Die Freude über ein digitales Massengrab treibt mich in den wohligen Wahnsinn. Ich kann mir nicht helfen, also lasse ich es zu: The Division, mal wieder. Immer wieder. Seit fünf Jahren. Todsünden finde ich dort mehr als Spielspaß, und doch – dochdochdoch, Spieldauer: hunderte Stunden. Hunderte Stunden in einem Spiel, das Qualität wispert wie durch ein besoffenes Megafon inmitten einer Panikattacke. Und ich, ich stolpere zurück ins Spiel. Mit einer Aufgabe, die dutzende Gigabyte Speicherplatz einnimmt und mir die Nerven raubt, weil das Spiel mich verzweifeln lässt. Fotografieren will ich, nur diesmal ohne Fotomodus, ohne Hilfen, Ab- und Aufblenden, dafür mit neuer Spielfigur. Habe ich das New York von The Division vielleicht nur verkannt?
Fuck, no.
The Division ist auch viele Jahre nach Release kein guter, wenn überhaupt: ein maßlos frecher Shooter. Er bietet keine Abwechslung im sogenannten Gameplay, und dass Schießen so verdammt nach Scheißen klingt, hat seinen Ursprung vermutlich in diesem Spiel. Aus den Gedanken eines amerikanischen „Patrioten“ namens Tom Clancy marktforschte Ubisoft die faschistische Scheiße heraus und erigiert militärische Diktaturen bis zum neuesten Videospiel anno 2016, das neonfarbene Schrotflinten lusttropft und vor, während, nach der Selbstjustiz die nächste Erweiterung frohlockend hinter Bezahlschranken versteckt. In den Accounts der Spielenden hängt The Division wie die US-Flagge an der Haustür im Vorort der Vereinigten Staaten.
Für den englischen Ausdruck „it comforts me“ findet sich indes keine passende Übersetzung, weil The Division mich nicht beruhigt, tröstet oder entspannt, es ohrfeigt mich säuselnd, zwinkert mir giftig zu und bodyslamt dann mein Verständnis von, naja, allem. Bis zu dem einen Moment. Er kommt immer wieder – und ich, Entschuldigung, dann auch.
Ein Gefühl namens Ekstase nimmt eine Schlaftablette und tunkt sie vorher in Redbull-Cola und wimmert leise: The Division, The Division, The Division, bis die Großbuchstaben übernehmen und der Bass des Ballerns das Trommelfell bajonettiert. Durch New York schlendere ich mit einem Lächeln, das nicht mehr knarzt, sondern heilt. Alle Wunden. Einfach so. Musik bleibt aus, Missionen, Fortschritt, Level-Ups, Mikrodrecksaktionen, so ungeheuer ehrlich warten all die abgefuckten Systeme auf mich, so sicher wie der Tod. Um möglichst viel von New York zu sehen, muss ich immer wieder sterben, mich jener Gewissheit obenrum frei machen, damit sie mir die Luft aus den Lungen drischt.
Und dann – Luft, sie jagt den Körper hinab bis in die Fußspitzen und hält den Platz frei für das, was danach kommt: Freiheit. Eine Mission gespielt, erzwungen, damit ich genießen kann. Für den Moment. Für 60 Minuten. Genug für das neue Gebiet. Einen Fotomodus hat The Division nicht, geplant war einer durch das Nvidia-Tool Ansel, doch nie final veröffentlicht und für einige Zeit zumindest grob mit einem Workaround verfügbar. Einstellungen wie Kontrast, Tiefenschärfe oder Vignette führten zu hübscheren Bildern, aber Kamera und Interface klebten stur an den Schultern meiner Figur. „Verbotene“ Tools ermöglichen Aufnahmen von unmöglicher Schönheit, führen aber auch zu Account-Banns. Am Rande der Legalität die Modifikationen in die Ordner steuerung-V-en, im Schatten einer fiktiven faschistischen Geheimorganisation wandeln und ein JPEG knipsen, während die E-Mail von Ubisoft mir die Löschung meines Accounts mitteilt – danke, aber nein, danke.
Also reduziere ich das Interface. Öffne Photoshop. Und schneide. Weil ich nicht anders kann und auch nicht will. Es ist gut so. Fotomodi anderer Spiele zwingen mich beinahe zur unendlichen Komposition, ein Pixel nach rechts mit der Kamera rutschen oder fünfhundert nach oben links mit ein bisschen mehr Sättigung, und das Ergebnis verblüfft mit Portraits und Panoramen, die aus einem Spiel im Spiel entstanden. In The Division jedoch spaziere ich nur. Kämpfe umgehe ich, Missionen verweigere ich, Töten entsage ich. Ich laufe nur. Gewahr wird mir die Ich-Werdung im Shooter-Genre und bezeuge klebend zwischen den Schultern meiner Spielfigur das einsame, lakonische Sein im mechanikleeren Raum. Die Welt und ich, ich und die Welt, pausbäckig rieselt der Schnee in New York auf die Leichensäcke.
Das Winter-Setting von The Division an Weihnachten verzaubert selbst ein Massengrab. Licht und Schatten streicheln Leid und Elend, während ich mit meiner Maschinenpistole schweige. Der Umriss eines Hundes bellt im Schneesturm, die Scheinwerfer des Autos wühlen sich durch die Nebelwand und zeichnen die Konturen einer Begegnung nach, die zwei Fremde in der Sekunde zeigt, in der nur ein Gefühl die eisigen Bedingungen mit plötzlicher Wärme füllt: Hoffnung.
Zwei Straßen weiter hängen die Leichen von den Ampeln und rahmen eine Stadt in Wunder, die unter ihren schlaffen Leibern das Spielprinzip Lügen strafen. Nicht alles endet in Tod und Erfahrungspunkten, in Effekten und Musik, die sich der Konventionen willen um Lautstärke prügeln. The Division hat die vielleicht schönste Spielwelt im Shooter-Genre. There, i said it. Aber was weiß ich schon über Liebe?
Zumindest viel über toxische Liebe. Ziel und Prinzip des Spiels ist nicht das Ignorieren aller Mechaniken. Sicher lädt eine Open World genau dazu ein, zu den süßen Unverfrorenheiten im Umgang mit sogenannten Games as a Service, doch Budget und Marketing feiern alles andere, die Nichtigkeiten in hundertfacher Wiederholung, also das Töten, das ständig gleiche, über dutzende Stunden nicht einmal variierte Töten von Pixeln, die eine Geschichte erzählen, so egal wie das 321. Wort der Bibel, mit einem Ernst jedoch, der eben jener Bibel gleichkommen will.
Mit The Division begann Ubisoft die Umstellung auf eine Sorte von Spielen, die geschaffen sind für Menschen, die für nichts und wieder nichts denken, fühlen, hoffen wollen, sondern schlicht eines: Nichtstun im Gewand von Pixeln.
Nichts ist durchdacht, Abwechslung sucht man vergebens. The Division ist kein gutes Spiel. Aber es ist ein Erlebnis. Wenn man es denn will und sich dazu entscheidet, nichts zu entscheiden, außer zu laufen mit der Wumme im Anschlag, aber nie mehr, nur das Laufen, Gehen, Stampfen unter der Straßenlampe, keuchend siecht ein Zivilist zu Boden, im blutroten Mond glänzt der Straßenbeton den Weltuntergang fort, nur im Hausflur im zu oft kopierten Haus tunkt das Licht die Treppe nach unten in ein Tor ins sanftere Sein. Fotos entstehen, entzerrt aus Screenshots mit einer braunhaarigen Frau in Rollkragenpullover in der Bildmitte. Eindrücke des Zerfalls, inmitten des spielbedingten Erfolgs.
Wie ironisch, dass der Zerfall zugleich nicht nur für ein Unternehmen, sondern gleich ein ganzes Genre gilt, das viele Millionen US-Dollar dafür aufbringt, eine beispiellose Fülle an Details und Geheimnissen und Zufällen in Mechaniken zu verstecken, die noch mehr Millionen US-Dollar einbringen sollen und die wahren Herrlichkeiten mit dem Mantel des Schweigens verdecken, gewebt aus erkalteten Patronenhülsen.
Wie schade, dass The Division The Division ist. Mit seiner Spielwelt hätte es, nun – die Welt der Spiele verändern können.
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