Es ist an der Zeit, dass der Wanderpokal für die debilste Charakterzeichnung in einem Videospiel den Besitzer wechselt. Stach damals in Far Cry 3 noch Jason Brody als bildungsfernes, plumpes und möchtegern-satirisches Abziehbild eines an der Welt uninteressierten US-Haudraufs aus der Masse der Helden mit gehemmter Intelligenz heraus, geht die Trophäe nun verdienter Maßen an Kyle Crane aus Dying Light. Herzlichen Glückwunsch! Kyle Crane ist nicht nur geistig kaum weniger minderbemittelt als Jason Brody, sondern schafft zusätzlich noch den vielleicht unwirklichsten Spagat der Spielegeschichte: Er ist zugleich ein kraftstrotzender, austrainierter Tausendsassa im Parcours-Gehüpfe und doch ein Konditionswrack sondergleichen, das nach zwei kleinen Hieben mit dem Heimwerker-Hammer erst mal ein gemütliches Päuschen braucht. Außerdem fällt er auf wirklich jede noch so billige Finte des Bösewichts rein, lässt sich mächtig vom Auftraggeber veräppeln und wurde noch schlechter als Alan Wake synchronisiert.
Und er ist ein Massenmörder, der seines Gleichen sucht. Wie so viele vorgebliche Helden in Videospielen ist Kyle Crane von einem menschlichen Gewissen befreit und köpft, ersticht, verbrennt und erschießt munter Zombie um Zombie und Mensch um Mensch, ohne sich großartig um seine Taten zu scheren. Das kennen wir natürlich alles schon aus x-tausend anderen Spielen, tragischer Weise, aber auch die virtuelle Mordlust ist eine Frage der Dosis und hier zeigt sich Techland wie gewohnt extrem grenzwertig. Gäbe es eine Karma-Schulnote für Videospiele, erhielte Dying Light eine glatte Sechs, was genauso verdient wie unnötig ist. Denn es hat durchaus seine großartigen Momente, vor allem dann, wenn man mit offenen Augen Walking Simulator spielen kann oder wie entfesselt über die Häuser springt – besonders in nackter Panik bei Nacht. Nur leider baut Techland einfach zu viel Mist, um Dying Light gut finden zu können und bedient sich unanständiger Methoden für den Adrenalinkick, die sich einfach nicht gehören. Und auch wenn ich nicht zartbesaitet bin, gibt es doch Grenzen und die überschritt schon ein anderes Spiel mit einem ähnlichen Foulspiel.
Dead Space 2 verzeihe ich bis heute nicht die blutige Passage im Kindergarten der Raumstation. Kleine Kinder, auch wenn sie sich in mutierte Monster verwandeln, gehören meiner Meinung nach – wenn überhaupt – nur dann in ein gewalthaltiges Spiel, wenn keine Interaktion möglich ist. Auch in Dying Light gibt es eine Schockeffekt-Szene in der Kampagne, in der Kyle Crane einem Zombiekind den Hals umdreht. Und bei dieser ekelhaften und an sich schon völlig überflüssigen Passage hätte es bleiben müssen. Aber: Entwickler Techland meinte aus den infizierten Kindern eine eigene Gegner-Klasse konstruieren zu müssen, die zwar nur selten auftaucht, aber trotzdem einen bleibenden Eindruck hinterlässt. Die Screamer. Im Umkreis von einigen Metern kostet ihr Schreien ordentlich Lebenspunkte und lockt andere Zombies an. Da der Schaden in unmittelbarer Nähe der Kinder besonders hoch ist, bleibt dem Spieler entweder die Möglichkeit, sie aus sicherer Entfernung zu erschießen oder sie ganz fix mit der oben beschriebenen Methode (nun, so wird es im Spiel bezeichnet) „zu beruhigen“.
Dying Light wurde letztens von der BPjM indiziert. Als großer Freund der Selbstbestimmung und des freien Denkens bin ich wahrlich kein Fan von Zensur in all seinen harten und milden Ausprägungen. Im konkreten Fall geht es nach der Indizierung erst einmal „nur“ darum, Jugendliche fern von Dying Light zu halten und Erwachsenen den Zugang zum Spiel zu erschweren. An diesem Punkt ringe ich zugegebener Maßen inhaltlich mit mir, denn Dying Light ist nun mal so gar nichts für Kinder. Zartere Seelen – und die gibt es tatsächlich und wer Kinder hat, weiß, dass sie wahrlich keine Ausnahmen sind – könnten durchaus an dem Schaden nehmen, was uns Techland in Dying Light an krankem Scheiß serviert. Das macht die Indizierungsgeschichte knifflig. Lieber wäre es mir gewesen, wenn Techland von sich aus auf so manche unschöne Passage verzichtet hätte.
