Jack Kelso ist der Ritter in der Not und ein dreimal interessanterer Charakter als Phelps. Dass gerade er die entscheidenden Beweise für das große Finale zusammensammelt, ist einer der wenigen guten erzählerischen Kniffe, welchen Team Bondi einsetzt, um die bis dahin schwache übergreifende Geschichte zu einem krachenden Ende zu führen. Warum wir allerdings bis dahin 10-12 Stunden mit dem Langweiler Phelps rumeiern mussten, bleibt unklar. Am Ende jedes einzelnen Falls wäre ich lieber mit seinen Kollegen Rusty (ruppiger Kerl), Earle (korrupter Arsch) oder Biggs (brummiger Bär) in einer Bar verschwunden als mit Phelps zu Elsa zu latschen.
Und warum eigentlich Elsa? Die ist nun wirklich so anziehend und sinnlich wie ein toter Baum. Soll ich mich als Spieler nicht im ersten Moment in ein zartes Wesen verlieben, das mich anschließend in den Abgrund zieht? Das ist doch der Sinn einer gefährlichen Liebschaft.
Wo ist das pompöse glamouröse Hollywood und wo ist der Dreck dahinter?
Wo sind die dicken VIP-Partys? Die roten Teppiche? Die großen Stars? Wir sind doch in Hollywoodland, warum ist es hier so unlustig? Zeigt mir in einer Szene die glitzernde Fassade der Unterhaltungsindustrie und in der nächsten die dreckige Wahrheit dahinter.
Der Jazzclub The Blue Room hätte so ein Ort sein können, aber da stehen nie mehr als drei Leute vor der Tür und auch im Inneren ist es eher trist und traurig. Wenn Elsa dort singt, wackeln nur wenige Paare auf der Tanzfläche herum und Phelps sitzt alleine an einem Tisch, umgeben von vielen leeren Tischen. Ist die Grafik-Engine nicht dafür gemacht, mehr als fünf Personen gleichzeitig in einem Bild darzustellen? Oder wird hier die Einsamkeit der beiden in symbolische Bilder verwandelt?
Ein großes Filmset strömt in den zwei Momenten, die man dort verbringt, nur kurz die morbide Atmosphäre der Traumfabrik aus und verwandelt sich ganz schnell in einen einzigen Actionparcours.
Nur einmal saß ich wirklich fasziniert vor dem Bildschirm und gruselte mich vor meinen eigenen Gedanken, weil sich der Abgrund der Schönen und Reichen vor mir auftat. In einem Proberaum verbirgt sich hinter einem Spiegel die versteckte Kamera eines reichen Perverslings und auch das Gästeklo ist mit einem entsprechenden Fenster versehen. Was in diesen Räumlichkeiten alles passiert ist, möchte man sich nicht vorstellen.
Die Verhöre folgen einer Videospiellogik
In den Interviews und Verhören lauscht der Spieler einem Statement und beurteilt anschließend, ob er dem Gesagten glaubt, lieber nochmal nachfragt, oder eine Lüge erzählt wurde, die er durch Beweise auch als Lüge enttarnen kann. Über die hierbei entstehenden Probleme wurde schon viel geschrieben und ich empfehle euch dazu Doreens Artikel, aber zwei Punkte sind mir besonders übel aufgestoßen, weswegen ich sie hier nochmals erwähne.
Für das Spiel ist immer nur eine der drei Antworten richtig und dies zeigt es einem auch sehr deutlich, indem die Reaktionen von Phelps bei einer falschen Wahl derart psychotisch sind, dass man auch sicher merkt, hier danebengegriffen zu haben. Dann werden ältere Damen beschimpft und beschuldigt, ein Vergewaltigungsopfer angeschrien oder eine aufgelöste Mordzeugin sinnlos unter Druck gesetzt. Aus dem netten Polizeibeamten wird auf Knopfdruck eine zeternde Hexe und aus einem involvierten Spieler ein verwirrter Beobachter.
Ein weiterer Aspekt, der mich etwas ratlos zurückließ, war das Bewertungskriterium für die Entscheidung, wann jemand lügt und wann nicht. Ging es darum, dass jemand wirklich lügt und sich offensichtlich per Mimik und Körpersprache als Schwindler präsentiert, oder war eine falsche Aussage, die der Sprecher aber selbst für wahr hielt auch eine Lüge oder nach der Logik des Verhörs die Wahrheit, weil der Befragte es nicht besser wissen konnte. (o_O) Musste ich als Spieler also eher auf die Gesichtszüge achten oder auf den Inhalt der Aussage? War eine Lüge auch eine Lüge, obwohl sie voller Überzeugung und wider besseren Wissens vorgetragen wurde? Bei solchen Entscheidungen hätte ich mir facettenreichere Antwortmöglichkeiten gewünscht, die auch mal nur halb-richtig sein durften und die Geschichte in eine leicht andere Bahn brachten, ohne mich mit binärer Sicht als Held oder Trottel darzustellen.
Womit wir beim nächsten und wohl schwerwiegendsten Problem von L.A. Noire sind: der nicht vorhandenen Einflussmöglichkeit auf die Erzählung.
Die Handlungen des Spielers haben zu wenig Konsequenzen
Es gibt eine Story und nur eine Story. In einigen Szenen wird eine Wahlfreiheit mit entsprechend unterschiedlichen Entwicklungen suggeriert, sie führen aber immer zum gleichen Endergebnis. Man kann Person A oder Person B verhaften, schlussendlich war es doch Person C. Es geht L.A. Noire in seiner Geschichte nicht darum, einem einen persönlichen Werdegang erleben zu lassen, sondern die vorgegebene Story abzuschreiten. Wenn man sich als Spieler nicht von Anfang an klar macht, dass hier kein Mass Effect und kein Heavy Rain zu erwarten ist, dann eiert man mit fiesen Magenschmerzen durch Los Angeles.
