“The world has moved on”, schrieb Stephen King einst in seiner Saga um den Dunklen Turm. Ein paar Worte, in denen die ganze Tragik einer kaputten Welt steckt. Königreiche und Nationen liegen in Schutt und Asche. Regeln, Gesetze und Normen haben längst keine Bedeutung mehr. Der Kataklysmus, welcher Stephen Kings Fantasiewelt ereilt hat, ist unumkehrbar. Die Welt hat sich weiterbewegt und ist nach ihrem rasanten Fall am Boden zerschellt. Was der Autor in seinem Roman-Zyklus beschreibt ist nichts geringeres als Postapokalypse. Ein Setting, welches sich enormer popkultureller Beliebtheit erfreut.
So auch bei mir. Denn Postapokalypse ist nicht nur ein guter Vorwand, um Mel Gibson in einem umgebauten Ford Falcon durch die Wüste heizen zu lassen, nein, sie ist immer auch ein reizvolles Gedankenspiel. Was passiert, wenn Institutionen, Regierungen oder Normensysteme zusammenbrechen, lässt sich selten besser zusammenfabulieren, als in einer endzeitlichen Welt. Ob Literatur, Film oder eben auch Spiel: In jedem Medium findet sich genügend Stoff, um sich über Monate hinweg mit dem Thema beschäftigen zu können.
Solch eine lange Tradition bringt freilich auch Nachteile mit sich. Und so ist es wenig überraschend, dass postapokalyptische Fiktion häufig nur noch Klischees wiederkäut, ausspuckt und dieses Flickwerk aus bekannten Versatzstücken dann Geschichte nennt. Auch The Last of Us, einer der letzten großen Titel für die Playstation 3, hat damit zu kämpfen. Ich kann mir bildlich vorstellen, was sich die kreativen Köpfe beim ersten Meetings um die Ohren gehauen haben: “Wir brauchen unbedingt eine dieser ‘Was machen wir mit einem infizierten Gruppenmitglied?’-Situationen!” “Nur wenn wir auch Kannibalismus ansprechen! Bitte, bitte, bitte?” “Geht in Ordnung. Dafür muss aber jemand ‘Geht ohne mich weiter, ich halte sie auf!’, schreien.”
Ja, auch Naughty Dogs neuer Titel weicht kaum von altbekannten Erzählelementen ab. Was in anderen Welten ein Atomkrieg wäre, sind hier hochaggressive Pilzsporen, die aus Menschen wilde Mutanten-Zombie-Mischlinge machen. Aber ist das eigentlich schlimm? Mitnichten. Weil The Last of Us weitaus mehr zu bieten hat. Weil es so klug ist, den Schwerpunkt nicht auf seine Geschichte zu legen, sondern sich intensiv mit seinen Charakteren auseinanderzusetzen. Weil es versteht, mir diesen Kampf ums Überleben glaubhaft zu vermitteln und darüber hinaus auch als Spiel funktioniert. Und weil ich ein unbeirrbarer Postapokalypse-Fan bin.
Fangen wir beim Offensichtlichen an: The Last of Us ist wunderschön. Die Entscheidung, die Menschheit durch einen Killerpilz auszulöschen, anstatt auf die gern genutzten Nuklearkatastrophen zu setzen, war eine clevere. So durchstreift man kein staubtrockenes Ödland, sondern ein Amerika, welches langsam aber stetig von der Natur zurückerobert wurde. Städte wie Lincoln oder Pittsburgh sind verlassen, zusammengestürzt und dienen der Flora fortan als gigantische Rankengitter.
In der Tat: Besonders die Außenareale wirken wie Postkartenmotive – “Schöne Grüße aus einer Zukunft ohne Menschen”. Zugleich schwingt bei den Panoramen immer auch eine erdrückende Melancholie mit. Alle Nase lang stolpert man über Spuren einstiger Bewohner – halb verzehrte Mahlzeiten auf Küchentischen, mit Postern tapezierte Zimmer von Teenagern. Von den Menschen, die Häuser und Städte einst mit Leben erfüllt haben, fehlt jede Spur. Verschluckt und vernichtet vom Killervirus. Und angesichts dieser beeindruckenden Kulisse keimt die unbehagliche Frage auf, ob diese Zukunft denn eigentlich so schlimm wäre.
Mit solchen Gedanken beschäftigt sich Protagonist Joel, seines Zeichens Schmuggler und Träger eines gar prächtigen Bartes, schon lange nicht mehr. Wie viele andere Charaktere hat er die Katastrophe selbst erlebt und muss seit zwanzig Jahren mit den Folgen zurechtkommen. Eine lange Zeit, in der sich die Gesellschaft grundlegend gewandelt hat. Unterscheidungen wie Schwarz und Weiß, Gut und Böse zählen längst nicht mehr. In einer Welt, wo sich der Wert eines Menschen an seiner Habe bemisst, ist man mit der Unterscheidung “Ich oder die Anderen” weitaus besser beraten.