Verantwortliche von Techland und dem Publisher Warner Bros. müssen irgendwann im Laufe der Entwicklung von Dying Light vertrauensvoll die Köpfe zusammengesteckt und die Risiken, Chancen und Alternativen von exzessiven Gewaltdarstellungen im Spiel diskutiert haben. Da wäre ich gerne dabei gewesen. Nun, irgendwie und mit welchen Argumenten auch immer (Kohle, ey?) müssen die werten Herrschaften dann zum Schluss gekommen sein, dass es viel besser ist in buntesten Bildern Arme, Beine und Köpfe vom Rumpf zu trennen und Zombiekindern Headshots zu verpassen als genau das eben nicht zuzulassen. Eine drohende Indizierung hätte durchaus eine (wenn auch unschöne) Anregung sein können, gewisse Passagen aus Dying Light selbstkritisch in Frage zu stellen, aber letztlich zeigte die Entwickler-Publisher-Kombo den fragwürdigen deutschen Gepflogenheiten den Finger und vertraut auf den Index-Hype sowie den Import als Bezugsquelle für den deutschen Markt.
Dabei habe ich eigentlich nicht so große Probleme mit expliziteren Szenen in Videospielen. Sniper Elite 3 war als Headshot-Porno recht nahe an der Grenze des für mich Zumutbaren, aber pauschal will ich mich gar nicht groß beklagen. In den ersten paar Stunden geht es in Dying Light zwar auch schon recht unappetitlich zu, aber die karge Bewaffnung mit einem Gasrohr oder Schraubenschlüssel sorgte noch für eine spezielle Spannung – besonders im Angesicht einer ordentlichen Übermacht an Zombies. Da bin ich doch gerne mit Kyle Crane mal geschickter und mal arg ungelenk über die Dächer gehüpft, um den Horden zu entkommen. Zu Beginn sind es noch die schlurfenden Klischee-Untoten, vor denen ich flüchtete und erst später kamen die Zombie-Experten ins Spiel, die der geneigte Freund vom trashig-seltsamen Dead Island noch kennt. Wie beispielsweise der säurespuckende Toad oder der Kamikaze-Untote namens Bomber. Bei ihnen und ihren liebreizenden Kollegen, wie etwa den riesigen und wild um sich schlagenden oder mit Steinbrocken werfenden Goon und Demolisher, hat der Spieler meistens die Wahl, ob er die Konfrontation sucht oder ihr ausweicht.
Die zweite Variante nutzte ich mehr und mehr in Dying Light. Die beiden Stadtteile Slums und Altstadt sind jeweils großartig als Parcour designt und neben den kleinen Kletterpassagen gefällt mir das rastlose „über die Dächer springen“ immer noch verdammt gut. „Mehr Hüpfen und weniger Hackmesser!“, würde ich beinahe als Parole ausgeben wollen und ebenso sehr noch die Fahne des Nachtmodus hochhalten, wenn Dying Light plötzlich zum Schleich- und Fluchtspiel wird, weil die Night Hunter als quasi unbesiegbarer Gegner sich an meine Fersen heften. Ja, das ist immerhin soweit wunderbar und könnte Dying Light dabei helfen, doch noch durchgewunken werden – wenn sich nicht der eigene Grips so unangenehm oft melden würde. Und das macht er mal jedes Mal, wenn Kyle Crane meint Konversation betreiben zu müssen. Aber nicht nur dann.
Denn Dying Light ist leider auch sonst an vielen Ecken und Enden strunzdoof. Nicht so frontal blöde wie Dead Island, sondern nicht gut bis ganz löchrig durchdacht. Es versucht uns zwar zu täuschen, indem es sich mit den außerordentlich gut gelungenen Panoramen und der fantastischen Weitsicht künstlerisch gibt, aber all die Logik- und Designfehler können mit den famosen Wandtapeten trotzdem nicht übertüncht werden. Fangen wir mit der Story an: Da kommt also ein auffallend sondereinheiten-mäßig trainierter Fremder in eine Stadt voller Misstrauen und Angst. Und was passiert? Die Guten vertrauen natürlich nicht die hochsensibelsten Aufträge einem der zahlreichen bis an die Zähne bewaffneten Mitglieder ihrer eigenen Gruppe an, sondern, wie zu befürchten ist, sofort und ohne Umschweife dem unbekannten Fremden. Herrje.
