Elfneunundneunzig zahle ich monatlich, um in WoW zu leveln, zu questen, zu raiden und all die Inhalte zu sehen, die Blizzard in dieses Spiel gepackt hat. 11 Euro und 99 Cent im Monat. Und vorhin stand ich eine Stunde lang im Brachland und habe Deviatfische geangelt, weil ich unbedingt “Pikantes Deviat Supreme” kochen wollte.
Tastendruck zum Angelauswerfen. Mauszeiger auf Schwimmer. Warten. Rechte Maustaste drücken. Tastendruck zum Angelauswerfen. Lather, rinse, repeat. Eine Stunde lang. Mir ist nicht langweilig geworden. Im Hintergrund lief, nein, nicht der Fernseher, sondern “Tangram” von Tangerine Dream. Ganz entspannt. Fischen. Für 11,99 € im Monat. Virtuell. Nicht mal in echt draussen am Fluss. Nein. Am Rechner.
Nächste Woche werde ich wohl in die große weite Welt der Jagd-Simulationen a la Deer Hunter einsteigen. Dann stehen noch der Landwirtschafts-Simulator 2009 und diverse Busfahr-Simulationen auf dem Programm. So gegen Herbst werde ich jeden Widerstand gegen Micropayment aufgegeben haben und ein glücklicher Konsument von Pferderüstungen und überteuertem Mini-DLC sein.
Ade, Senior Gamer! Es war schön mit Dir, solange es dauerte. Senior Gamer ist tot. Es lebe Senior Casual Gamer! Gut, vielleicht übertreibe ich ein wenig und mache hier grundlos Panik. Noch ist ja nichts Schlimmes passiert. Es ist ja nur ein Spiel. Rede ich mir zumindest ein … :)
Aber es war tatsächlich herrlich entspannend. Sich nicht um Mobs kümmern, nicht um ausgefeilte Angriffskombinationen und Aggro-Vermeidung oder -generierung. Nicht den Blick auf Buffs und Auren zu haben, nicht ständig das maximal Mögliche aus Items und Fähigkeiten zu holen. Kein Leistungsdruck. Einfach nur eine Stunde lang im Brachland in der Oase zu sitzen und zu angeln. Und wenn ich schon 11,99 € im Monat für die Möglichkeit bezahle, mich 24/7 in WoW einzuloggen, dann wäre es doch dumm, wenn ich solche trägen Spielphasen mit Minesweeper oder Bejeweled verbringen würde. Oder nicht?
Zudem, wer sagt denn, dass Gameplay immer nur aus hektischem Rumgehoppele bestehen muss? Wo steht geschrieben, dass Gameplay nur dann gut ist, wenn es fordernd und herausfordernd ist, Schweißperlen auf die Stirn des Spielers zaubert und ihn nach einer Stunde vollkommen verkrampft und mit zitternden Fingern zum Isotonik-Drink greifen lässt? Warum muss Zeitvertreib immer nur aus Stress bestehen? Woher kommt die unterschwellige Ablehnung, die vor allem wir “Power Gamer” all denjenigen gegenüber zeigen, denen es Freude bereitet, stundenlang akribisch Kartenmaterial und Handbücher zu studieren, damit der Flug von München/Riehm bis nach Hamburg in Echtzeit so realistisch (und so langweilig) wie nur möglich gerät? Warum belächeln wir Leute, denen als Spiel das Standard-Solitär von Windows vollkommen genügt und die schon bei Pac-Man überfordert wären? Wie kommen wir dazu, Gameplay in “ernsthaftes Spielen” und “Casual Gaming” nicht nur zu unterscheiden, sondern auch gleich zu werten? Warum muss alles in den üblichen Schwanzvergleichen ausarten, wo der Gewinner alles bekommt und die Loser sich heulend im Staub ihrer Niederlage wälzen?
Und warum bekomme ich ein klein wenig ein schlechtes Gewissen, weil ich eine Stunde lang nicht dem üblichen Quest- und Raiddrang nachgegeben habe, weil ich eine Stunde lang keine XP gewonnen habe und nicht irgendwelchen Rare Items und Materials zur Set-Vervollständigung nachgejagt bin? Ich will dieses Fischgericht ja nicht einmal verkaufen. Ich bekomme auch keinerlei Vorteile durch Einnahme dieses Gerichtes. Ich erhöhe damit mittlerweile auch keine “Skillz” mehr. Warum mache ich das dann?
Weil ich es so wollte und weil es entspannend war, den Nachtvögeln zu lauschen, die ringsum ihrem Treiben nachgingen. So ruhig.
