1994 definierten die Looking Glass Studios unter der Leitung von Warren Spector mit ihrem neuen Spiel mal eben ein ganzes Genre, das heute gemeinhin als „Immersive Sim“ bekannt ist. Wer Spiele wie Thief, Deus Ex, BioShock oder Prey (2017) mag, verdankt im Grunde all diese Titel System Shock.
Im Jahre 2072 sitzt ein Hacker auf einer riesigen Raumstation namens Citadel fest, die, nicht ganz ohne sein Dazutun, von einer durchgedrehten KI übernommen wurde. Da sich diese aber nicht mit der Station zufrieden gibt und plant, gleich die ganze Menschheit zu vernichten, muss der Spieler in der Haut jenes Hackers versuchen, SHODAN, die vielleicht ikonischste aller Videospiel-Antagonistinnen, aufzuhalten.
Die Mischung aus First-Person-Shooter, Rollenspiel und Adventure, die dem Spieler oft alternative Herangehensweisen zum Erreichen der Ziele bietet, war damals sensationell neu. Und so sensationell sperrig in seiner Bedienung, dass das Studio damals gerade mal so viele Exemplare absetzen konnte, um nicht sofort schließen zu müssen. Damit ist es einer dieser frühen Klassiker, die damals nur relativ wenige Leute wirklich gespielt haben. Der viel zugänglichere Nachfolger System Shock 2 erreichte 1999 ein deutlich größeres Publikum, aber um den soll es hier nicht gehen (naja, ein wenig doch, aber dazu später…).
Schon 2015 haben die Nightdive Studios mit der Arbeit an ihrem just veröffentlichten Remake begonnen und seit ich das erste Mal davon gehört habe, verfolgte ich mit Interesse dessen (nicht gerade unkomplizierte) Entwicklung. Ich habe System Shock damals als Student gespielt und es seither immer als „kantigen Meilenstein“ in Erinnerung behalten. Eigentlich sollte es jeder mal gespielt haben, aber vorbehaltlos empfehlen konnte man es leider nicht, weil es eben so unzugänglich war. Wenn also irgendein Titel in diesen Zeiten grassierender Videospiel-Remakeritis von einem guten Remake profitieren kann, dann System Shock!
Versteht mich nicht falsch, ich habe die diesjährigen Remakes von Resident Evil 4 und Dead Space sehr genossen. Beide haben neben der aktualisierten Grafik auch hier und da Details in Leveldesign, Mechanik und Steuerung zum Besseren verändert, ohne einem das Gefühl zu geben, großartig vom Original abgewichen zu sein. Remakes, die sich so spielen, wie man das Original in der verklärten Erinnerung hat. Super Dinger! Aber in beiden Fällen waren auch schon die Originale super Spiele, die man Leuten immer noch als „nachholwürdig und nachholbar“ empfehlen konnte. Nicht nur, aber auch, weil sie noch nicht so extrem alt waren. Zwischen RE4 und seinem Remake liegen 18 Jahre, bei DS sind es nur 15. Bei System Shock reden wir jedoch von 29 Jahren! Das ist in der Welt der Videospiele geradezu antik. Da kann man nicht einfach nur die Grafik mit einer aktuellen Engine aufhübschen. Und geht man zu sehr ans (spielerische) Eingemachte, dann hat das Ergebnis nur noch wenig bis gar nichts mehr mit der Vorlage gemein. Ein Dilemma…
…, welches die Nightdive Studios grandios gelöst haben, wie ich finde: Steuerung und Interface, der größte Pferdefuß des Originals, wurden komplett modernisiert und sollten heute niemanden mehr vor den Kopf stoßen. Inventar-Tetris ist zwar immer noch dabei, aber das dürfte keinen erfahrenen Rollenspieler schrecken. Es wurden viele Teil-Mechaniken, wie z.B. die Cyberspace-Ausflüge und Tür-Puzzle beim Hacken, stark überarbeitet. War der Cyberspace 1994 noch eine sehr verwirrende… ähm, „Sache“, so ist er im Remake eine gefällige 3D-Ballerei im Stile der Descent-Spiele geworden. Und mit den Recycling-Stationen, an denen man aus wertlosen Gegenständen Geld für Munition und Upgrades machen kann, mogeln Nightdive sogar eine Mechanik hinein, die es eigentlich erst im zweiten Teil gab. – Nicht das einzige Detail übrigens, das eigentlich aus System Shock 2 ist. So wie beispielsweise das SHODAN-Cover…
Das Storytelling und die Spielerführung wurden hingegen mehr oder weniger komplett übernommen, weil sie unverzichtbarer Teil der damaligen Erfahrung sind. Wer Audiologs, Wand-Graffitis und Emails als Teil der Narration heute nur noch lahm findet, vergisst dabei, dass alle Spiele der letzten 25 Jahre, die das schon ausgiebig durchgekaut haben, es genau hier geklaut haben. Die Entscheidung, auf das heute normale Pampern des Spielers auch im Remake zu verzichten, wird das Publikum vermutlich am meisten polarisieren. Es gibt keinen Questmarker auf der Map und auch kein Menü, das einem nochmal irgendwo explizit sagt, wo was als nächstes zu tun ist. Wer wissen will, wie es weitergeht, der muss halt schon genau aufpassen, was um einen herum passiert. Diese lange Leine für den Spieler