Für jemanden, der das grundsätzliche Spielsystem von Fighting Games, ach, lasst es mich weiter fassen, das Wesen von kompetitiven Spielen an sich eigentlich gar nicht mag, habe ich eine ganze Menge von Fighting Games gespielt. Alle natürlich im Singleplayer, wobei mein bester Freund, der seit Street Fighter 4 absolut vernarrt in die Reihe ist, sein möglichstes tut, mich immer und immer wieder zu bekehren. Bisher war das eher weniger von Erfolg gekrönt, aber ich habe so manchen Storymodus genossen, auch wenn ich dafür lästigerweise Eins-gegen-Eins in 2D zwei von drei Runden gewinnen musste. Injustice 2, klar, die beiden Persona-Fighting-Games vom Blazblue-Team, musste ja, sogar eines der frühen Blazblues und natürlich einen der neueren Mortal-Kombat-Titel habe ich mir gegeben. Allen davon ist gemein, dass die eigentlichen Kämpfe hier der Narration streng genommen im Weg stehen. Cutscenes erzählen mir hier die Geschichte ausgesprochen statisch, zwischendurch muss ich jemandem auf die Fresse hauen, und das Spiel geht so lange nicht weiter, bis ich gewinne – Die Kämpfe sind Roadblocks auf dem Weg zur Erzählung, für die ich eigentlich da bin. Deswegen stehe ich sie durch, genießen kann ich sie meist nicht wirklich, denn es sind immerhin Kampfspiele, auch in ihrer üblichen, seit Arcade-Zeiten angeerbten Struktur: Tutorials gibt es kaum, wer wirklich was können will, muss langwierige und langweilige Trainingsmodi durchstehen, und die Singleplayer-Storys umgehen das nicht durch gute Tutorialisierung, sondern durch einen einfachen Modus, bei dem Tasten hämmern reicht. Es hat schon seinen Grund, warum ich mich als absoluten Fighting-Game-Noob bezeichnen würde, obwohl ich streng genommen seit einem guten Jahrzehnt relativ regelmäßig selbige spiele. Die Einzelspielermodi dieser Titel hatten einfach nie etwas mit dem für viele Leute eigentlichen Spiel, dem kompetitiven Multiplayermodus, dem Lernen und Besserwerden, zu tun.
Wie gesagt, bisher kam mir das okay vor, ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen, dass es anders sein könnte.
Und dann kam Street Fighter 6. Und neben den typischen Arcade-Modi hatte es die “World Tour” im Gepäck. Einen Singleplayer-Modus in einer offenen Welt, mit eigener Geschichte rund um einen selbst zusammengebauten Avatar. Und ich sag das jetzt einfach mal so und erkläre mich später: World Tour ist der beste Fighting-Game-Singleplayer, den es jemals gab. Und es ist eine Frechheit, dass es so lange gedauert hat, bis jemand diese wunderbare Kombination aus spielerischer Freiheit, Geschichte und Lernmotivation überhaupt wenigstens versucht hat.
In World Tour baue ich mir wie erwähnt einen eigenen Charakter zusammen – das dürfte vielen schonmal helfen, sich mehr mit dem Spiel zu identifizieren. Der Editor ist potent, man kann diverse hübsche, coole, witzige oder einfach bescheuerte Figuren bauen, deren Proportionen sogar die Hitboxen im Kampf ändern. Nicht übel. Anschließend werde ich als Rookie in die Welt von Metro City geworfen: Eigentlich der Schauplatz des 2D-Brawlers Final Fight, für Street Fighter 6 aber als schicke dreidimensionale, quirlige Version von New York realisiert. Nachdem ich das Tutorial beim ersten ‘richtigen’ Street–Fighter-Charakter, einem Boxer namens Luke, durchlaufen habe, werde ich auf die Stadt losgelassen, und kann ab da fast jeden NPC auf der Straße zu einem Kampf herausfordern. Und das hätte es dann auch schon gewesen sein können, denn damit hätte SF6 sein Soll doch eigentlich erfüllt. Singleplayermodus, bisschen rumlaufen, mit Leuten kämpfen können. Passt.
So viel besser, als es sein müsste
Doch stattdessen schickt mich World Tour mit einer Story nicht nur durch die Stadt, sondern an diverse kleinere Schauplätze auf der ganzen Welt, wo ich weitere Master kennenlerne – SF-Klassiker wie Chun-Li, Zangief, Ryu und Co – die mir jeweils ihren Kampfstil beibringen und die alle sowohl ein eigenes Level-Up-System als auch eine Social-Link-Leiste a la Persona mitbringen. Meine Hauptfigur kann ich jederzeit den Kampfstil wechseln lassen und dazu Special Moves aller mir bekannten Fighter kombinieren, wodurch ich jeweils die Ränge der jeweiligen Master und ihre Zuneigung zu mir steigere. Das führt zu neuen Moves, freigeschalteten Artworks und Spezialattacken. Und es hat den wertvollen Nebeneffekt, dass ich kreativ herumprobiere und ohne es zu merken den Umgang mit unterschiedlichen Street-Fighter-Charakteren übe. Dazu gibt es überall in der Welt etwas zu entdecken, denn ich kann auf diverse Dächer klettern, Kisten zerschlagen, Gangster in mehr an Beat-em-Ups als an Fighting Games erinnernde Gruppenkämpfe umhauen und vieles mehr. Und während meine Figur so Stück für Stück auflevelt – denn World Tour ist ein waschechtes RPG mit Skillsystemen und Ausrüstung – kann ich sogar Gegner umlegen, denen ich eigentlich noch nicht gewachsen bin, denn wie in jedem guten japanischen RPG gibt es nicht nur Items, die ich im Kampf einsetzen kann, um mich zu heilen oder zu buffen, sondern auch jede Menge Essen, das ich zwischen Fights kaufen kann, um mir zusätzliche Boni zu holen.