Und so stimmig geht es weiter. Warum noch mal sind die Dächer in der Altstadt gerade von den unsportlichen Zombies bevölkert, die gar nicht klettern können und aus welchem Grund ist Kyle so oft laut Meldung im Spiel „zu erschöpft“, um seinen Kletterhaken einen Meter in die Höhe zu werfen, kann dafür aber in der gleichen Passage äußerst gelenkig das komplette Hochhaus eigenhändig besteigen? Nun, das bleibt alles offen. Es gibt noch eine weitere Frage, die mich beschäftigte: In den niveauvollen verbalen Konfrontationen zwischen Kyle Crane und dem Bösewicht Rais Suleiman (du Arschloch hier, du Arschloch da) leuchtete es mir nicht ein, warum sich die beiden nicht miteinander anfreundeten. Beide sind notorische Lügner, nicht besonders helle und so gewaltbereit wie der apokalyptische Reiter. Buddys für´s Leben, eigentlich.
Aber, aber, denken sich nun die verständnisvollen Liebhaber der amourösen Zwischentöne und zeigen auf Kyle Crane und Jade, die holde Jungfrau aus Dying Light. Wenn da mal nicht die wunderbare Liebe ihre Finger im Spiel hat und aus einem beschränkten Ekelpaket mit halbguten Absichten einen weißen Ritter macht, der mit seiner Prinzessin hoch zu Roß der Abendsonne entgegen reitet? Würde das nicht alles ändern? Charakterentwicklung und so? Vielleicht. Letztlich weiß man aber nicht so genau, was zwischen Kyle und Jade abging, weil der Storytelling-Roboter von Techland mit romantischen Gedanken, Szenen, Worten, Gesten und Bildern so seine heftigen Probleme hat. Wollte Kyle sie überhaupt küssen? Oder direkt ohne Umschweife mit Jade in die Koje hüpfen? Sie heiraten? Oder doch eher marodierend und brandschatzend mit ihr durch die Gassen von Haram ziehen? So, wie Dying Light daher kommt, befürchte ich eher Letzteres. Und das ist natürlich kein gutes Zeichen, wenn der Pendel bei der Interpretation von Storylücken regelmäßig gegen das Spiel ausschlägt. Außer natürlich bei der Verleihung des Wanderpokals für Kyle Crane als dämlichsten Videospielcharakter, da bin ich ganz bei Techland und Dying Light.
5 Kommentare
DL ist ein grunddämliches Spiel. Soweit so gut und völlig richtig.
Zum Rest? Du spielst “Gewaltspiele”, willst davon aber offenbar nur minimalst belästigt werden. Im Grunde also USA im Krieg – immer schon von oben bomben denn dann sieht man weder Tote Kinder noch zerfetzte Leiber. MUSS es in einem Spiel sein? vermutlich muss es nicht. Aber wird der Virus vor Kindern halt machen? Wohl auch nicht.
Verwirrend mit dem doppelten Jens …
Also: Interessante Interpretation von dem, was ich angeblich will! Mit “belästigen” hat es wenig bis gar nichts zu tun, sondern viel mehr mit einer sinnhaften Balance. Und damit sieht es meiner Meinung nach ganz schlecht aus bei Dying Light. Sei es was die Quantität und Qualität der Gewaltszenen angeht wie deren Logik oder dem Anspruch. Auch ein Spiel mit ordentlich Schmackes, sozusagen, darf das gerne gut machen.
Den Teil mit den USA verstehe ich nicht so ganz. Kämpfen die USA jetzt schon mit Drohnen gegen Zombies? Ist eh aus meiner Sicht eine heikle Geschichte, Inhalte und Darstellungen aus frontalen Shootern etc. mit Ansichten und Vorkommnissen aus dem realen Leben gleichzusetzen.
Kyle Crane aus Dying Light ist einfach der coolste. Ich spiele ja Shooter meistens wegen der Charaktere, die treiben die Story voran und sorgen dafür, dass sich das rumballern lohnt. Die Love Story mit Jade hätten sie sich sparen können, aber naja, stören tut es mich dann auch nicht wirklich.