Hier hätte Team Bondi den Spieler viel stärker emotional involvieren können, wenn einen die eigenen Entscheidungen durch das gesamte Spiel verfolgt hätten.
Im Morddezernat buchtete ich reihenweise unschuldige Personen ein und das Spiel wischt diese fatalen Fehleinschätzungen mit zwei lapidaren Sätzen in einer Zwischensequenz einfach weg. So kann man die Korruption im Staatsapparat darstellen, aber es ist nicht verwunderlich, dass viele Spieler davon abgeschreckt wurden. Hinzu kommt der Unwille von L.A. Noire, die beim Spieler aufgestauten Fragen befriedigend zu erklären. 6 Fälle lang wird man von einem schlauen Serienkiller hinters Licht und mit falschen Beweisen in die Irre geführt. Viele Spielstunden grübelt man über die Zusammenhänge und Motive der Täter und dann nimmt sich das Spiel keine 30 Sekunden Zeit, um die elementarsten Verbindungen zu erläutern. Wie kommt das blutige Messer in die Wohnung eines Unschuldigen und warum flüchten alle Verdächtigen vor der Polizei, obwohl sie doch keine Straftat begangen haben? Wir werden es nie erfahren und unsere Entscheidungen bleiben für alle Zeit ohne Konsequenzen für die weitere Handlung.
Abrupte und statische Inszenierung der Zwischensequenzen
Jetzt kommen wir langsam in die Gefilde der Erbsenzählerei, aber an dieser Stelle wurde für mein Empfinden so viel Potenzial verschenkt.
Es gibt zwei großartige visuelle Inszenierungen in L.A. Noire: das Hauptmenü und eine lange Kamerafahrt über den Jazz Club Blue Room. Erstere wirft die Menüpunkte als Schatten an die dreckige Backsteinwand einer nassen Gasse. Das Licht spendet ein Auto im Hintergrund. Besser kann man in ein Noir-Abenteuer nicht starten.
Bestehen die Zwischensequenzen zu 90% aus Close-Ups der detaillierten Gesichter, bewegt sich die Kamera im zweiten Highlight ausnahmsweise in einem langen Schwenk über ein ganzes Gebäude hinweg und zeigt uns Phelps, wie er in einer Gasse verschwindet und am anderen Ende in einem Hinterhof wieder hervorkommt. Man bekommt endlich einmal ein Gefühl für die Räumlichkeit und kann die Atmosphäre des Orts aufnehmen. Für meinen Geschmack klammern sich Videospiele noch zu sehr an die Sehgewohnheiten aus TV und Film und präsentieren zu wenig Kamerafahrten und weite Schwenks, die mit einer virtuellen Kamera einfacher zu lösen sind als im echten Leben. Wie hätten sich die Gespräche angefühlt, wenn die Kamera elegant um die Personen gekreist wäre?
Auch Szenenübergänge mit Zeit- oder Ortswechseln wurden teilweise sehr abgehackt inszeniert und ließen mich etwas ratlos zurück.
Das alles sind nur Kleinigkeiten, die aber eine ansonsten bewusst stilvolle Inszenierung ins Schleudern bringen.
Im unheimlichen Tal
Im uncanny valley landen grafische Darstellungen, die mit ihrem Grad an Realismus schon relativ weit fortgeschritten sind, aber durch kleine Abweichungen noch immer als unangenehm künstlich auffallen. Ein menschliches Gesicht mit zu glasigen Augen oder einem Mund mit unproportionalen Lippen. Wir kennen echte Menschen, echte Augen und echte Lippen und merken, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Bei einer abstrakten Darstellung macht uns die große Abweichung zur echten Welt nichts aus, weil wir die Lücken durch unsere Vorstellungskraft problemlos füllen können. Je realistischer aber ein Mensch nachgezeichnet wird, umso gravierender fallen kleine Fehler auf und lassen die gesamte Figur unecht wirken.
Die Menschen in L.A. Noire haben beinahe perfekt animierte Gesichter, während der Rest der Welt noch aus alten Videospielzeiten stammt. Die Gesichter haben den Sprung über das uncanny valley schon fast geschafft, während einfachere Körperanimationen noch hinterherhinken. Kopf und Torso sind nur aufeinandergesetzt, die Kleidung ist angeschweißt und statisch und einfache Laufbewegungen haben manchmal etwas von einem Roboter. Die Optik zeigt hier ein gemischtes Bild.
Überträgt man allerdings das Phänomen von der Grafik auf das gesamte Spiel, so kann man L.A. Noire ganz ganz tief im unheimlichen Tal ansiedeln. Viele Elemente sind beängstigend realistisch und entwerfen eine Welt, die dem echten Amerika der 40er-Jahre sehr nah kommt. Auch die Story und die Handlungen der Menschen scheinen zunächst überraschend lebensnah. Doch dann tun sich erste Ungereimtheiten auf. Im echten Leben würde man gerne freundlich nachfragen, aber das Spiel erlaubt es nicht. Man würde einen Verdächtigen gern nochmal besuchen und neue Beweise präsentieren, aber das Spiel erlaubt es nicht. Der eigene Partner fährt einen zunächst sicher durch den dichten Verkehr und wir tauchen in die Welt ein. An der nächsten Kreuzung reißt er plötzlich das Lenkrad herum, rast über den Gehweg und zerschmettert eine Parkbank. Währenddessen erzählt er uns seelenruhig von seiner Meinung zum laufenden Mordfall. Dann ist man als Spieler plötzlich im unheimlichen Tal und weiß: Das hier ist alles nur ein Spiel und ich bin nicht Cole Phelps, lebe nicht in Los Angeles und löse keine Straftaten.
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