Nach fast 70 Stunden Spielzeit steht sie da, und sie steht mit der brutalsten Eleganz, die überhaupt möglich ist. Seit Anbeginn der Reihe pinseln die Protagonisten ihren Penis durch die brunftigste Charakterauswahl; meist gab es nie eine, weil es fast nur Männer zu spielen gab, bärtige Hüllen für eine weithin bartölige Geschichte. Ausnahmen wie Evie in Syndicate waren erfreulich, aber eben eine Ausnahme.
Das “ey” in “Odyssey” verrät es: nun ist alles besser. Neben dem üblichen, namenlosen Schniedel, dessen tatsächlicher Name eine noch geringere Relevanz besitzt als sein generisches Aussehen, kann ich nun auch Kassandra wählen. Nie zuvor hat eine “Neuerung” die schon immer müde Reihe aufgewertet; von Xena bis Wonder Woman, von Freude über Diversität zu riesengroßer Freude über Diversität, es ist ein Träumchen mit Schäumchen, mindestens 20 ironiefreie Prozent mehr in der Spielspaßwertung. Denn tatsächlich ändern sich Atmosphäre, Stil und Geschichte gravierend, wenn nicht schon wieder ein Kerl die Welt rettet oder – wie hier – griechischen Ziegen ins Arschloch greift.
Wie Ubisoft unlängst bekannt gab, hat sich die Mehrheit der Spieler jedoch nicht für Kassandra entschieden. Das überraschte die Entwicklerinnen und Entwickler. Und das heißt in der optimierten Entwicklung von Spielen vermutlich: Es wird im nächsten Teil wieder nur pimmeln.
Immerhin hat Assassin’s Creed: Odyssey einen Fotomodus. So sieht alles gleich viel schöner aus.
Wenn das nicht sexy ist, kann auch ein Einhorn im Himmelreich nichts mehr ausrichten. Farben, so satt wie der Zahnstocher nach den Weihnachtsfeiertagen. An jeder Ecke ein neues “Oh!”, ein lautes “Ah!” und ein geiles “Wow!”. Das bleibt zunächst so.
Und dann verschwindet es. Übrig bleibt ein Fragezeichen. Dutzende Fragezeichen. Wenn ich mich der Reiselust hingeben und genommen, vernascht, gestreichelt werden will, kommt es zur Überforderung. Überall Quests. So viele Quests! Nebenquests, die den Namen zu wörtlich nehmen und schlicht nebensächlich, also: langweilig sind, und die Hauptaufgaben wissen auch nicht, wohin die Reise geht, weil die Welt von Assassins Creed: Odyssey es dem überfüllten Frachter gleichtut: Sie ist, tschuldigung: überfrachtet.
Nach circa 35 Stunden folgte eine Hauptquest, für die meine Charakterstufe nicht hoch genug war. Obwohl ich mich mit Schwung und Schwert durch eine Massenschlacht nach der nächsten katzbalgte, soll ich die oftmals faden Nebenbeschäftigung aufnehmen – oder will mich Odyssey dazu bringen, im spieleigenen Store für lecker Geld ein paar Booster für Erfahrungspunkte zu kaufen? Es war schön, dachte ich. Bis hierhin und nicht weiter.
Immerhin hat Assassin’s Creed: Odyssey einen Fotomodus. So sieht alles gleich viel schöner aus.
Lag es an Kassandra? Es lag an Kassandra. Noch immer dominieren Männer und damit einhergehende Stereotypen die Hauptcharaktere der Spielebranche, und deswegen kann ich ein eigentlich okayes, dusselig gestaltetes Spiel wie Odyssey nicht ignorieren – also kehre ich nach einigen Monaten zurück, ohne Eifer zwar, dafür mit dem Drang, das Versteckte zu finden in einem derart monströsen Spiel.
Ich fand, wonach ich nicht suchte: ein tolles, hm, bisschen tiefer: ein nettes Spiel. Eckig und kantig wie Lego-Sets von Minecraft, aber charmant. Odyssey huckepackt das Inhaltsverzeichnis von “Spielentwicklung für Dummies” und veredelt es mit einem Multimillionen-Dollar-Budget – und plötzlich, inmitten der kalkulierten Erkundung, finde ich kleine Figürchen in einer Stadt, sie stehen da so herum, niemand macht darauf aufmerksam, es zeigt kein Pfeil drauf.
Viel weiß ich darüber also nicht, was ein Segen ist in einem Spiel, in dem man am besten über alles Bescheid wissen soll, zum Beispiel wie das Dorf heißt oder der Philosoph oder wie die Gepflogenheiten meiner Schiffsmänner- und -frauen aussehen, weil es natürlich noch ein Schiff gibt, das ich mit Männern oder Frauen füllen kann, damit sie kämpfen und segeln für Quests, die mir die Zerstörung mehrerer Boote befehlen, und dann mache ich das und scheitere, weil statt ein, nun drei Boote ankommen und ja, da habe ich dann erneut eine Woche Pause gemacht.