beinhaltet auch intensive Exploration der riesigen Raumstation und viel Backtracking. Das dürften sehr viele jüngere (und faule) Spieler ziemlich ätzend finden. Aber es gehört halt einfach dazu, wenn man irgendwie verstehen will, warum das Original so einflussreich war und seine Spieler so sehr in seinen Bann geschlagen hat. Es war eben nicht nur die coole und wahnsinnig-böse KI SHODAN, die das Original so berühmt gemacht hat, sondern auch die clever angelegte Citadel-Station, welche man am Ende auch ohne ständiges Aufrufen der Karte zielsicher durchqueren konnte. Eben weil man sie im Zuge des Spiels ausgiebig erforschen musste. – Mein Tipp für die Faulen und Ungeduldigen: Sucht euch einfach einen guten Walkthrough im Netz, bei dem man die Abschnitte sehr kleinschrittig anwählen kann. So kann man Hänger-Frust kleinhalten, ohne sich gleich die ganze Spielerfahrung kaputt zu machen, nur weil man mal auf dem Schlauch steht. Das ist keine Schande, weil System Shock den Spieler in dieser Hinsicht wirklich fordert. Auch ich musste an drei, vier Stellen nachschauen, weil ich irgendwas übersehen oder überlesen hatte. Dass ich mich nach fast 30 Jahren nicht mehr daran erinnern konnte, was in welcher Reihenfolge zu tun ist, muss ich wohl nicht weiter ausführen…
Neben der Authentizität in Bezug auf die Reproduktion der Original-Spielerfahrung, finde ich auch sehr bemerkenswert, wie die Nightdive Studios das audio-visuelle Update angegangen sind. 29 Jahre! Das sind in Videospielgrafikjahren etwa 203. Vielleicht waren es auch Hundejahre. Aber ihr wisst schon was ich meine. Und damit unterscheidet sich das System Shock Remake auch so sehr von den eingangs erwähnten RE4– und DS-Kollegen. System Shock (2023) läuft tatsächlich in der Unreal Engine 4 und ist super schick. Dynamische Beleuchtung, Oberflächenspiegelungen, Nebel- und Partikeleffekte, alles vom feinsten. Und trotzdem sieht es genau so aus, wie ich das Original in Erinnerung hatte (abgesehen vom schrecklichen Interface, das sehr statisch war und eigentlich nur einen kleinen Teil des Bildschirms für die eigentliche 3D-Grafik nutzte). Der Wiedererkennungseffekt ist immens, obwohl objektiv Welten zwischen Original- und Remake-Grafik liegen. Das liegt zum einen an der weitgehenden Übernahme der Level-Architektur, aber auch an der Verwendung der grellen Farbpalette von damals, die gar nicht erst versucht, den Realismus heutiger 3D-Spiele einzufangen. Alles anders, viel hübscher – und trotzdem gefühlt genau wie das Original. Toller Job, Nightdive!
Das gleiche gilt auch für den Sound des Remakes: Die Musik, Soundeffekte, Audiologs, ja sogar SHODANs elektronisches „Max Headroom-Gestottere“, alles wurde komplett neu aufgenommen. Und trotzdem passt alles und fühlt sich total authentisch an.
Ihr merkt es, ich bin wirklich begeistert. Aber ich bin auch ein alter Sack, der das Original damals geliebt hat. Dieser Drahtseilakt, alles zu erneuern, ohne gefühlt (!) großartig viel zu verändern, trifft bei mir genau ins Schwarze. Ich weiß aber auch ganz genau, dass viele Leute das System Shock Remake gar nicht so leicht lieb haben werden. Primär, weil sie es gewohnt sind, vom Spiel an die Hand genommen zu werden. – „Komm mal mit. Wir ballern da jetzt ein paar Cyborgs weg und dann zeige ich dir ganz genau, in welcher Schublade die Key-Card für das Labor liegt.“ – System Shock verlangt nach heutigen Standards wirklich viel vom Spieler. Viel Aufmerksamkeit, viel Nachdenken, viel Erkunden. Aber wenigstens ist es darüber hinaus nicht besonders schwer, zumal man alles Mögliche zu Beginn individuell einstellen kann (Rätsel, Kämpfe, etc.). Darum hier mein Appell an die Jungen, Verwöhnten und Ungeduldigen: Schaut euch dieses Hammer-Remake eines der einflussreichsten Kult-Spiele der frühen 90er trotzdem an! Wenn es nicht anders geht, mit einem guten, spoilerfreien Game-Guide. Das ist in diesem speziellen Fall wirklich ok. Nur dosiert die Spickerei gut, sonst kommt ihr nie dahinter, warum wir alten Leute das Spiel damals so super fanden.
2 Kommentare
Ich bin mir jetzt unsicher: Seit Jahren (damals bei GOG erschienen) liegt der zweite Teil mit den behutsamen Verbesserungen (Widescreen und was weiß ich noch) ungespielt hier rum. Den ersten Teil habe ich aus den hier genannten Gründen eher ignoriert. Was ist denn jetzt der (gefühlt) sinnvollste Weg, die Spiele zu erfahren?
Nun, ich würde definitiv mit diesem Remake von SS1 anfangen. Wie gut die aktuelle (aufgehübschte) Version von SS2 ist, kann ich nicht sagen, aber das nächste Projekt der Nightdive Studios ist wohl eine “richtige” Enhanced Version von System Shock 2, auf die ich mich jetzt erst recht freue.