Erinnert sich noch jemand an die schwergewichtigen Möchtegern-Jan Ullrichs, die sich passend zur Tour de France-Zeit in arg enge Gelbe Trikots zwängten und die Landstraßen unsicher machten? Ist schon ein bisschen was her. Was war das für ein Hype! Das war in der Zeit, als in den Vorstädten, Schrebergärten und auf dem Land unzählige Ferrari-Flaggen gehisst wurden, wenn ein Formel 1-Rennen anstand. Alles wegen Schumi. Und jetzt? Niemanden juckt mehr die Tour de France und auch die Formel 1 verabschiedete sich ein Stückweit aus dem Mainstream. Das gilt übrigens ebenso für die Welt der Videospiele, wobei hier weniger die Karriere-Enden von Ulle und Schumi eine Rolle spielen, sondern eher ein generelles Desinteresse an der Sportart (Radfahren) und fehlende Leidenschaft an der Formel 1-Lizenz seitens des Entwicklers Codemasters.
Lang und breit könnte ich jetzt all die schlimmen Formel 1-Patzer der letzten Jahre aufzählen, die sich Codemasters leistete – lasse es aber sein, weil die britischen Entwickler mit F1 2016 annähernd alles richtig machen. Wen interessiert dann noch der Käse von vorgestern? Jedenfalls: Solch einen positiven Turnaround gibt es in der Regel selten zu bestaunen und bemerkenswerter Weise gelingt Codemasters die Wende zum Guten innerhalb kurzer Zeit zum zweiten Mal, denn schon Dirt Rally ist außergewöhnlich gut gelungen. Bei F1 2016 setzen die Briten aber noch einen drauf: Nicht einmal die Präsentation der Rennserie wird versemmelt – was beinahe zu schön ist um wahr zu sein. Denn wenn man sich auf eines verlassen konnte, dann darauf, das Codemasters die “coolen” Events bei seinen Rallyspielen gnadenlos übertrieben darstellt und derweil die Formel 1 als bräsiges Altherren-Festival völlig verhaut. Und jetzt? Finden die Briten den perfekten Mittelweg aus Formel 1-Spektakel und seriösem Rennsport.
Während Dirt Rally als spartanisch aufbereitetes Spiel mit Simulationsanleihen maßgeschneidert auf die gar nicht mal so kleine Nische zielt, wurde F1 2016 für die breite Masse entwickelt. Was nicht bedeutet, dass es ein Casual-Racer ist. Das Setup ist beispielsweise in jedem Modus relativ simpel und verständlich aufgebaut – weswegen ein Ingenieurstudium nicht zwingend erforderlich ist. Trotzdem sind nach ein wenig Übung die feinen Unterschiede im Setup inklusive der Reifenwahl zu spüren, was den Trainingseinheiten im Karrieremodus einen echten Sinn gibt.
Es ist nicht nur schön, dass es überhaupt wieder eine Karriere in F1 2016 gibt, sondern sogar eine, die durchweg gelungen ist. Ich spiele gerne die vollen drei Trainingseinheiten mit kurzen Qualifying und einem 5-Runden-Rennen – was ein Rennwochenende zwar einerseits in die Länge zieht, aber andererseits ausreichend Raum lässt, um im Rennen mit exakt den Einstellungen zu fahren, die ich haben will. Das muss man sich geduldig erarbeiten und dazu passen dann auch die verschiedenen Trainingsaufgaben wie z.B. das Streckenerkunden, der Reifentest und die Qualifiying-Simulation. Und man wird für diese Sorgfalt sogar vom Spiel belohnt, denn wer besonders viel tüftelt und ausprobiert, erhält dementsprechend mehr Punkte, die in Upgrades des Autos investiert werden können. Diese kleine Innovation in F1 2016 gefällt mir gut; sie ist sinnvoll und nachvollziehbar konstruiert.
In den Rennen gegen die KI erlaubt sich F1 2016 weder einen Gummibandeffekt noch fahren die Gegner unrealistischer Weise wie die Perlen an der Schnur aufgereiht, wie wir es von Gran Turismo kennen. Selbstverständlich unterscheiden sich Multiplayer-Events auf der Piste deutlich von den Rennen im Karrieremodus, aber annähernd realistisch wirkt das Geschehen schon, auch weil die KI gerne mal gegen KI-Kollegen die Ellbogen ausfährt. Ein altes F1-Problem besteht aber weiterhin, zumindest aus meiner Perspektive: Im leichten und mittleren Modus sind die Rennen recht einfach zu gewinnen, im schweren Modus wird es aber unvermittelt knifflig. Das mag am unausgegorenen Balancing liegen oder doch nur an meinen Fähigkeiten, letztlich ist es nur ein persönlicher Eindruck.