Da passt es nur zu gut, dass Joel selbst auch keine weiße Weste hat. Schurken und Helden wird man in The Last of Us nicht begegnen. Nur Menschen, denen der Komfort der Zivilisation von einem Killerpilz geraubt und durch einen 24/7-Überlebenskampf ersetzt wurde. Eine allgemeine Verrohung und Entmenschlichung ist da nur logisch. Im Spiel selbst wird diesem Umstand auf vielerlei Weise Rechnung getragen.
So werden wir Zeuge der brutalen Unterdrückung in den letzten verbliebenen Quarantänezonen. Erleben mit, wie Banditen wegen einem Paar Schuhe Jagd auf Zivilisten machen. Überstehen selbst unzählige der brutalen, ja regelrecht animalischen Nahkämpfe. Und eben dann, wenn wir uns – Videospielsozialisation sei Dank – wie die größten Helden fühlen, reißt uns das Spiel vom hohen Ross und hält uns mehr als einmal den Spiegel vor. Mitgefühl ist ein Hirngespinst, im Extremfall wären wir uns ja doch immer selbst am nächsten. Wo ist sie denn nur geblieben, die ach so geschätzte Menschlichkeit?
Vielleicht ist die 14-jährige Ellie, ähnlich wie der Junge in Cormac McCarthys The Road ja so etwas wie der rettende Hoffnungsschimmer. Überhaupt scheint der Roman eine der größeren Inspirationsquellen für The Last of Us gewesen zu sein. Zu auffällig sind die Parallelen zwischen Spiel und Buch. Der ältere Mann mit einem Kind im Schlepptau, der Trip durch eine zerstörte Welt und vor allem die unaufgeregt-nüchterne Erzählweise. Gerade letzteres erschwert die Einordnung von The Last of Us.
Das liegt vor allem an Entwickler Naughty Dog und der ersten Assoziation, die dieser Name förmlich herausfordert: Uncharted. Dann dreht sich das Kopfkarussel weiter. Man denkt an Nathan Drake, an knallig inszenierte Action, Witz und leichte Hollywood-Kost im Stile von Indiana Jones. The Last of Us ist nichts davon. Es mag wie ein Triple-A-Blockbuster aussehen, doch fühlt es nicht wie einer an. Träge, geradezu entschleunigt geleiten wir Joel und Ellie durch die Endzeit. Joel ist nicht halb so agil wie ein Nathan Drake, kann nicht mal auf Knopfdruck springen. The Last of Us ist so ein krasser Gegenentwurf zur Achterbahnfahrt Uncharted, dass dieser Kurswechsel bei mir für großes Staunen einerseits und Bewunderung für Naughty Dog andererseits gesorgt hat.
Wie wichtig den Entwicklern eine ernsthafte und vor allem störungsfreie Inszenierung ihrer Geschichte ist, zeigt sich vor allem im Detail. Das Interface befindet sich etwa klein und kompakt in der unteren rechten Ecke, wird sogar nach kurzer Zeit automatisch ausgeblendet. Während meinem ersten Durchgang ist keine einzige Trophäe, von der am Ende einmal abgesehen, aufgeploppt. Man hat einfach auf typische “Töte 50 Gegner mit der Schrotflinte”- Trophäen verzichtet. Und das geht vollkommen in Ordnung, weil es ohenhin nicht zum Spiel passt und ich so zu keinem Zeitpunkt aus selbigem gerissen wurde.
Das wäre aber sowieso nur schwer möglich gewesen. Einmal mehr erweisen sich Naughty Dog als Meister der Inszenierung. Was hier, insbesondere in Zwischensequenzen, präsentiert wird – Dialoge, Mimik, Animationen bis hin zu Kameraschnitten – ist filmreif und kommt einem Interactive Movie näher als es David Cage mit seinen Spielen je könnte. Wohl auch weil The Last of Us als Spiel an sich funktioniert. Schön, einige Quick-Time-Events wie das Starten von Generatoren, hätte man sich auch schenken können. Aber derlei Unsinnigkeiten kommen glücklicherweise zu selten zum Einsatz, um wirklich zu stören.
Viel mehr überzeugt, wie der Überlebenskampf auf spielbarer Ebene in Szene gesetzt wurde. Endzeit ist immer auch Mangelzeit. Medizin, Munition, ja überhaupt Waffen sind purer Luxus und rar gesät. Ob gegen Infizierte oder Banditen: Die Ressourcen sind eigentlich immer knapp und reichen nie, um in bester Deckungs-Shooter-Manier durch die Level zu walzen. Stattdessen fluche ich mit Joel jeder Kugel hinterher, die einen Gegner verfehlt hat. Oder ich verlasse mich gar nicht erst auf das wackelige Fadenkreuz und schleiche direkt an den Feinden vorbei.