Was ich bis dahin noch über die kleinen Figuren wusste, habe ich vergessen. Das mag symptomatisch sein für ein Open-World-Spiel, das Vergessen von Kleinigkeiten im Angesicht großer, größerer, odysseyrigster Abenteuer. Das neue Assassin‘s Creed ist jedoch ein besonderer Fall: Nicht nur, dass Ubisoft-Spiele im generellen Design teilweise aus Versatzstücken bestehen, sie fügen einem ohnehin schon komplexen Spiel weitere umfassende Features hinzu. Ein Mensch-Rollenspiel wird zum Schiffs-Rollenspiel wird zum Massenschlacht-Simulator. Sogar mit einem selbstauferlegten Sinn für das Kleine im Großen ist es schwer, sich zu konzentrieren.
Immerhin hat Assassin’s Creed: Odyssey einen Fotomodus. So sieht alles gleich viel schöner aus.
Ein seichtes Spiel wie Odyssey ist arm an magischen Momenten abseits optischer Steilheit. Auf ein „uh!“ folgt umgehend ein schnorchelndes Bewusstmachen des kommenden Einerleis. Die Atlantis-Questreihe etwa, die Insel mit den Rebellen namens Hierdingsda, die sind schon in Ordnung, nicht übel. Weit entfernt von einem Gefühl, das bereits im Moment des Erlebens auf “unvergessen” umschaltet, sind allerdings auch die wirklich guten Momente.
Das gilt zumindest für einen Moment in Odyssey dann doch nicht: Als ich eine Statue von Poseidon entdeckte, von der ich nichts wusste. Es führte keine Quest dorthin, kein penetrantes Aufmerksammachen auf die heftigsten Schaubilder, ich schipperte einfach, dummdidummte vor mich hin, wich allen gegnerischen Booten aus, weil sie ab einem gewissen Punkt nur noch zu dritt sind, und wir alle wissen, dass das in Tränen endet, und plötzlich lande ich im horrorigsten Nebel bei dieser Insel mitsamt jener Statue, bei der ich in dieser von Göttern und Kulten unendlich reichen Welt am ehesten das Wort “gottgleich” zücken möchte. Eine Stunde verging, doch ich staunte nur. Kein Spielfortschritt, kein Questgeber, kein Fragezeichen.
Bis wieder das Konzept Videospiel ruft: Haupt- und Nebenaufgaben, eine bislang nicht erzählte Geschichte, ich muss vorankommen, damit ich die Welt bis zum Ende verstehen kann. Und so reiht sich die Poseidon-Insel ein, und sie sinkt alsbald tief in die Erinnerungen, die über Fragezeichen im alten Griechenland maulen.
Immerhin hat Assassin’s Creed: Odyssey einen Fotomodus. So sieht alles gleich viel schöner aus.
Tinder, Baby. Von dort kommt er, und jetzt will er woanders kommen. Er ist ein Söldner, ein Tunichtgut aus einem Odyssey-Bildschirm, in dem Männer und Frauen nebeneinander stehen und darauf warten, dass ich sie nach rechts wische, damit wir in der Arena der Liebe miteinander ringen.
Eigentlich rede ich von dem Söldner-Feature, ein Spielelement jener Sorte, von der Analysten glaubten, sie glaubten das Richtige, weil andere Spiele das auch glaubten und tatsächlich Recht behielten (Shadow of Mordor), und nun hocke ich im Gras, während drei Söldner mich suchen und ich nicht weiß, wie der und der andere und die eine da heißen, obwohl es ja genau darum gehen sollte: das Kennen meiner Feinde, samt Name, Biographie, Stärken und Schwächen, bald aber, ab einem bestimmten Kopfgeld, kommen immer mehr Kriegerinnen und Krieger dazu, und ich spiele dann schon Need for Speed.
Immerhin hat Assassin‘s Creed: Odyssey einen Fotomodus. So sieht alles gleich viel schöner aus.
Und nun merke ich, wie ich von meinem einstigen Plan abwich: Ursprünglich wollte ich über die fehlende Zärtlichkeit schreiben, die in einem derart fickerigen Spiel wie Odyssey durchaus verwundert. Nur: Viel zu hochgestochen für so eine kalkulatorische Pixelansammlung.
Assassin‘s Creed: Odyssey hat einen Fotomodus, und eigentlich, ja, ist damit alles gesagt.
4 Kommentare
Ach, Odyssey dümpelt nun auch schon ne ganze Weile in meiner Steam-Bibliothek rum… nach dem Gamescom-Congress (es hieß, es sei wie eine griechische Sage – jungianisch arbeitende Psychos freuen sich an griechischen Sagen…) hatte ich Lust auf das Game bekommen, jetzt habe ich eher Lust auf den Fotomodus… *seufz* Na, mal sehen, was das wird…
Wunderschöner Artikel. :)
@ Sebastian: Danke. :)
@ Jessica: Odyssey ist ja eigentlich kein schlechtes Spiel, und ich hatte viel Spaß damit, aber man merkt eben so ein bisschen, wie kalkuliert und überladen es zuweilen ist. Für den Fotomodus lohnt es sich ohnehin auch mal nur reinzuschnuppern. Bereits in den ersten Stunden findet man wunderschöne Motive.