Seit DONTNOD im Juni diesen Jahres Vampyr veröffentlicht haben, ist über das Spiel als reines Unterhaltungsprodukt längst alles gesagt worden: Ein frustrierend ungenaues Kampfsystem fügt sich nicht zusammen mit einem ausführlichen Dialogsystem mit tollen Figuren. Aber blendet man die Nützlichkeit von Protagonist Jonathan Reids Dilemma, zu saugen oder zu darben, für das Spiel aus, findet man darunter eine viel interessantere Ebene moralisch komplexer Notsituationen.
Vampyr befasst sich vom Standpunkt eines vermeintlich Aussätzigen mit den Konflikten der Londoner Gesellschaft. Die offensichtliche Krise der Spanischen Grippe, die in den Slums der Hauptstadt ausgebrochen ist, dient dabei gerade einmal aus Aufhänger. Und auch die übernatürlichen Bewohner der Nacht, höhere Vampire wie Jonathan Reid selbst oder die zombieartigen Skals, sind bei weitem nicht die einzigen Verstoßenen der Londoner Gesellschaft.
Migranten gegen Autochthone
Das erste Kapitel des Spiels konzentriert sich auf eine Enklave rumänischer Auswanderer in Whitechapel, die vor dem blutigen Bürgerkrieg ihrer Heimat gegen die austro-ungarische Besatzungsmacht ins Rettung versprechende Vereinigte Königreich geflohen sind. Dort stießen sie jedoch nur auf Misstrauen und Hass ihrer vermeintlich staatsfeindlichen kommunistischen Einstellung gegenüber. Vampyr zeigt mehr als eine Verarbeitungsstrategie der Verfolgten und wirft Jonathan Reid dabei auch gerne zwischen die Fronten. Einige der rumänischen Geflüchteten nehmen die ihnen gegenüber geäußerten Vorurteile an und organisieren sich in kommunistischen Straßenbanden, um aus Whitechapel heraus Politik zu machen. Einige andere ziehen sich zurück und lassen sich ghettoisieren, um sich wenigstens gegenseitig helfen zu können.
Wissenschaft gegen Religion
Als Vampir kann Reid weder Kirchen betreten noch Kreuze sehen, ohne Schmerzen zu erleiden. Im Spiel machen sich Gegner diesen Umstand zunutze, um ihn mit der Macht von Kruzifixen auf Abstand zu halten. Im Gespräch mit anderen Vampiren findet Reid jedoch relativ zügig heraus, dass nicht alle Vampire mit Kreuzen vertrieben werden können. Er selbst, schon zu Lebzeiten Kritiker der Kirche, gehört zu dem am stärksten betroffenen Exemplaren. Ähnliches trifft auch auf ein anderes Vampirklischee, den Knoblauch, zu. In diversen sammelbaren Berichten wird von der Unwirksamkeit des Gemüses berichtet und auch Reid geht unbeirrt unter Knoblauchzöpfen hindurch. Das Tagebuch eines im späteren Verlauf des Spiels wichtigen uralten Vampirs wird jedoch von brennenden Schmerzen bei der Einnahme von Knoblauchöl berichtet. Reid kombiniert erfolgreich, dass Vampire nicht die mythische Kraft von Knoblauch schmerzt, sondern dessen antibakterielle Wirkung, und ersetzt die Zutat Knoblauchöl in einem Rezept folgerichtig durch Insulin. Vampyr widerspricht der Einordnung von Vampiren in feste, stereotypische Kategorien, indem es eine Naturwissenschaft des Übernatürlichen schafft. Obwohl Reid es im Spiel mit drei Gattungen an Vampiren zu tun bekommt – den hohen Ekon, zu denen er selbst gehört, den brutalen, geistlosen Vulkod, und den verfaulenden Skals – und seine Urteile zunächst basierend auf dieser Kategorisierung trifft, wird dieser wissenschaftliche Eifer, zu katalogisieren und festzulegen, jedoch immer wieder torpediert. Obwohl das Übernatürliche in Vampyr sich auf den ersten Blick nicht den Naturgesetzen zu beugen scheint, gelingt es Reid immer wieder, den Vampirismus in sein naturwissenschaftlich geprägtes Weltbild einzuordnen. So stellt er beispielsweise fest, dass die Blutlinien von Vampiren Mendels genetischen Gesetzmäßigkeiten unterliegen, dass Fähigkeiten also auf gewisse Arten vom Beißenden zum Gebissenen vererbt werden. Und auch jene Transformation vom Mensch zum Vampir kann er mit den neu entdeckten medizinischen Mitteln der Bluttransfusion weniger schmerzhaft gestalten. In mancher Hinsicht gleicht der Vampirismus von Vampyr durchaus einer Pandemie, und tatsächlich gelingt es Reid nur durch seine rationale Art, sie am Ende des Spiels auch einzudämmen. Dass sich mehrere Aberglauben seiner Kontrahenten und Mitstreiter, etwa die Legende von St. Georg dem Drachentöter und die Artussage, als potente Mittel im Kampf sowohl gegen Reid selbst auch auch gegen die Spanische Grippe erweist, ist Angelpunkt des letzten Drittels des Spiels. Der Konflikt zwischen Aberglaube und wissenschaftlicher Logik ist die Hauptthematik von Vampyr. Das Spiel eröffnet sie immer wieder über die ethischen Fragen, die Reid von Kapitel zu Kapitel gestellt werden. Wie viel blinder Gehorsam lässt sich mit Spiritualität rechtfertigen, und ab welchem Punkt wird die Akzeptanz des Übernatürlichen in die Medizin zum ethischen Debakel? Alle Probleme in Vampyr’s London entstammen Situationen, in denen sich eine einflussreiche Figur eben diese Frage nicht gestellt hat.