Ein Genre lernen, ohne es zu merken
Am Ende der World-Tour-Story, die mich etwa 20 Stunden beschäftigt hat, hatte meine Figur nicht nur gute vierhundert Kämpfe unter dem Gürtel. Ich hatte auch in diversen Nebenquests, die eigentlich Tutorials mit Belohnung sind, gelernt, wie man blockt, pariert, Supermoves verstärkt, die verbrauchbare Drive-Ressource im Kampf clever nutzt, Gegner wirft, sie in der Luft juggled, und, und, und. Und ich hatte plötzlich Favoriten unter dem eigentlichen SF-Roster: So lange hatte ich mit Chun-Lis Moveset gespielt, dass ich plötzlich ihre Moves auswendig konnte, und auch in gelegentlichen Onlinematches mit ihr auch mal einen Sieg mitnahm. Ähnliches mit Manon, einem neuen Charakter in Street Fighter 6, die Judowürfe mit Ballett verbindet. Alles total überdreht, aber genau deswegen auch so toll – weil World Tour auch jeden Charakter mit mindestens einer Cutscene, meistens noch einer Trainingsmontage, als absolut nicht ernst zu nehmenden, liebenswerten Trottel vorstellt. Meine selbstgebaute, selbst trainierte und auf meine Bedürfnisse geskillte Spielfigur versauert auch nicht in einem nie mehr angerührten Spielstand, denn im Online-Modus von Street Fighter 6, dem Battle Hub, kann ich sie ebenfalls nutzen. Nicht nur um herumzulaufen, zu sozialisieren und Minigames zu spielen, sondern in Kämpfen gegen andere Avatare. Das ist herrlich zwanglos, den meine Level-57-Figur kann dort auch Level-3-Rookies zu Brei kloppen – oder eben von Level-82-Titanen eins aufs Maul bekommen.
Modern – und gut so!
Nun, sagen Skeptiker des Genres, wenn sie es überhaupt bis hierher geschafft haben, aber das hilft doch alles nichts, weil es ist immer noch Street Fighter??? Hadouken-Bögen mit dem Stick eingebend und sechs Angriffstasten in mieser Positionierung drückend ein RPG spielen kann doch keinen Spaß machen? Das ist richtig, und auch daran hat Capcom gedacht. Denn das Schlusswort hier gebührt meiner liebsten Änderung im Spiel: Die Modern Controls. Statt der komplizierten SF-Standardsteuerung, bei der sich drei Schlag- und drei Kick-Tasten über alle Facebuttons und die rechten Schultertasten verteilen, schmilzt die moderne Steuerung die Attacken auf drei Tasten herunter: Quadrat, Kreuz, Kreis sind jeweils leichte, mittlere, schwere Angriffe, deren genaue Ausführung ich dadurch bestimme, in welche Richtung ich währenddessen das Steuerkreuz bewege. Auf Dreieck wiederum liegen die Spezialattacken, die ich bei klassischer Steuerung mit besagten Bögen kompliziert einspielen muss – nicht umsonst verbringen entschlossene SF-Fans dutzende Stunden in Trainingsräumen und geben ordentlich Kohle für Arcade Sticks aus. Und ich? Ich halte eine von vier verschiedenen Richtungen und drücke Dreieck. Geil. Wie bei Smash, oder in einem Charakter Action Game. Klar, diese Modern Controls kommen mit Nachteilen, also angeblichen. Alle Moves, die ich so auslöse, sind 20 Prozent schwächer als mit klassischer Steuerung, um auszugleichen, dass ich sie jederzeit fehlerlos nutzen kann. Außerdem gehen mir einige normale Angriffe verloren, da ich eben keine sechs, sondern nur noch drei Tasten zur Verfügung habe. Das ist im Singleplayer egal, und auch im Multiplayer kann man mit Modern Controls einiges reißen. Sogar in den Profi-Spaces finden sich aktuell einige neue Shooting Stars, die das Spiel so spielen und damit Veteranen den Hintern aufreißen. Da komme ich nie hin – aber allein, dass ich mich nun traue, online zu gehen, dass ich zwei, drei Charaktere gut genug kenne, um tatsächlich auch mal zu gewinnen, und dass Capcom so herzlich wenig auf Hardcore-Gaming-Legacy gibt und stattdessen einfach ehrlich darüber nachgedacht hat, wie mehr Leute mehr Arten von Spaß mit Street Fighter 6 haben können, das ist eine richtig geile Sache. Ich würde mich jetzt als Fan bezeichnen – und ich habe gerade Street Fighter aufgrund seiner für mich abgrundtief nervigen Steuerung bis vor kurzen noch keines Blicks gewürdigt. Chapeau, Capcom – ihr tut damit nicht nur eurer Reihe, sondern den gesamten Genre einen riesigen Gefallen.
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