Eingängig ist ebenso der Multiplayer konstruiert: Es gibt den Anfängermodus, die Sprint- sowie Langstreckenrennen und die Möglichkeit ganz frei Sessions zu gestalten. Was allen Modi gleich ist und mich förmlich überrumpelte: In den Lobbys geht es äußerst zivilisiert zu, was ungewöhnlich ist. Schon alleine, weil man dort viel Zeit zwischen den Events (und unmittelbar vor den Rennen) verbringt und in der Zwischenzeit all die Nationalflaggen der einzelnen Spieler doch so wunderbar nationalistisch-rassistische Vorurteile ans Tageslicht bringen könnten. Bisher kannte ich es aus annähernd allen Racer-Mehrspielern mit Voice-Chat und exzessiv-erzwungenem Lobby-Rumgelungere, dass es umso unschöner wurde, desto kürzer die Rennen waren. Diese Tradition scheint ein Ende gefunden zu haben – zumindest in meinen Sessions – und das ist nur zu begrüßen.
Vielleicht liegt es an den Einstellungen der Modi? Dann wäre Codemasters äußerst clever vorgegangen: Im Anfängermodus über lediglich drei Runden sind keine Kollisionen möglich, da alle Mitspieler als Ghosts unterwegs sind. Das gefällt mir sehr gut, weil die standesüblichen Kollisionen und Unfälle mit Aggro-Kollegen und Neulingen auf dieser kurzen Distanz kaum zu kompensieren sind. Gleichzeitig sind fehlende Zusammenstöße natürlich ein Anreiz weniger für den Proll von Welt, der anderen gerne die Kiste platt fährt. Möglich ist das allerdings im Sprintrennen, das über eine Distanz von fünf Runden geht.
Dementsprechend sind die Sprintrennen die kernigen Veranstaltungen. Der Assi-Faktor auf der Piste ist aber erträglich – natürlich gibt es die Idioten, die einem anscheinend grundlos in die Karre heizen oder grundsätzlich meinen, dass gekonntes Überholen nur ein Fall für Weicheier ist. Aber es hält sich in Grenzen. Niveauvoll bis annähernd kumpelhaft geht es in den Langstreckenrennen mit Qualifying und 25%-Rennen zu. Hier tummeln sich die Liebhaber des Sports und da geht man nett miteinander um. Schließlich wird in diesem Modus ordentlich Zeit verbrannt und wer das macht, hat dafür einen triftigen Grund: Den Spaß am Rennfahren und nicht an der prolligen Rempelei. Das einzige Problem: Die extrem langen Wartezeiten in der Lobby, wenn man gerade einsteigt und auf die Beendigung des laufenden Events warten muss.
Die Lebenszeit, die der F1-Liebhaber bzw. die F1-Liebhaberin in das Spiel investiert (wobei im Voice-Chat bislang nur Männer unterwegs waren) lohnt sich jedenfalls. Bei mir entwickelte sich aus einem mittelschweren Interesse an F1 2016, das vor allem aus der Tradition der Rennserie stammt, eine ganz große Freude am Spiel. Es ist halt außerordentlich gut gelungen. Von den Modi im Multiplayer über die Karriere bis zu den Gedönsgeschichten wie Zeitfahren etc., liefert F1 2016 für jedes Zeitbudget das richtige Angebot. Und auch ein schönes Maß an Dramatik. Wer im Langstreckenrennen um den Sieg mitfährt, erlebt einen Nervenkitzel, wie ihn nur wenige Videospiele über solch einen langen Zeitraum in dieser Intensität liefern kann.
3 Kommentare
Ich habe eine Theorie, warum die Online-Mitspieler viel angenehmer sind als in den meisten anderen Online-Games: Das liegt vermutlich an der Klientel des Spiels.
F1 spielen vielleicht weniger 15jährige Rotzbengel aus dem Plattenbau, dafür mehr 35jährige Bauingenieure…
Da mag was dran sein, aber es war ja nicht immer so zivilisiert.
Vielleicht macht deine Theorie mit einer anderen in der Kombi noch mehr Sinn: es ist das erste Formel 1-Spiel seit langer Zeit, dass ich auf dem PC und nicht der PlayStation spiele.
F1 spielen dann vermutlich am PC die 35jährigen Bauingenieure und auf der PS 4 die Rotzlöffel aller Altersgruppen. ;-)