Frauen gegen Männer
Im frühen 20. Jahrhundert haben es Frauen auch im London von Vampyr nicht leicht. Schon zu Beginn des Spiels wird Reid mit reichlich Sexismus gegen Frauen konfrontiert, den er als Mann natürlich nur von der Seite mitbekommt. So sind die Krankenschwestern des Pembroke zu großen Teilen verglichen mit ihren männlichen Vorgesetzten die besseren Mediziner. Einer der Ärzte, Dr. Tippets, erkennt dies auch an, und gesteht Reid, dass die Oberschwester Brannagan eine feine Doktorin abgäbe, wäre sie ein Mann. Reid kann an dieser Ungleichberechtigung nichts verbessern, er hat jedoch ganz im Gegenteil die Möglichkeit, eine der Schwestern um ihre Stelle zu bringen, wenn er herausfindet, dass sie eine Beziehung mit dem dunkelhäutigen Krankenwagenfahrer hat. Den Krankenwagenfahrer selbst kostet das im Übrigen nicht den Job.
Auch sonst bekleckert sich Jonathan Reid nicht gerade mit Ruhm, was Gleichberechtigung angeht. Nicht, weil er aktiv etwas gegen Frauenrechte unternimmt, sondern weil er durch und durch neutral zu bleiben versucht. Er bezeichnet sich zwar als Unterstützer beispielsweise des Frauenwahlrechts, tut aber rein gar nichts dafür. Im Gespräch mit Charlotte Ashbury, einer Demonstrantin, die mitten in der Nacht Poster verteilt, wird Reid schließlich mit seiner Tatenlosigkeit konfrontiert. Er versichert zwar, auf der Seite der demonstrierenden Frauen zu stehen, kann aber nicht mehr als Argument vorweisen als die Tatsache, sie ja nicht bei ihrem Vorhaben zu behindern. Währenddessen tritt der bildungsbürgerliche Vampir im Verlauf der Story allerdings in den sogenannten Ascalon Club ein, eine Vereinigung ausschließlich männlicher, hauptsächlich vampirischer Aristokraten, die die Geschicke Londons lenken wollen. Dabei bleiben sowohl Arme als auch Frauen auf der Strecke. Elizabeth Ashbury, Reids vampirische Freundin und rein zufällig Charlottes Adoptivmutter, wird lediglich vorübergehend in den Club eingeladen, um die Erfolge ihres Liierten zu feiern.
Arm gegen Reich
Die Klassenkämpfe der armen Londoner untereinander werden recht früh im Spiel ausgehandelt, wenn Reid die Docks besucht und sich dort zwischen die Fronten zweier Banden begeben muss. Dass der eigentliche Feind des englischen Arbeiters wie so oft sein Vorgesetzter ist, thematisiert Vampyr hingegen erst im letzten spielbaren Gebiet, dem West End. Der dortige Stützpfeiler der Gesellschaft, Multimillionär Aloysius Dawson, möchte das West End mit einer Mauer von Whitechapel und den anderen, ärmeren Distrikten Londons trennen. Die Spanische Grippe soll in den Armenghettos aussterben und die reicheren Einwohner damit verschonen. Leider ist Dawson sterbenskrank und möchte sich von Reid auf Geheiß des Ascalon Clubs unsterblich machen lassen. Da dessen eigene Mutter Einwohner des West Ends ist, hat Reid durchaus ein persönliches Interesse am Schutz des Villenviertels. Gleichzeitig fungieren die gerechtigkeitssuchenden Ashburys, Jonathan Reids vampirische Freundin Elizabeth und deren Ziehtochter Charlotte, allerdings als soziales Gewissen. Dass hier die sonst im Spiel so konsequent gehaltene Trennung, mit Ausnahme von Jonathan und Elizabeth selbst, von guten Menschen und bösen Vampiren plötzlich in den Belangen der sozialen Gerechtigkeit aufgebrochen wird, fällt auf.
Ein weiteres Merkmal des letzten Akts von Vampyr ist die Offenbarung, dass die obere Londoner Klasse durchaus mit der Existenz von Vampiren vertraut ist. Ein bedeutender Teil der Aristokratie ist gar selbst unsterblich. Im West End wird Reid etwa mit wissenschaftlicher Neugier von einer Lady gefragt, ob Vampire denn noch Sex haben können, wo doch die Erektion vom Blutfluss abhängt. Offiziere, die im Weltkrieg mit mordenden Blutsaugern konfrontiert waren, organisieren hier Widerstände gegen die vermeintlichen Monster. Mehr aus Zufall und religiösem Eifer stoßen mehrere Charaktere im West End auf den Zusammenhang zwischen der Seuche und dem Vampirismus, einem Zusammenhang, den Reid über den Verlauf des Spiels mühsam erforscht und aufdeckt. Die Schlüsse, die Menschen wie Aloysius Dawson aus diesem Zusammenhang ziehen, sind natürlich andere als die des (im besten Falle der Spielerentscheidung) ethisch agierenden Arztes. Dass Reid aber auch hier wieder die Möglichkeit hat, das Schicksal einer riesigen Menschengruppe zu besiegeln, ohne selbst betroffen zu sein, reiht sich nahtlos in die anderen entscheidenden Momente des Spiels ein.
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