Nein, ich gehe jetzt nicht hin und fordere Gamedesigner weltweit auf, mehr Ruhezonen und ChillOut-Bereiche in ihre Spiele einzubauen. Die Spiele sind schon so gut oder schlecht, wie sie eben sind und sein sollen. Ich fordere überhaupt nichts. Ich nöle nicht einmal oder grummle griesgrämig vor mich hin. Ich stehe nur eine Stunde lang im Brachland, angle, entspanne mich und möchte ob dieses Umstandes kein schlechtes Gewissen haben, weil ich ja “nicht richtig” spiele, sondern nur faul in der Gegend herumlungere.
Andererseits … ich könnte ja auch auf die 11,99 € pfeifen und mich eine Stunde lang debil in den Hof setzen, die Sonne genießen, beim Nachbarn ne Tüte schnorren oder im Park die Enten füttern. Ihr wisst schon, so in Echt und so. Draussen. Aber dann würde ich mich auch nicht “Senior Gamer” nennen.
Abgesehen davon, zuviel Sonne ist eh schädlich … *brutzel, blasenwerf, krebsauslös*
9 Kommentare
Vielleicht bin ich ja die Ausnahme, aber ich verstehe “Casual” nicht generell als Abwertung. Als Kategoriesierung habe ich es im Kopf, ja, aber “Casual” bedeutet nicht per se “schlecht” oder “ohne Substanz”. Ich finde eine Menge Casual-Games sogar ganz klasse!
Ich auch nicht. Eigentlich … :)
Nein, es geht mir hier mehr um den Leistungsdruck, den ich mir bei manchen Spielen selber mache. Bei MMOs habe ich immer das Gefühl, ich müsse das Maximum an Spiel-Action aus der Zeit herausholen, für die ich zahle. Weil einfach nur rumstehen, irgendein nutzloses Gag-Item erangeln oder in Orgrimmar chattend vor der Bank herumlungern … dafür muss ich nicht 12 Euro im Monat zahlen. So zumindest der kleine Mann im Ohr, der mir hier ein schlechtes Gewissen einreden will.
Ich verstehe Causal auch nicht negativ aber mir ist der Begriff Causal viel zu schwammig. Viele “Core”-Spiele sind alles andere als Hardcore mittlerweile und total rund geschliffen. Halo, Oblivion und co sind wesendlich simpler geworden im Vergleich zu ihren Vorgängern. Oblivion hat nicht mehr die Komplexität die ein Ultima 7 hatte genauso wie ein Halo mit der Komplexität von Spielen wie das Leveldesigns und Interaktion eines Duke Nukem 3d nicht mithalten kann.
Das mit dem “schlechten Gewissen” kann ich sehr gut nachvollziehen-hab ähnliche “Gefühle” sogar schon wenn ich bei GTA4 just for fun mal ne stunde rumfahre ohne irgendeine Mission zu erledigen, bei Saints Row2 zwei Stunden im Charakter Editor rumfummele oder bei Burnout Paradise stundenlang rumfahre nur um eine bescheuerte Werbetafel zu finden um nur mal einige Beispiele zu nennen. Ständig ertappe ich mich dann dabei diese Art des spielens auf ihren “Mehrwert” abzuklopfen: Bringt mir das Achievements? Verbessert es meine Skillz? Steige ich dadurch im online-ranking einige Plätze auf? etc.etc.
Wieso sollte man ein schlechtes Gewissen haben? Immerhin wird man unterhalten und vertreibt sich seine Zeit.
Sonst müsste man ja auch beim Fernsehen oder Kino immer ein schlechtes Gewissen haben ;).
History repeating (siehe letzter Absatz):
[url]http://www.polyneux.de/archiv/78-lost-in-space.html[/url]
Witzig. :D
OK, ich bin kein WOW-Spieler, aber das Angeln klang jetzt nicht viel langweiliger als der Rest den man in diesem “Verkaufsschlager” so machen kann.
Aber ich kann das schon verstehen: Rumhocken in Viva Pinata, Fahnensammeln in AC oder stundenlang rumgurken beim Herrn Hawk scheint auch wenig sinnvoll, macht aber trotzdem oft einfach Spaß.
@sp3/seniorgamer: wir hatten damals bei star wars galaxies noch dazu ein paar dosen bier dabei – quasi rollenspiel in reinkultur =)
zumal kann ich dich beruhigen: deine stunde angeln hat dich ca. 1,7 cent gekostet – das sollte einem sein spass doch schon wert sein oder?