Wie Konfrontationen in The Last of Us ablaufen, hängt zudem stark davon ab, mit wem man es zu tun hat. Infizierte sorgen für beklemmende Survival-Horror-Momente, sind aber (ganz Zombie-Klischee) leicht unter Kontrolle zu bekommen, sofern man sich geschickt anstellt. Die eigentliche Gefahr geht von den menschlichen Widersachern aus. Von einigen kleineren KI-Macken mal abgesehen, machen die nämlich eine gute Figur, wenn sie versuchen Joel und Ellie in den Rücken zu fallen oder sie in die Enge zu treiben. Die Schusswechsel mit Banditen werden in Verbindung mit den knappen Ressourcen zu taktisch anspruchsvollen Scharmützeln, in denen man von Deckung zu Deckung hechtet oder dies nur antäuscht, um einen Gegner aus der Reserve zu locken. Unbeschreiblich ist das Gefühl, so ein Gefecht auf dem Zahnfleisch kriechend zu überleben.
Selten wurde das Leben in einer endzeitlichen Welt und was es aus den Menschen macht so eindringlich dargestellt, wie in The Last of Us. Ich spreche hier nicht mal von der heftigen Brutalität, die im Kontext des Spieles und der entworfenen Welt aber absolut Sinn ergibt. Nein, ich spreche vor allem vom intensiven Wechselspiel zwischen Joel und Ellie, dem gegenseitigen Hinterfragen von Motiven und Handlungen. Keiner der beiden ist ein lupenreines Abziehbild endzeitlicher Archetypen. Wie schon einleitend geschildert, ist es nicht die Story, die fesselt, sondern die Entwicklung der komplizierten Beziehung zwischen den beiden.
Zu Beginn hätte ich es selbst nicht für möglich gehalten, aber das Ende der eigentlich vorhersehbaren Geschichte hat mich dann doch überrascht. Und das, obwohl es bereits drei Uhr nachts und mein Kopf schon einigermaßen weich war. Hier schließt sich der Kreis zur eingangs erwähnten Dunklen Turm – Saga. Die habe ich nämlich vor Jahren in einer verblüffend ähnlichen Situation beendet: Wenn man eigentlich schon todmüde ist, aber das Gefühl, dass man gleich am Ende der Reise angelangt ist, einen am Schlafen hindert. Wenn man sich unruhig im Bett herumwälzt und dann doch, entgegen jeder Vernunft, nochmal das Buch aufschlägt oder wie hier: die Konsole anwirft.
Irgendwann rollten schließlich die Credits über den Bildschirm. Eine Stunde später lag ich immer noch wach. An Schlaf war nicht zu denken. Zu aufgewühlt war ich von diesem zutiefst menschlichen Ende, übte mich in Selbstreflexion und ließ vieles Revue passieren. Das war kein Ende, über das ich mich zwingend mit anderen austauschen möchte, wie es bei BioShock Infinite der Fall war. Dieses hier war viel zu still, viel zu persönlich. Irgendwann bin ich dann doch zur Ruhe gekommen. Draußen kündigte sich langsam der neue Morgen an. In dieser kurzen Nacht habe ich gut geschlafen. Nicht weil ich erschöpft war. Sondern weil ich der festen Überzeugung war (und bin), an etwas beeindruckendem teilgehabt zu haben. Auch die Welt der Videospiele hat sich ein kleines Stück weiterbewegt. Mit The Last of Us in die richtige Richtung.
5 Kommentare
Du sprichst wahrhaftig, Revolvermann :)
Mir geht es ja bei dem Ende so, dass ich da schon gerne mit anderen drüber schwaller. Aber ich weiß, was Du meinst. Wenn man eine Wahl am Ende hätte treffen können, würden die Gespräche darum auch noch etwas anders aussehen. So muss man es hinnehmen wie es ist, ob es einem nun gefällt oder nicht. Aber es ist gut, dass man keine Wahl hat (in diesem Fall zumindest).
Du sprichst wahrhaftig, Revolvermann :)
Danke-Sai :)
@Doreen
Stimmt schon. Dass die Story so linear verläuft geht (für mich) vollkommen in Ordnung. Du sprichst aber einen interessanten Punkt an: die Entscheidungsgewalt des Spielers. Mir geht der ganze Wahn um veränderbare Storyverläufe ja mittlerweile dezent auf den Keks.
Schon bei BioShock Infinite konnte ich nicht nachvollziehen, weshalb da teilweise bemängelt wurde, dass man keinen Einfluss auf’s Ende hatte. Ja, interaktives Medium und so, ich weiß, ABER: Wieso nicht einfach mal das akzeptieren, was sich die Storyschreiber ausgedacht haben?
The Last of Us zeigt mit seinem Ende ja ganz gut, dass so etwas nach wie vor funktionieren kann, weil gerade da jegliche Klischees umschifft werden und das Spiel auf einer überraschenden Note endet. Volker hat’s in seinem Text ja treffend auf den Punkt gebracht: Sämtliche Alternativen, wie die Geschichte auch hätte ausgehen können, wären reichlich billig gewesen.
Jau, und wie das mit alternativen Enden im schlimmsten Fall aussehen kann, hat man ja bei Mass Effect 3 gesehen. D’: