Ich saß in einem Glaskasten und kritzelte Waffen in der Größe einer Schildkröte. Bucklige, rohrige, picklige Waffen, sie waren vor allem eckig, weil ich nicht gut zeichnen kann und der Glaskasten, in dem ich saß, den Blick auf mich frei machte für die Jungs, die mich später verprügeln werden. Ich malte die Waffen nicht für Phantasien, aber doch schon ein bisschen für Phantasien, nur ohne Gewalt, ich schwöre. Schwingende Schwerter in der Hirnleere, die auch sonst vorherrscht in den Köpfen von, hm, sagen wir von den Köpfen der Prügelnden.
Meine Axt mit der Schneide eines Computeranmachknopfes, zumindest nach Sichtung der Zeichnung, oder eher: „Zeichnung“, diese Axt also nenne ich Kai, und Kai, die Axt, ist genau so sehr „Axt“ wie Kai, der Prügelnde, „Mensch“ ist. Menschen prügeln nicht, er aber prügelte, also ist er kein Mensch, sondern eine Drecksau. Kai, die Axt, zerbröselt am Zigarettenautomaten, zumindest in meiner Phantasie, ohne Gewalt versteht sich, die Axt bröselt einfach so, weil Kai, die Axt, den Zigarettenautomaten nicht kapiert, weil eine Axt namens Kai nun wirklich nicht viel mehr kann als sein, einfach zu sein, mehr nicht, überhaupt niemals mehr als das, und eigentlich schreibe ich gerade über Kai, den Prügelnden.
Eine Bücherei als Glaskasten, das war damals nun mal so, eine Bücherei in meiner Schule, Drecksschule mit Dreckssäuen, klar. Oder eher ein Gefängnis mit dem Komfort und Charme einer Brillenputztuchfabrik. Ich wollte ja nur lesen und nicht Kaviar schlemmen, und ich wollte mich verstecken vor den Prügelnden, Kai und Daniel und Arschloch und Lurch. Leider konnte ich nicht ändern, dass die Bücherei zu Dreivierteln aus Fenstern bestand, also eigentlich Glasfronten mit dem Durchblick eines Brillenputztuchfabrikleiters, und eine Seite der Bücherei lugte auch noch so derbe frech direkt ins Schulgebäude. Pappe wollte ich vorschlagen, also für die Fenster, dranpappen und gut is‘, aber nix wurde gut, es wurde immer schlimmer, schlimmer, schlimmer.
Von dem Vorschlag mit den Suchminen und auf Prügel reagierende Gewehre zur Verteidigung gegen prügelnde Ottos habe ich abgesehen. Hat bestimmt auch nicht jede Schulbehörde auf Lager.
Damals wie heute bleibt: Interesse, Neugier, Bock auf Wissen, um mich davon abzulenken, dass andere keine Lust auf Interesse, Neugier, Bock auf Wissen hatten. Jedes Buch über das Mittelalter, über Waffen im Mittelalter, über Häuser im Mittelalter, über Gesellschaftsformen im Mittelalter, über mittelalte Männer und Frauen im Mittelalter und der Frage danach, ob alle nur so mittel waren in dem was sie taten, war ein Geschenk für mich. Eine Abwechslung.
Deswegen spiele ich gerne das Strategiespiel Bad North. Das lehrt mich zwar nichts über sprunghafte Themenwechsel in Texten, aber ich steuere Wikinger, und die fand ich irgendwann auch toll, als ich nach drei Jahren Prügel und Lesen und Zeichnen jedes Mittelalter-Buch auswendig gelernt hatte.
Bad North ist einfach und schön. Fast so wie meine Phantasie, in der ich damals einfache und schöne Sachen gemacht habe, denn weinen und schreien und fürchten und hassen ist leider gar nicht einfach und schön.
Eine Insel, einige Wikinger, viele Feinde, das ist Bad North. In Wellen schwappen sie auf Wellen an die Ufer, und ich, Jannick, der Abwehrende, muss sie mit seinen Truppen vernichten. Klingt schlimmer als es ist, denn neben dem Blut, achgott, diesem vielen, vielen Blut niedlicht das Design direkt in mein Pazifistenherz. So süß ist das, weil meine Einheiten so tippeln wie ich auf einem Boden aus Legosteinen, an denen kleine Atombömbchen kleben.
Taktisch ist das auch, weil ich maximal vier Truppen auf einer Insel befehligen kann, da oben hin, da unten hin, bitte nicht stolpern, sonst ist vorbei. Zumal so eine Insel ja vier Seiten hat, das sind drei Seiten mehr als eine Seite, und dann belagern sie von allen Seiten, und ich gucke, gucke, gucke, weil jede verteidigte Seite eine gute Seite ist, populistisch oder dumm ausgedrückt: zwei mal „both sides“ hat eine Insel, doch irgendwann schippern mehr Feindboote heran als ich Wikinger habe. Aber das kenne ich bereits aus der Schule.
Ich war immer in Unterzahl. Belagert haben sie mich nicht, das ist ein zu großes Wort, schließlich wäre ich nach einer Belagerung vermutlich, naja: tot.
Damals wünschte ich mir das. Tot zu sein.
Sich Jahre lang fühlen, als ob mir jemand 24 Stunden am Tag in den Magen boxt, war die Folge einer Jugend, in der mir jemand Jahre lang vier Stunden am Tag tatsächlich in den Magen boxte.
Vor über 10 Jahren war meine Insel die Bücherei. Im Gegensatz zu den Szenarien in Bad North war es ein sicherer Ort, der einzige sichere Ort, den ich damals kannte, noch sicherer als mein Zuhause, weil in meinem Zuhause meine Eltern warteten, die Videospiele und laute Musik für meine allgemeine Unlust verantwortlich machten, und ich nie den Mut fand, zu beichten, zu schreien, zu wüten, dass es eben keine Unlust ist, schließlich wäre Unlust geil gewesen, weil Unlust immerhin noch „Lust“ im Wort hat im Gegensatz zu „Selbstmordgedanken“.
Meine Insel war die Bücherei, und die Bücherei war mein Leben. Dort war es still. Vielleicht stürmten die Prügelnden deswegen nicht herein, weil Ruhe kein Begriff ist für Menschen, die mit jedem Schlag, jedem Tritt, jeder Beleidigung die Stille eines Jungen mit Schluchzen ersetzten.
Bad North erinnert mich an diese Zeit. Das Ziel heißt Überleben, auf der kleinen Insel mit Hügelchen, Wasserfällchen, Pfützchen und Häuschen. Vielleicht ist das gar nicht ihr Zuhause, also das Zuhause der Krieger, vielleicht ist es eine Nachbarsinsel, aber sie kämpfen für diese Insel – für ihre gottverdammte Ruhe.
Und sie sollen kämpfen, mit Hauruck und Karacho ins Getümmel mit dem Lümmel! Hechtet ihnen entgegen, lanzt und speert sie, keilt sie ein, hüpft auf ihre Köpfe, knallt sie weg. Ich glaube an euch!
Ich glaube an sie, weil ich damals nicht mehr geglaubt habe, nicht mal mehr an jedes siebte Überraschungsei. Obwohl ich lange Zeit nur Waffen zeichnete, also eine durchaus ambivalente Faszination entwickelte, wollte ich nie zurückschlagen, auch in meiner Phantasie nicht, denn klar: Auch bei einem süßen Spiel wie Bad North bleibt am Ende nur das Blut, und auf Blut hab ich kein Bock.
Ich bin besser als das. Und ich war es damals schon. Erst Jahre später merkte ich, dass ich darauf stolz sein kann.
Was aus ihnen geworden ist, weiß ich nicht. Vielleicht sind sie reich, tot oder noch immer Idioten. Ein stabilerer Typ bin ich aber allemal. Schließlich habe ich ihr Leid, das sie zu verdrängen versuchten mit sinnloser Gewalt, am eigenen Leib erfahren – und nun bin ich hier und kann sagen: Fickt euch!
Ich habe euch überlebt. Und nun spiele ich Bad North. Was für ein Triumph!
Solltest du suizidale Gedanken haben oder unter Depressionen leiden, kannst du dir Hilfe holen. Kostenlose, anonyme Hilfe. Telefonisch unter 0800/1110111 oder 0800/1110222, per Mail oder Chat unter www.telefonseelsorge.de und in einigen Städten vor Ort kannst du mit versierten Seelsorger*innen und Berater*innen über Auswege sprechen.
5 Kommentare
Das sind dann immer die Momente, in denen ich mir wieder mehr Kommentarbeteiligung wünschen würde – wenn solch ein fantastischer, persönlicher und ergreifender Text eine Woche lang völlig unkommentiert hier stehen bleibt.
Zugegeben, der Leseeinstieg ist sperrig und man fragt sich erstmal, was der Autor uns sagen möchte, aber dranbleiben wird mit einer beklemmenden, mitfühlenden Ergriffenheit “belohnt”, die schon lange kein Text mir bei mir ausgelöst hat.
Danke Jannick!
Ich danke dir für dein Lob! Die Überwindung, diesen Artikel zu veröffentlichen, hat sich gelohnt.
Also bevor ich mich bewaffnet mit einem heißen Eisen und einem Fettnäpfchen in ein Minenfeld (aus atombebombten Legosteinen) stürze, schreibe ich lieber nichts. (Vor allem, weil vieles einfach falsch ausgelegt/verstanden werden kann und wird.)
Für solche Texte würde ich anfangen, uns zu lesen, wenn ich’s nicht eh schon würde. Jannick <3
Ein wenig verstörend ist der Text ja schon… man weiß zunächst nicht soll das jetzt eine art Test für das Spiel sein oder dient das Spiel hier eher der Seelentherapie des Autors. Und warum dann hier das Ganze…
Aber Respekt für den ehrlichen sehr persönlichen Text. Man kennt nun mehr über den persönlichen Hintergrund des Schreibers was sicher zum besseren Verständnis seiner Texte beiträgt. Viel Streit und Missverständnisse (nicht nur im Netz) ließen sich vermeiden würde man das Gegenüber nur besser kennen.